Marktwirtschaftliche Logik und kapitalistische Interessen der ICT-Firmen haben einen dominierenden Einfluss darauf, welche digitalen Tools und Lösungen wir nutzen und wie diese ausgestaltet sind. Der «digitale Humanismus» zeigt eine andere, gerechtere Perspektive auf.
Die Digitalisierung durchdringt sämtliche Lebensbereiche. Sie beeinflusst den Zugang zu und den Umfang mit Informationen, das Konsumverhalten, die Bildung, die Arbeitswelt, die Art und Weise wie Menschen miteinander interagieren.
Im Zusammenhang mit der Gestaltung der technologischen Entwicklungen können folgende Fragen aufgeworfen werden: Inwiefern beeinflussen die digitalen Möglichkeiten, unser Verhalten und unsere Werte? Welche Auswirkungen hat die Interaktion zwischen Mensch und Technik auf unser Menschenbild und unser Selbstverständnis als souveränes Individuum?1 Welches Menschenbild liegt den, von ICT-Unternehmen entwickelten Produkten zugrunde und was bedeutet dies für Individuen und gesellschaftliche Strukturen?
Persönliche Daten als Handelsware
Unternehmen aus dem Informatik- und Technologiesektor bestimmen darüber, welche Daten sie über ihre Nutzer*innen sammeln, speichern, weiterverarbeiten oder damit Handel treiben. Und sie bestimmen auch darüber, inwiefern Ansätze der Verhaltensforschung für die verfolgten Unternehmensziele eingesetzt werden (z.B. anhand der gesammelten Daten möglichst differenzierte Profile für Marketingzwecke zu erhalten). Man könnte konstatieren, dass sich die entsprechenden Unternehmen stark am sogenannten Dataismus2 orientieren.
Dataismus
Dataismus bezeichnet eine Denkweise, welche durch die aufkommende Bedeutung von BigData entstanden ist und in welcher der Informationsfluss als höchster Wert bezeichnet wird, dem quasi alles unterzuordnen ist. (Wikipedia)
Meist sind die wirkmächtigen Mechanismen zur Verhaltens- und Aufmerksamkeitssteuerung – beispielsweise in Form von Algorithmen – nicht nachvollziehbar, so dass deren konkrete Auswirkungen für die Nutzer*innen und die Gesellschaft intransparent bleiben. Die dem Dataismus zugrunde liegende Annahme über den Menschen ist irritierend: «Wir haben es also mit einem Menschenbild zu tun, welches den Menschen nicht als ein rationales Individuum betrachtet, sondern als ein von Emotionen und Affekten gesteuertes Tier, welches durch Experimente beobachtbar ist. … Dieses Tier offenbart sich mir nur als Summe seiner Daten.»3
Wenn Nutzer*innen beispielsweise nicht darüber aufgeklärt sind, welche Techniken auf Socialmedia-Plattformen eingesetzt werden, um die Nutzungszeiten zu verlängern oder wie sie vorgehen können, um ihre persönlichen Daten zu schützen, entsteht eine Machtasymmetrie. Dieses ungleiche Verhältnis zwischen den Akteur*innen in Bezug auf Information, Einflussnahme und Souveränität ist aus berufsethischer Perspektive der Sozialen Arbeit sehr kritisch zu bewerten.
Doch welche Ansätze können den herrschenden Marktlogiken und dem rein technizistischen Verständnis entgegengesetzt werden?
Vom Dataismus zum digitalen Humanismus
Eine Antwort darauf ist im digitalen Humanismus4 zu finden. Dessen Grundlage basiert auf der Anerkennung von Chancen und Risiken der Digitalisierung gleichermassen und darauf, dass technologische Entwicklungen
- Auswirkungen auf unser menschliches Verhalten haben
- Fragen nach dem Umgang auf gesellschaftlicher und individueller Ebene aufwerfen
- eine Verschmelzung zwischen öffentlichem und Privatem, Mensch und Maschine, Laien- und Expertentum nach sich ziehen.
Das sogenannte «Wiener Manifest für digitalen Humanismus» stellt die Forderung nach einem «digitalen Humanismus, der das komplexe Zusammenspiel von Technologie und Menschheit beschreibt, analysiert und beeinflusst, für eine bessere Gesellschaft und ein besseres Leben unter voller Achtung universeller Menschenrechte.»4
Der digitale Humanismus stellt damit die Frage nach den Herausforderungen einer gerechten, inklusiven und demokratischen Gesellschaft im Kontext der Digitalisierung, welche den Menschen ins Zentrum des technologischen Fortschritts stellt. Dies würde faktisch eine Umkehr der aktuellen Machtverhältnisse bedeuten. Diese Perspektive bildet ein Fundament, welches sich aus Sicht der Sozialen Arbeit für die fachliche und berufsethische Reflexion besonders gut eignet.
Wenn man die die Kernforderungen des Wiener Manifests für digitalen Humanismus als Fragestellungen formuliert, entstehen Reflexionsansätze für die grundsätzliche Gestaltung und Regulierung von technologischen Entwicklungen:
- Wie müssen digitale Technologien gestaltet sein, damit sie Demokratie und Inklusion fördern?
- Wie können die Grundwerte «Privatsphäre» und «Redefreiheit» besser geschützt werden?
- Wie können Regeln und Gesetzt gestaltet und umgesetzt werden, welche die Interessen möglichst aller berücksichtigen?
- Wie kann die Positionsmacht von Technologiemonopolen reguliert werden?
- Wie kann sichergestellt werden, dass Entscheidungen, deren Folgen individuelle und kollektive Menschenrechte betreffen, in der Verantwortung von Menschen bleibt und nicht an Algorithmen delegiert werden?
- Wie kann eine breit abgestützte interdisziplinäre Zusammenarbeit gestaltet werden, die Herausforderungen gemeinsam und ganzheitlich meistert?
- Wie können Orte der Wissenserweiterung, des Diskurses und der Reflexion geschaffen und gestaltet werden, um den Humanismus in den digitalen Entwicklungen zu stärken?
Eine offene Frage auf Professionsebene ist, inwiefern die Soziale Arbeit einen gesellschaftlichen oder professionseigenen Auftrag hat, sich in die Entwicklungen einzumischen. Dieser Diskurs ist noch zu führen.
1 Sass Marcel (2021) Verändert die Digitalisierung unser Menschenbild?. Innovator’s Guide Switzerland
2 Yuval Noah Harari (2017) Homo Deus: A Brief History of Tomorrow. Vintage Penguin Random House
3 Oertel Tobias (2019) Menschenbilder in der Digitalisierung: tbd*
4 Werthner et al. (2019) Wiener Manifest für digitalen Humanismus, Wien
Autor*in

Christine Mühlebach
Produktmanagement Digitalisierung
E-Mail: christine.muehlebach@sozialinfo.ch

Christine Mühlebach
In der digitalen Welt werden Unmengen von Daten erhoben. Gewisse Produkte und Plattformen sind durch die Art und Weise wie sie gestaltet sind, daraufhin optimiert, das Nutzungsverhalten gezielt zu steuern, um an möglichst umfangreiche persönliche Daten zu gelangen.
In solchen digitalen Anwendungen zeigt sich ein Menschenbild, welches aus Sicht der Sozialen Arbeit kritisch zu hinterfragen ist. Auch wenn die konkreten Einflussmöglichkeiten nicht sehr gross sind, geht es in dieser Thematik darum, eine gesellschaftliche Perspektive einzunehmen, das Bewusstsein zu schärfen und sich zu positionieren.