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Wie Agilität in Organisationen der Sozialen Arbeit gelingt

29.02.2024 - 6 Min. Lesezeit

Andere

Michael Burkhalter

Ein Mann schreibt einen Zettel an einem Kanban-Board

Komplexe Einflüsse aus Umwelt und Gesellschaft tragen neue Herausforderungen an Soziale Organisationen heran und erfordern neue Arbeitsweisen, um soziale Probleme effektiv bearbeiten zu können. Dazu bietet Agilität als ganzheitliches Konzept Lösungsansätze. Der Beitrag erörtert, unter welchen Bedingungen es gelingt, agile Konzepte in Organisationen der Sozialen Arbeit zu implementieren.

Agilität ist längst zum Schlagwort für Organisationen und Management geworden und hat bereits in unterschiedlichen Disziplinen Eingang gefunden. Um auf den gesellschaftlichen Wandel reagieren zu können, hat sich etwa in den Bildungssystemen verschiedener Länder in Europa der Ansatz «eduScrum» etabliert. Bekannt ist zudem die niederländische Spitex Buurtzorg oder hierzulande die Spitex Zürich Limmat oder Luzern, welche sich an dem Konzept von Agilität orientieren und selbstorganisiert funktionieren.  

Was Agilität bedeutet, lässt sich in zweierlei Hinsicht erklären. Sie umfasst eine Vielzahl von Modellen, Werkzeugen oder Methoden, um Entwicklungsprozesse und Projekte zu gestalten. Zu bekannten agilen Methoden zählen Scrum, Kanban, System Thinking und viele mehr. Agilität geht aber über diese Methodenvielfalt hinaus und versteht sich gleichzeitig als übergeordneter Ansatz, der die Anpassungs- und Reaktionsfähigkeit eines Systems auf Veränderungen beschreibt. Agilität folgt dem Bedürfnis, auf veränderte Herausforderungen der Umwelt, auch Unsicherheiten und höhere Komplexitäten in einer veränderten Form reagieren zu können.  

Gesellschaftlicher Wandel als Agilitätstreiber – auch in der Sozialen Arbeit

Auch in der Sozialen Arbeit hat Agilität Einzug gehalten. Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass sich soziale Probleme, deren Bearbeitung der Kernauftrag der Sozialen Arbeit ist, in den letzten Jahren verändert haben. Umwelteinflüsse wie veränderte politische Situationen (bspw. Krieg und Migration), wirtschaftliche Faktoren (Inflation, Arbeitslosigkeit) oder die Corona-Pandemie erfordern von Organisationen der Sozialen Arbeit, ihre Angebote anzupassen oder neue zu schaffen. Nicht zuletzt sind auch Veränderung des Arbeitsmarktes zu beobachten, welche etwa dazu führen, dass Mitarbeitende heute andere Ansprüche betreffend flexiblen Arbeitszeitmodellen an Arbeitgebende stellen. Was können agile Ansätze zur Bewältigung dieser Herausforderungen beitragen? 

Ausgezeichnete Masterthesis

Michael Burkhalter hat sich im Rahmen seiner Masterthesis damit beschäftigt, inwieweit eine agile Projektmanagementmethode wie Scrum auf Organisationen der Sozialen Arbeit sowie die Bearbeitung sozialer Probleme übertragbar ist.  

Die Masterthesis «Agilität in Organisationen der Sozialen Arbeit» wurde von der FHNW 2023 mit dem Prädikat «sehr gut» bewertet.

Ein zentraler Streitpunkt bei Agilität innerhalb der Sozialen Arbeit ist, ob die agilen Methoden nicht zu viele Ressourcen benötigen und dadurch zu teuer sind. Klassische Herangehensweisen kennen das «Wasserfall-Prinzip», nach dem am Ende des Projektes das Ergebnis auf einmal «ausgeschüttet» wird. Diese Vorgehensweise hat sich lange bewährt und ist in vielen Kontexten der Sozialen Arbeit wie beispielsweise der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben oder kantonaler sowie kommunaler Leistungsvereinbarungen sicherlich effizient. Es wäre daher falsch, agile Methoden als Lösung für sämtliche Probleme zu proklamieren. Agilität kann jedoch auch in solchen Fällen auf der Ebene der Methodik und des Projektmanagements wertvolle Impulse liefern. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Agilität von anderen Bedingungen ausgeht als herkömmliche Methoden. Die Grundannahme ist, dass sich die Umweltbedürfnisse sowohl während der Projektentstehung als auch im Normalbetrieb ständig verändern und dadurch neue zu lösende Probleme und Herausforderungen entstehen. Hier kann eine agile Methode durch ihre iterative Herangehensweise innerhalb kürzerer Zeit einen Nutzen für Adressat*innen der Sozialen Arbeit bringen. Die Frage, ob Agilität mit mehr Chancen oder Risiken einhergeht, ist aus meiner persönlichen Sicht falsch gestellt. Vielmehr werden aufgrund der sich schnell veränderten, komplexen Umwelteinflüsse neue Herausforderungen an die Soziale Arbeit herangetragen, die schnelle, flexible und veränderte Reaktionen und soziale Innovationen bedingen. Daher braucht es Agilität als Lösungsbeitrag und die Frage liegt, unter der Berücksichtigung von Risiken und Chancen, in der Anwendung von agilen Konzepten und Methoden für die Soziale Arbeit. Die Implementierung agiler Methoden in einer Organisation ist jedoch oft hürdenreich. 

Agile Methoden erfolgreich implementieren

Im Rahmen meiner Master-Thesis befasste ich mich mit Agilität in Organisationen der Sozialen Arbeit. Dabei habe ich nicht die Organisationen bzw. Leitungspersonen selbst befragt, sondern Expert*innen aus dem Bereich Organisations- und Personalentwicklung, welche innerhalb dieser Organisationen der Sozialen Arbeit auf Mandatsbasis arbeiten. Dies ermöglichte die Perspektive von aussen auf Organisationen der Sozialen Arbeit. Die zentrale Fragestellung lautete, wie agile Projektmanagementmethoden auf Organisationen der Sozialen Arbeit übertragbar sind und welche Strukturen sowie organisationalen Logiken hierfür Bedingung sind. Anhand der Untersuchungsergebnisse liessen sich vier Gelingensfaktoren für Agilität in Organisationen der Sozialen Arbeit identifizieren und eine praktische Herangehensweise skizzieren. 

1. Mindset 

Als wichtigster Gelingensfaktor von Agilität erwies sich das Mindset der Mitarbeitenden. Der Begriff bezeichnet die Denk- und Handlungslogiken von Menschen. Dazu gehört beispielsweise das Vertrauen gegenüber der vorgesetzten Stelle oder die Bereitschaft von Mitarbeitenden, Selbstverantwortung zu übernehmen. Agile Methoden erfordern oftmals den Mut, Neues zu wagen. Daher sind Neugier im Prozess sowie Offenheit, sich auf Experimente einzulassen, weitere zentrale Punkten eines agilen Mindsets. Entscheidend zeigte sich aber auch ein unterstützender Umgang zwischen den Mitarbeitenden, also die Art und Weise der Beziehung unter den Mitarbeitenden. Die Untersuchung zeigte, dass das Mindset von Mitarbeitenden bereits bei der Rekrutierung einen Schwerpunkt darstellen sollte. 

2. Kultur der Organisation 

Innerhalb einer Firma helfen Konzepte wie positive Psychologie oder positive Leadership, damit Agilität gelingen kann. Es geht darum, Mitarbeitenden möglichst viel psychologische Sicherheit vermitteln zu können, indem etwa die Mitwirkung von Mitarbeitenden erhöht wird oder Fehler nicht zu einer Stigmatisierung des Scheiterns führen, sondern vielmehr in einer wertschätzenden Organisationskultur aufgefangen werden. Agilität geht auf der Organisationsebene auch mit einem Kulturwandel einher. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Veränderungen in Kultur und Stimmung bei Mitarbeitenden Angst auslösen können. Hier gilt es, das Personal entsprechend abzuholen sowie die Mitwirkung zu ermöglichen. Zu betonen ist zudem, dass nicht alle Mitarbeitenden nach agilen Ansätzen oder Methoden arbeiten möchten und dies zu Überforderung führen kann. Der Weg zu Agilität geht immer mit Veränderung einher, weshalb dieser Transformationsprozess Zeit benötigt und nicht von heute auf morgen geschehen kann. Dies bedingt Transparenz und viel Kommunikation. Gelingt es trotzdem nicht, alle Mitarbeitenden auf diesen Weg mitzunehmen, dann stellt sich durchaus die Frage, wie eine weiterführende Zusammenarbeit erfolgen kann, ohne dass eine Kündigung notwendig wird. Oftmals kann auch eine veränderte Rolle für die Person oder ein «Placement» in einer anderen Abteilung ein Lösungsansatz sein. 

Die Untersuchung zeigte weiter auf, dass in Organisationen der Sozialen Arbeit oft viel Wissen vorhanden ist, welches für die Entwicklung einer neuen gemeinsamen Kultur genutzt werden kann. Professionelle der Sozialen Arbeit sind ständig mit veränderten Problemlagen ihrer Klientel konfrontiert und verfügen daher über eine hohe Flexibilität, die sehr gut zu agilen Konzepten passt. Darüber hinaus haben Organisationen der Sozialen Arbeit ihre Angebote bereits oftmals dem Bedarf der Klientel anpassen und neugestalten müssen. Diese Kompetenzen der Sozialarbeitenden sowie das Wissen der Organisation reichen für einen Transformationsprozess jedoch nicht aus. Die Untersuchung zeigte, dass sich Organisationen zwingend auch externe Hilfe holen sollten, damit ein Kulturwandel hin zu Agilität gelingen kann. Diese Transformationsprozesse benötigen viel Zeit, weshalb der Prozess schrittweise angegangen werden sollte. 

3. Strukturen 

Ein weiterer Gelingensfaktor für Agilität stellen die organisationalen Strukturen sowie deren Anpassungsmöglichkeiten dar. Gemäss den befragten Expert*innen sind die Zeiten von klassischen und starren Hierarchien vorbei. Agilität setzt dabei an, Rahmenbedingungen zu schaffen, um diese Hierarchien aufzuweichen. Mögliche Formen sind Selbstorganisation oder Kreisorganisation mit wechselnden, agilen Rollen. Diese Umstellung bedingt Ressourcen, da eine Veränderung von Strukturen mit Stress und hoher Belastung bei den Mitarbeitenden einhergehen kann. Oftmals wollen Organisationen zu Beginn eines Entwicklungsprozesses möglichst rasch irgendeine agile Struktur einführen, was viel Unsicherheit beim Personal auslösen kann. Diese Herangehensweise erweist sich nach den befragten Expert*innen als falsch. Zunächst muss die Organisation ihren organisationalen Reifegrad berücksichtigen und die gemeinsame Vision kennen. Erst dann kann sich die Organisation entwickeln und die Strukturfrage beantworten. 

4. Vorgesetzte Person 

Als vierter Gelingensfaktor wurden vorgesetzte Personen und deren Leadership genannt. Führung nach Agilität geht mit einem Mindset einher, welches sich an Empowerment, den Stärken von Mitarbeitenden, deren Ressourcen und Selbstwirksamkeit orientiert. Die Zufriedenheit von Mitarbeitenden ist dabei zentral. Für die Führungspersonen stellen regelmässige Kommunikation sowie Transparenz weitere Gelingensfaktoren bei der Einführung agiler Konzepte und Methoden dar. Wie aber genau kann Agilität von der Theorie in die Praxis umgesetzt werden? 

Ansätze für die Praxis (Good Practice)

Der Lösungsansatz zur Einführung agiler Konzepte hört sich zunächst simpel an, wie sich die befragten Expert*innen einig sind. Es geht darum, etwa mittels Versuchsballons agile Methoden zu pilotieren und mutig auszuprobieren. So kann beispielsweise ein Projekt mit einem Kanban-Boards visualisiert werden, um dadurch die Ressourcen optimal einzuteilen. Eine andere Idee ist, ein tägliches Treffen durchzuführen, das «daily stand-up», bei dem Professionelle der Sozialen Arbeit in der Retrospektive den letzten Tag sowie die Ziele für den heutigen Tag besprechen. Agile Experimente oder Praxisbeispiele sollten danach im Team ausgewertet werden und ein Reflexionsprozess initiiert werden. Durch neue, praktische Erfahrungen kann schliesslich die Kultur von Organisationen verändert werden. Spannend ist weiter, sich als Organisation der Sozialen Arbeit kritische Fragen zu stellen: «Sind wir als Organisation immer noch die optimale Antwort auf ein soziales Problem?», «Welche Werte, welche Kultur zeichnet unsere Firma oder unser Team aus?» und «Ist die Organisationsform, die wir vor vielen Jahren gewählt haben, noch passend für unsere Firma sowie die Mitarbeitenden?». Zu berücksichtigen ist dabei, dass Agilität nicht in jedem Kontext in gleicher Art und Weise funktioniert. Es gilt, einen systemischen Blick auf die Organisation zu haben und die Ideen und Konzepte im jeweiligen Organisationskontext anschlussfähig zu gestalten. Weiter ist hilfreich, sich nicht auf eine einzelne agile Methode wie beispielsweise Scrum zu versteifen, sondern die Methodenvielfalt zu nutzen, um eine eigene Form zu finden. Dazu ist ein Wissensaufbau in der Organisation notwendig, sowie eine realistische Planung und Begrenzung der Projekt- oder Organisationsentwicklungsschritte. Im agilen Kontext wird dabei von Iterationen gesprochen, von Teilschritten, welche (inkrementell) aufeinander aufbauen. Nicht zuletzt gilt es zu berücksichtigen, dass Transformationsprozesse Zeit und Ressourcen benötigen, welche eine Organisation sowie deren Führungspersonen und Mitarbeitende oftmals nicht allein stemmen können. Daher ist eine professionelle und externe Begleitung zu empfehlen. 

Autor*in

Michael Burkhalter

Portrait von Martin Heiniger

Martin Heiniger

Vor einigen Wochen beschrieb meine Kollegin Tamara Nashid, wie wir uns bei Sozialinfo als Organisation auf den Weg der Transformation gemacht haben. Im Gespräch mit Sarah Huber, wissenschaftliche Mitarbeiterin, und Thomas Brunner, Geschäftsführer, zeigte sich die Bandbreite der Fragen und Herausforderungen, die sich im Veränderungsprozess hin zu einer neuen Organisations- und Führungskultur ganz konkret und praktisch stellen.

Unser aktueller Gastbeitrag beleuchtet das Thema Transformation aus einer übergeordneten Perspektive und geht der Frage nach, was es zur Implementierung agiler Methoden in sozialen Organisationen braucht. Gastautor Michael Burkhalter präsentiert dazu spannende Erkenntnisse aus seiner Masterthesis. Ein für mich zentrales Statement vorweg: Die Frage ist nicht, ob Agilität mit mehr Chancen oder Gefahren verbunden ist, sondern, wo agile Konzepte Organisationen darin unterstützen können, sich flexibel und schnell an sich verändernde Umstände anzupassen.