Der Rechtsschutz von Sozialhilfebeziehenden weist erhebliche Lücken auf. Ein Bericht des Bundes zeigt auf, was Gerichte, aber auch Sozialdienste ändern können.
Eine vor kurzem vom Bundesamt für Sozialversicherungen herausgegebene Studie hat untersucht, inwiefern in der Schweiz der Rechtsschutz für Armutsbetroffene in der Sozialhilfe gewährleistet ist und welche Rolle dabei private Rechtsberatungsstellen spielen. Rechtsschutz ist dabei zu verstehen als die Möglichkeit, in Rechtsstreitigkeiten innerhalb angemessener Zeit einen Entscheid von einer unbefangenen staatlichen Instanz zu erhalten.
Im Interview erläutert Studienleiterin, Prof. Gesine Fuchs, worin die Hürden für Armutsbetroffene bestehen.
«In der Schweiz wird die unentgeltliche Rechtspflege sehr restriktiv gewährt.»
Regine Strub: Sozialhilfebeziehende haben wenig Geld. Das wären doch gute Voraussetzungen, um eine unentgeltliche Rechtspflege zu erhalten. Dem ist aber nicht so?
Gesine Fuchs: Das Sozialhilferecht ist ein komplexes Rechtsgebiet, das haben uns Richter, Juristinnen und Beratungsstellen bestätigt. Das alleine wäre bei bedürftigen Menschen Grund genug, um eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung grundsätzlich zu bewilligen. Doch in der Schweiz wird die unentgeltliche Rechtspflege sehr restriktiv gewährt. Bedingung dafür ist, dass jemand mittellos ist, die Rechtsvertretung notwendig und die Beschwerde nicht aussichtslos ist. Die Gerichte argumentieren häufig, die Beschwerde sei aussichtslos, entscheiden darüber aber erst am Schluss mit dem Urteil. In unseren Stichproben haben wir Urteile gesehen, in denen die komplexen Sachverhalte sorgfältig beurteilt worden sind – etwa zu Rückzahlungen und zum Verhältnis zwischen Sozialhilfe und Strafrecht. Wenn dann am Ende festgestellt wird, die Klage sei von vornherein aussichtlos gewesen, ist das etwas widersinnig.
Das heisst, die Betroffenen tragen das finanzielle Risiko für eine Beschwerde?
Genau.

Prof. Dr. Gesine Fuchs
Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern, Soziale Arbeit (HSLU), am Institut Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention.
Sie sprechen sich auch für mündliche Verhandlungen aus.
Das andere Argument ist, dass es im Sozialhilferecht um die Darlegung persönlicher Umstände geht, und dafür sei ein Rechtsbeistand nicht nötig. Das Problem ist nur: Die persönlichen Umstände müssen schriftlich dargelegt werden. Das ist eine hohe Hürde für viele. Aus den Interviews wissen wir, dass Betroffene es noch Jahre später als sehr unfair empfinden, dass sie sich dem Gericht gegenüber nie mündlich erklären konnten, dass sie nie in einen Dialog treten konnten. Für die Wahrung des Vertrauens in die Rechtspflege und in den Rechtsstaat wäre das jedoch sehr wichtig.
Gibt es weitere Gründe für das nicht Gewähren von unentgeltlicher Rechtspflege?
Ein weiteres Argument der Gerichte und Verwaltungsbehörden ist der Untersuchungsgrundsatz. Das bedeutet, dass die Behörde oder das Gericht verpflichtet ist, den Sachverhalt von sich aus abzuklären. Wir können dies nicht abschliessend beurteilen, aber Beratungsstellen, und mehr noch Anwält*innen, finden, dass dies nicht immer gut genug gelingt. Wenn aber eine fachlich gute, präzis formulierte Beschwerde vorliegt, ist die korrekte Anwendung des Rechts leichter. Diese restriktive Praxis unentgeltlicher Rechtspflege hat die Anwaltschaft in unserer Umfrage sehr breit und zum Teil harsch kritisiert: Ohne Rechtsbeistand kein Rechtsschutz. Und Anwältinnen und Anwälte wiederum können nicht umsonst arbeiten. Wenn sie für solche Mandate kein Geld bekommen, dann wird sich kaum jemand auf Sozialhilferecht spezialisieren. Insgesamt sind nur ein Drittel der von uns befragten Anwält*innen, die sozialhilferechtliche Mandate haben, auch auf dieses Rechtsgebiet spezialisiert. Das ist sehr wenig.
Was müsste sich ändern?
Die Gerichte sollten vom Grundsatz ausgehen, dass aufgrund der Komplexität des Rechtsgebietes eine Rechtsverbeiständung nötig ist. Es darf nicht sein, dass durch hohe Hürden und Bedingungen der Anspruch auf Hilfe und Beratung theoretisch bleibt. Die unentgeltliche Rechtspflege, aber auch genügend Beratungsstellen sind für den Rechtsschutz von Armutsbetroffenen wirklich besonders relevant.
« Es darf nicht sein, dass durch hohe Hürden der Anspruch auf Hilfe und Beratung theoretisch bleibt. »
Unentgeltliche Rechtspflege
Das Recht auf unentgeltliche Rechtspflege ist in Art. 29 Abs. 3 der Bundesverfassung (BV) festgehalten. Sie soll den Zugang zu rechtlichen Verfahren unabhängig von den finanziellen Verhältnissen gewährleisten.
Sie lässt sich unterteilen in die unentgeltliche Prozessführung und die unentgeltliche Verbeiständung. Der Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung umfasst den vollständigen oder teilweisen Verzicht auf die Erhebung von Gerichts- oder Verfahrensgebühren, während die unentgeltliche Verbeiständung auf die Bestellung und Entschädigung einer Rechtsvertung zielt.
Sie stellen in Ihrem Bericht fest, dass die erste Stufe von Beschwerdeverfahren besonders wichtig ist. Weshalb?
In dieser ersten Stufe – dem verwaltungsinternen Verfahren - steht am meisten auf dem Spiel. Hier wird der materielle Entscheid gefällt. Zum Beispiel, ob der Sozialdienst etwas bezahlt oder nicht, ob man an einem Programm teilnehmen muss oder ob die Kürzung der Miete in Ordnung ist. Wenn Betroffene hier mit einem Beistand zu ihrem Recht kommen oder wenn es eine rechtlich fundierte Klärung gibt, umso besser. Dann muss ein Anliegen nicht weitergezogen werden.
Was passiert, wenn Betroffene den Fall an die nächst höhere Instanz weiterziehen?
Die weiteren Instanzen haben nicht mehr die volle Kognition, das heisst, sie können die Angemessenheit eines Entscheides nicht mehr prüfen oder sie halten sich dabei zumindest zurück. Gerügt werden kann zum Beispiel nur noch, die Behörde habe ihr Ermessen missbraucht, sich also von völlig sachfremden Kriterien leiten lassen. Ob es jedoch eine Lösung gäbe, die der Person angemessener wäre, wird nicht mehr verhandelt. Das kann dazu führen, dass man sich nicht gehört fühlt und ein Gefühl zurückbleibt, der Entscheid sei unfair.
Haben Sie positive Beispiele für ein faires Verfahren gefunden?
In der Stadt Freiburg haben sie einen runden Tisch eingeführt, an dem die Sozialhilfebehörde mit den Betroffenen noch einmal alles erläutert und diskutiert. Es hat sich gezeigt, dass damit schon einige Streitigkeiten abgearbeitet werden können. Und sei es nur, dass die Betroffenen einsehen, dass alles mit rechten Dingen zu und her geht.
Sie kritisieren auch den Umgang mit kantonalen Handbüchern. Diese sind geschaffen worden, um die Praxis innerhalb eines Kantons zu vereinheitlichen. Wo liegt das Problem?
Nicht alles ist abschliessend auf Gesetzes- oder Verordnungsebene geregelt. Deshalb sind diese Handbücher entstanden. Problematisch ist vor allem, dass nicht alle öffentlich zugänglich sind. Nur gerade 12 Sozialhilfehandbücher sind veröffentlicht. Das Handbuch von Solothurn war mehrere Jahre in Überarbeitung und nicht zugänglich, in Genf ist und bleibt das Handbuch intern. Doch diese Handbücher sind oft leitend für die Entscheide und die rechtlichen Verfügungen der Behörden. Ein Grundsatz des Rechtsstaats ist, dass alles Recht öffentlich zugänglich sein muss. Insofern ist es rechtsstaatlich bedenklich, wenn eine wichtige Grundlage, die Handbücher, nicht veröffentlicht sind.
Zugang zum Recht
Zugang zum Recht betrifft sämtliche Rechts- und Lebensbereiche. Von besonderer Relevanz sind dabei die grund- und menschenrechtliche Dimension und die Bedeutung eines wirksamen Rechtsschutzes für die gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation (SKMR, 2017).
« In allen Konfliktfällen gab es einen Mangel an sozialarbeiterischem Handeln. Es gab vor allem Kontrolle und Schikane, aber wenig Hilfe. »
Sie stellen weiter fest, dass sozialarbeiterisches Handeln viele Konflikte vermeiden könnte. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Wir haben vor allem mit Betroffenen gesprochen, die Probleme mit dem Sozialdienst bekommen haben. In allen Konfliktfällen gab es einen Mangel an sozialarbeiterischem Handeln; es gab vor allem Kontrolle und Schikane, aber wenig Hilfe. Das liegt sicher an einer zu hohen Falllast der Sozialarbeitenden und an der hohen Komplexität des Sozialhilferechts: Die Betroffenen haben selten persönlich mit der fallführenden Person gesprochen, auf ihre individuelle Situation wurde häufig nicht eingegangen. Weitere Gründe könnten in einer fehlenden sozialarbeiterischen Ausbildung liegen oder an einem fehlenden Bewusstsein für das Doppel- beziehungsweise Triplemandat in der Sozialen Arbeit. Das müsste man aber noch genauer untersuchen.
Was wäre denn ein gutes Beispiel für sozialarbeiterisches Handeln?
In der Waadt gab es ein Pilotprojekt. Arbeitslose sind sowohl durch eine Sozialarbeiterin des Sozialdienstes wie auch einen Personalberater des RAV relativ eng betreut worden. Die Leute haben so schneller wieder eine Stelle gefunden. Das erfordert aber zuerst einmal mehr Ressourcen. Von nichts kommt nichts.
Neben der unentgeltlichen Rechtspflege geht der Bericht auf weitere Aspekte des Zugangs zum Recht ein.
Unabhängige private Rechtsberatungsstellen stärken
Unabhängige Beratungsstellen und öffentliche Ombudsstellen leisten einen wichtigen Beitrag in der Stärkung des Rechtsschutzes von Armutsbetroffenen. Gerade private Rechtsberatungsstellen müssen sich oft durch Spenden finanzieren. Die Studienautor*innen empfehlen deshalb, Beratungsstellen, welche Sozialhilfebeziehende detailliert und einzelfallbezogen beraten, durch eine öffentliche Finanzierung zu stärken. Aber auch niederschwellige Stellen, die allgemeine rechtliche Informationen und Beratung anbieten, sollten unterstützt werden. Denn diese können über Rechte und Pflichten aufklären und eine wichtige Triagefunktion übernehmen.
Was Sozialdienste tun können
Bei den Sozialdiensten ortet die Studie weitere Verbesserungsmöglichkeiten. Diese sollten ihre rechtlichen Informationen verständlich aufbereiten. Sozialdienste sollen ihre Klientel zudem proaktiv und umfassend zu ihren Rechten und Pflichten, der Rechtslage und ihren Einsprachemöglichkeiten in der Sozialhilfe informieren. Weiter stellen die Autor*innen fest, dass mehr sozialarbeiterisches Handeln auf den Sozialdiensten Konflikte vermeiden hilft und zu einem effektiven Rechtsschutz bei Sozialhilfeempfänger*innen beiträgt. Die prekären Situationen der Armutsbetroffenen erforderten von den Mitarbeitenden ein Handeln, das sich an der Leitidee und dem Menschenbild der Sozialen Arbeit orientiere sowie Arbeitsbedingungen, die dies ermöglichten. Mehr Zeit für Sozialarbeit in den Sozialdiensten verbessere die Reintegration und beuge Konflikten vor, so die Autor*innen. Wie der Sozialdienst Winterthur gezeigt hat, führt mehr Personal auch zu einer Kosteneinsparung und zu einer besseren Betreuung von Sozialhilfebeziehenden. Wie ein Bericht von SRF zeigt, folgen weitere Sozialdienste diesem Beispiel.
Der Bund (2021): Bund will Rechte von Sozialhilfeempfängern stärken
AvenirSocial (2021): Studie des Bundes zeigt grosse Mängel beim Rechtsschutz von Sozialhilfebeziehenden
NZZ (2020): In der Schweiz haben nicht alle den gleichen Zugang zum Recht
Autor*in

Regine Strub
Fachredaktion Sozialinfo
E-Mail: geschaeftsstelle@sozialinfo.ch

Regine Strub
Wenn sich Sozialhilfebeziehende ungerecht behandelt fühlen und sie ihren Anspruch von einer gerichtlichen Instanz überprüfen lassen wollen, müssen sie oft grosse Hürden überwinden. Auf Unterstützung können sie dabei kaum zählen.
Eine kürzlich erschienene Studie fordert deshalb unter anderem, dass Gerichte ihre bisherige, rigide Praxis aufweichen und vermehrt die unentgeltliche Rechtspflege gewähren.
Doch ein besserer Rechtsschutz beinhaltet nicht nur die Verbesserung gerichtlicher Verfahren. Vorgelagerte Ombudsstellen, sowie private Beratungs- und Informationsangebote leisten einen ebenso wichtigen Beitrag und müssen gefördert werden.
Zu einem besseren Rechtsschutz gehört aber auch, dass Sozialdienste ihre Klientel proaktiv über ihre Rechte – auch gegenüber der Sozialhilfe – informieren. Niederschwellige Gefässe, in denen Konflikte möglichst früh und einvernehmlich ausgetragen werden können, wären eine weitere Möglichkeit.