Die Praxis Sozialer Arbeit wirksam zu gestalten ist anspruchsvoll. Im Trendmonitor von Zürich Sozial werden in diesem Zusammenhang die fortschreitende Digitalisierung und Bürokratisierung oder ein zunehmender Fachkräftemangel genannt. Wo haben soziale Organisationen Handlungsspielräume, um sich möglichst wirkungsvoll zu organisieren? Dieser Frage widmen wir uns im zweiten Teil unserer Beitragsserie.
Dreiteilige Serie zu Handlungsspielräumen der Sozialen Arbeit
In zweiten Teil unserer Serie zum Thema Handlungsspielräume der Sozialen Arbeit widmen wir uns der «Arbeit am System». Konkret interessiert uns, was soziale Organisationen tun können, um die organisationalen Rahmenbedingungen zu verbessern, unter denen sie ihre tägliche Arbeit ausüben.
Der erste Teil «Handlungsspielräume der Sozialen Arbeit ausloten» widmete sich der Frage nach Handlungsmöglichkeiten bei der «Arbeit im System».
Soziale Arbeit hat den Bedürfnissen ihrer Klient*innen, den Ansprüchen der Auftraggebenden sowie den Anforderungen ihrer Profession zu genügen. Darin besteht ihr «Tripelmandat». Gleichzeitig ist sie mit sozialen, politischen und technischen Entwicklungen konfrontiert, die die Bedingungen mitprägen, unter denen sie ihre Arbeit leistet. Auf diese oft spannungsreiche Gemengelage muss sich jede soziale Organisation bestmöglich ausrichten.
Die Trendthemen aus dem aktuellen Trendmonitor von Zürich Sozial - fortschreitende Digitalisierung und Bürokratisierung oder ein zunehmender Fachkräftemangel - finden sich in Bezug auf die Bewertung im Mittelfeld.
Trends in der Sozialen Arbeit
Mit «Zürich Sozial» hat das Departement Soziale Arbeit der ZHAW eine Plattform entwickelt, die dem Sozialwesen des Kantons Zürich wichtige, konkrete Impulse liefern soll.
Das Projekt in Kooperation mit dem Kantonalen Sozialamt Zürich (KSA) macht Trends im Sozialbereich sichtbar und zeigt auf, wo Handlungs- und Entwicklungsbedarf besteht.
Der Trendmonitor wurde 2025 zum zweiten Mal durchgeführt.
Bei diesen Themen geht es einerseits um Fragen der Effizienz und Effektivität bei der Erfüllung des Auftrags. Gerade bei Projekten der digitalen Transformation ist Effizienzsteigerung allerdings ein Ziel, dem diverse Hürden im Weg stehen. Zudem hat der Fachkräftemangel zu einer Verschiebung der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt geführt. Die benötigten Fachkräfte sind daher eine weitere Anspruchsgruppe, die soziale Organisationen bei der Ausgestaltung ihrer Arbeit im Blick haben müssen.
Organisationen als Koproduktion aller Beteiligter
Fiona Gisler, eine der Projektverantwortlichen des Trendmonitors, nimmt dazu Stellung, was es für eine wirkungsvolle Organisation braucht und wo es Hindernisse gibt.

Fiona Gisler
Co-Projektleiterin «Zürich Sozial»
ZHAW Soziale Arbeit, Institut für Sozialmanagement
Fiona, der Trendmonitor thematisiert auf Ebene der Organisation Probleme wie Fachkräftemangel, Bürokratisierung oder Digitalisierung. Wie gross sind die Handlungsspielräume in diesen Bereichen?
Fiona: In diesen Bereichen haben soziale Organisationen einen grösseren Gestaltungsspielraum. Natürlich gibt es auch hier Abhängigkeiten, aber die Verantwortung und «Gestaltungshoheit» liegt grundsätzlich bei ihnen. Hier ist die Vernetzungsarbeit besonders wichtig. Beim Fachkräftemangel hiesse das etwa, übergeordneten Hierarchiestufen, Geldgebenden oder Politiker*innen immer wieder klarzumachen, weshalb und wofür genügend - und die passenden - Fachkräfte notwendig sind. Ausserdem sind gute Rahmenbedingungen für die Fachkräfte zu schaffen und die Nachwuchsförderung zu unterstützen. Bei Themen wie Bürokratisierung oder Digitalisierung gibt es leider gerade auch in sozialen Organisationen oft Projekte, in welchen zu wenig Vernetzung mit den Endnutzenden stattfindet, um sicherzustellen, dass es schliesslich in der gewünschten Form wirklich funktionieren kann und was dabei logischerweise auf der Strecke bleiben wird.
Kannst du das näher ausführen?
Fiona: In behördlichen Digitalisierungsprojekten gibt es oft grosse Umlagerungsprozesse in ein neues System. Viele solcher digitalen Transformationsprojekte erschweren die Bearbeitung von Einzelfällen, welche nicht standardisierten Abläufen folgen. Die Digitalisierung entscheidet dann, was formal überhaupt erfasst werden kann und in welcher Form es in der organisationalen Realität sicht- und bearbeitbar sein wird. Ich beziehe mich hier auf das «Whitepaper Digitale Transformation» von Metaplan. Typischerweise ist etwa die Wahl dieses «digitalisierten Ausschnitts» zu kurz oder zu eng gefasst, um komplexere Sachverhalte abzubilden. In solchen Fällen braucht es regelmässige, aufwändige «Workarounds» der Mitarbeitenden, damit die Arbeit quasi trotz des digitalisierten Systems sinnvoll geleistet werden kann.
Wo steht der Sozialbereich in deiner Wahrnehmung bei Themen wie Gestaltung nachhaltiger Arbeitsverhältnisse?
Fiona: Der Klassiker ist, dass höhere Hierarchiestufen oft nicht aus unserer Profession rekrutiert werden. Zudem stehen diese funktionsgemäss auch der sogenannten «Schauseite» der Organisation gegenüber in der Pflicht. Für den Schutz und das Überleben einer Organisation ist es unter anderem ihre Aufgabe, die Organisation nach aussen zu vertreten und für ein gutes Image zu sorgen. Auch im Sozial- und Gesundheitsbereich gibt es Beispiele, bei welchen heutzutage Investitionen verstärkt in die Aussendarstellung der Organisation fliessen. Damit kommen diese Ressourcen weniger der Facharbeit zugute; gerade auch, wenn die soziale Facharbeit nach aussen kaum sichtbar sein kann.
Welche Rolle spielt eine Organisationskultur, die ihre Mitarbeitenden motivieren und ihnen Wertschätzung vermitteln kann?
Fiona: Das Wirken einer Organisation ist immer eine Koproduktion aller Beteiligter - analog wie in der Klient*innenarbeit auch. Wenn nicht alle ihre Funktionen erfüllen, kann eine Organisation ihr Potenzial nicht ausschöpfen. Sie muss in ihrer Umwelt ihren Platz finden und sich langfristig behaupten, um als Organisation überleben zu können. Ich glaube, dabei wird massiv unterschätzt, wie wichtig es ist, gute, langjährige Mitarbeitende zu halten. Organisationen, die in Kauf nehmen, dass versierte Mitarbeitende mit einer zuverlässigen Leistung und enormem Organisationswissen gehen, verlieren viel wertvolles Know-how und Weiterentwicklungschancen. In engagierte Mitarbeitende zu investieren, die kritisch mitreden und zweckmässig mitgestalten wollen – gemäss «Okay-Dreieck» in den Rollen als Befähiger*innen und konstruktive Kritiker*innen zur Stärkung der Organisation - lohnt sich. Hinzu kommt, dass die jüngeren Generationen bekanntlich teilweise andere Ansprüche mitbringen.
Braucht es New Work-Modelle, also flache Hierarchien, mehr Mitsprache etc., um attraktiv zu bleiben?
Fiona: New Work Modelle bieten sicher spannende Ansätze für soziale Organisationen, aber auch Hierarchien haben ihre Vorteile; zumindest sofern die Modelle funktional gelebt werden. Eine gute Führungskraft, die hinschaut, den Überblick behält und Verantwortung im Sinne der Organisation übernimmt, kann einen riesigen Unterschied machen.
Organisationsform auf die Bedürfnisse der Klient*innen ausrichten
Über den Stellenwert moderner Zusammenarbeitsformen für eine wirkungsvolle Soziale Arbeit haben wir auch mit Urs Kaegi gesprochen. Er ist Experte für Organisationsentwicklung und ehemaliger FHNW-Dozent.

Urs Kaegi
Fachmann für Organisationsentwicklungsberatung, Systemische Personal- und Organisationsentwicklung
ehem. Dozent an der FHNW
Urs, kommen soziale Organisationen heutzutage noch um Selbstorganisation und New Work-Modelle herum?
Urs Kaegi: Ich glaube, man kommt nicht darum, sich als Organisation diese Frage zu stellen, aber natürlich kann man auch ohne Selbstorganisation gut funktionieren. Ich bin halt einfach ein Fan davon, weil ich glaube, dass es viele Vorteile hat. Zudem sind Irritationen in einem System immer etwas Gutes, weil sie Bewegung erzeugen, und Selbstorganisation einzuführen ist eine massive Systemirritation. Dabei ist wichtig zu betonen: Es gibt ja nicht nur «selbstorganisiert» und «nicht-selbstorganisiert», sondern man kann aus einem riesigen Paket einzelne Elemente rausnehmen und schauen, was in der betreffenden Organisation passt, und es auch wieder über den Haufen werfen.
Welche konkreten zusätzlichen oder erweiterten Handlungsspielräume gibt es mit Selbstorganisation für Organisationen?
Urs: Selbstorganisation ist ein Oberbegriff für Strukturen, in denen statt nach Funktionen nach Rollen mit bestimmten Zuständigkeiten gearbeitet wird. Ein wichtiger Aspekt davon sind andere Entscheidungsstrukturen. Da gibt es eine Vielfalt von Formen, etwa den Entscheid nach Konsent oder die Widerstandabfrage. Solche Formen erleichtern die Arbeit und führen zu schnelleren und innovativeren Entscheidungen. Während man üblicherweise glaubt, man müsse immer den besten Entscheid treffen, gibt es bei Konsententscheiden das Kriterium «good enough for now and safe enough to try». Das erlaubt, etwas einfach mal auszuprobieren, einen Entscheid aber auch wieder revidieren zu können. Man wird grosszügiger bei Entscheidungen und kann auch etwas zustimmen, das man selbst vielleicht anders entschieden hätte.
Wie wirkt sich das auf die Klient*innen aus?
Urs: Generell wird der Einfluss des organisationalen Kontextes auf die Klient*innenarbeit meist unterschätzt. In Untersuchungen konnten wir feststellen, dass Mitarbeitende von Organisationen mit flachen Hierarchien ihren Klient*innen tendenziell eher auf Augenhöhe begegnen als solche von hierarchisch geprägten Organisationen. Das heisst, wer lernt, mit Kolleg*innen selbstorganisiert Entscheidungen so zu treffen, wird es in der Tendenz auch mit Klientinnen und Klienten so machen. Das heisst, Klient*innen zu Expert*innen ihres Lebens zu machen und sie dazu zu ermutigen, etwas Neues zu probieren und auch scheitern zu wagen, statt auf die 100% richtige Entscheidung zu warten .
Gibt es weitere gute Gründe für Selbstorganisation?
Urs: Von manchen Organisationen höre ich, dass es ein Vorteil auf dem Stellemarkt ist. Da Selbstorganisation auch etwas gehypt wird, besteht daher das Risiko, dass es vor allem darum geht, sich mutig und fortschrittlich zu präsentieren, während man die Fäden immer noch in der Hand hält. Ich würde aber keiner Organisation empfehlen, nur deshalb Selbstorganisation einzuführen. Ich würde es immer daran messen, ob man damit für seine Klient*innen einen Mehrwert schaffen kann.
In der Sozialen Arbeit gibt es Bereiche, die sehr direktiv funktionieren. Kann das die Freiheit einschränken, alternative Organisationsmodelle einzuführen?
Urs: Das finde ich schwierig zu beurteilen. Ich habe viele Jahre interne Weiterbildungen für Sozialpädagog*innen im Straf- und Massnahmenvollzug für junge Erwachsene gemacht. Das ist natürlich eine sehr anspruchsvolle Klientel und ich weiss nicht, wie weit man in solchen Organisationen überhaupt auf Augenhöhe mit der Klientel arbeiten kann. Hier gibt es sicher Grenzen. Das sind aber kleine Sektoren in der Sozialen Arbeit. Grundsätzlich bin ich der Meinung, die Organisationsform muss sich der Klientel und deren Bedürfnissen anpassen, nicht umgekehrt. Im Zentrum geht es um sie und wir müssen uns überlegen, wie wir das bestmögliche organisationale Umfeld schaffen können, damit die Arbeit mit der Klientel unterstützt wird.
Wie ist es für eine Organisation, die von übergeordneten Strukturen abhängig ist, die hierarchisch organisiert sind?
Urs: Ich höre oft, dass übergeordnete Stellen klare Ansprechpersonen haben wollen. Dieses Problem kann man auch in Selbstorganisation gut lösen. Man muss lediglich jemandem diese Rolle der Verbindungsperson zum Stiftungsrat, zu der Gemeinde etc. geben. Dann trifft der Vorbehalt, dass mit Selbstorganisation niemand mehr zuständig sei, nicht mehr zu.
Funktioniert Selbstorganisation auch in der Freiwilligenarbeit?
Urs: Ich würde sogar sagen, dort funktioniert es noch besser. Freiwillig engagierte Personen möchten ernst genommen werden und haben oft Ideen ausserhalb des Tellerrandes, die sie in einem hierarchisch geprägten Umfeld, wo sie bloss die «Laien» sind, vielleicht nicht äussern würden. Ich glaube, mit selbstorganisierten Strukturen gibt es viel mehr Möglichkeiten, sie einzubeziehen.
Hat das Modell auch Nachteile oder Schwierigkeiten?
Urs: Ein Punkt ist sicher die Umstellung. Es braucht einigen Mut, das zu wagen. Es braucht vor allem auch Führungskräfte, die bereit sind, etwas an Macht und Ansehen abzugeben; häufig sind damit Lohneinbussen verbunden. Dann stellt sich die Frage, ob das Modell mehr Zeit benötigt, weil die Reflexion über die Zusammenarbeit mehr Raum einnimmt. Da man andererseits schneller zu Entscheidungen kommt, ist es wohl eher ein Nullsummenspiel. Man erhält jedoch eine gelingendere Arbeit mit Klient*innen und auch die Zufriedenheit der Mitarbeitenden verbessert sich.
Welches sind die grössten Hürden, wenn sich eine Organisation dafür entscheidet, Selbstorganisation einzuführen?
Urs: Einerseits müssen die aktuellen Führungskräfte dem eine Chance geben und einen Sinn darin sehen. Dann würde ich auch eine schrittweise Umsetzung empfehlen, statt eine Umstellung auf einen bestimmten Stichtag zu beschliessen. Es ist ein Lernprozess, den eine Organisation langsam angehen sollte, und auf diesem Weg kann sie vorweg entscheiden, was sie braucht, was sinnvoll ist und was nicht. Ein Modell der Selbstorganisation einzuführen ist kein Endzustand. Das bleibt ein Pflänzchen, dass man weiterhin pflegen muss, das nicht einfach von alleine weiter wächst, sondern immer wieder mal der Überprüfung bedarf.
Stimmt der Eindruck, dass Soziale Arbeit zwar oft gute Ansätze zur Lösung von sozialen Problemlagen hätte, in der Praxis aber oft nur Symptome bearbeiten kann?
Urs Kaegi: Generell kann man der Aussage zwar schon zustimmen und natürlich würde ich mir auch bessere Rahmenbedingungen wünschen. Mein Bedenken ist aber, dass man die Arbeit mit Klient*innen zu wenig wertschätzt, wenn man sie auf die Bearbeitung von Symptomen reduziert. Man arbeitet mit Menschen in kritischen Situationen, die man im besten Fall dabei unterstützen kann, selbstbestimmt zu leben. Für einzelne Klient*innen ist das oft eine wichtige Erfahrung und jede fachliche Intervention, die dazu beiträgt, ist wichtig. Das sollten wir nicht geringschätzen.
Fortsetzung folgt
Im dritten und abschliessenden Beitragsteil, der Anfangs Januar folgt, werden wir die Systemumwelt in den Blick nehmen. Uns interessiert, welche Handlungsmöglichkeiten die Sozialarbeitende – sei es individuell oder kollektiv – haben, ihre Systemumwelt etwa durch sozialpolitisches Engagement mitzugestalten.
In eigener Sache: Die Rolle von Sozialinfo
Wir sehen unseren Auftrag in der Unterstützung von Organisationen und Fachpersonen bei der Bewältigung ihrer täglichen Arbeit. Nebst unserer Kernaufgabe, der Wissens- und Informationsvermittlung, bieten wir auch ganz konkrete Hilfestellungen an.
Im Bereich der bei der «Arbeit am System» findest du bei uns Unterstützung in Digitalisierungsfragen sowie bei der Gestaltung nachhaltiger Arbeitsverhältnisse.
Im Bereich der bei der «Arbeit im System» bieten wir dir Beratung bei komplexen Rechtsfragen an.
Autor*in

Martin Heiniger
Fachredaktion
Sozialinfo

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