Mehr als die Hälfte aller ukrainischen Kinder und Jugendlichen sind auf der Flucht. Im Umgang mit den durch die Flucht traumatisierten Kindern und Jugendlichen ist traumapädagogisches Wissen gefragt.
In der Schweiz sind bis heute rund 50 000 ukrainische Flüchtlinge registriert, darunter viele Kinder und Jugendliche. Krieg und Flucht sind traumatisierende Erfahrungen, mit denen wir als Fachleute in der Sozialarbeit und der Pädagogik umgehen können müssen.
Um Betroffenen helfen zu können, müssen Traumatisierungen frühzeitig erkannt werden. Dazu ist traumapädagogisches Wissen gefragt, beispielsweise in den Flüchtlingsunterkünften, in der Schule und im Kindergarten, in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Familienhilfe und in weiteren sozialen und kirchlichen Tätigkeitsfeldern.
Die Traumapädagogik wurde von Praktiker*innen aus der Sozialarbeit und Pädagogik vor dreissig Jahren entwickelt. Auf der Suche nach einem adäquaten Umgang mit Flüchtlingskindern ist sie 2015 erneut in den Fokus gerückt. Für die Betroffenen sollen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die sie fördern und ihnen weitgehend die Teilhabe am sozialen und schulischen Leben ermöglichen.
Fallbeispiel 1
Eine traumatisierte Jugendliche, die in meine Beratung kam, hatte über Jahre hinweg keine Hilfe erhalten. Lehrer*innen haben sie zwar gefragt, was mit ihr los sei, doch das Mädchen konnte sich nicht artikulieren. In den Momenten der Nachfrage wurde sie von heftigen Panikattacken überrollt und brauchte kein Wort heraus.
Um Betroffenen weiteres Leid zu ersparen, müssen Traumatisierungen frühzeitig erkannt werden. Dabei hilft traumapädagogisches Fachwissen.
«Post» heisst nach oder danach. Nach einem Trauma können Belastungen auftauchen. Nicht jeder, der ein Trauma erlebt, entwickelt diese Belastungsstörungen.
Kinder und Jugendliche sind jedoch besonders gefährdet, weil sie weniger Schutzmechanismen haben.
Ob sie Traumafolgestörungen bilden, hängt von vielen Faktoren ab. Je stärker und tragfähiger ihre Umgebung und die Bezugspersonen sind, umso mehr besteht die Chance, dass sie die traumatischen Erlebnisse verarbeiten.
Die PTBS treten ungefähr nach vier Wochen auf. Doch auch Jahre nach dem Trauma ist es ratsam, auf eventuelle PTBS zu achten.
PTBS können wir anhand von bestimmten Symptomen erkennen. Diese werden in drei Kategorien aufgeteilt:
- Vermeidung (Orte, Menschen) und Betäubung (Suchtmittel),
- Dissoziation und Wiedererleben (Alpträume und Flashbacks),
- dauerhafte Übererregung, Anspannung und Schreckhaftigkeit.
Die Symptome wiederum werden im Alltag von bestimmen Reizen, auch Trigger genannt, bei den Betroffenen ausgelöst. Diese Reize können unterschiedlicher Art sein- ein Geruch, ein Bild, eine Geste und anderes.
In grösster, nicht auszuhaltender, existenzieller Bedrohung reagiert der Körper mit einem Notfallprogramm. Die ältere Hirnregion, das «Reptiliengehirn», übernimmt die Führung, der Stresspegel steigt und Flucht- und Kampfreaktionen werden ausgelöst.
Doch manchmal sind diese Abwehrmechanismen nicht möglich, etwa wenn Flucht unmöglich ist und der Kampf aussichtslos ist. Dann reagiert der Körper mit der letzten Möglichkeit: der Erstarrung. In der Literatur hat sich dafür diese Kurzformel durchgesetzt:
- Nicht kämpfen (no fight)
- Nicht fliehen (no flight)
- Erstarren (freeze).
Dabei wird das traumatische Erlebnis im «Reptiliengehirn» gespeichert, was bedeutet, dass andere Gehirnregionen, die für kognitive und emotionale Verarbeitung zuständig sind, keinen Zugriff auf dieses Traumaereignis haben. Die Gefahr besteht, dass es unverarbeitet bliebt und nicht abgeschlossen werden kann.
Auch wird die schlimme Erfahrung meistens nur bruchstückartig abgespeichert. Man spricht davon, dass die Traumaerlebnisse nicht in den Erfahrungsschatz integriert sind. Sie führen, weil nicht willentlich kontrollierbar, ein Eigenleben. Sie rufen Reaktionen hervor, die nicht gesteuert werden können. Diese Traumafolgestörungen, auch posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) genannt, werden folgendermassen definiert:
- Das Erlebnis des Traumas
- Das unwillkürliches Wiedererleben des Traumas (Dissoziation)
- Vermeidungsverhalten und emotionaler Taubheitszustand
- Anhaltende physiologische Übererregung
- Die Symptome dauern länger als einen Monat
(Quelle: U. Beckrath-Wilking, M. Biberacher u.a., 2013).
Standards bieten Stabilität
Was können wir in den sozialen und pädagogischen Einrichtungen tun? Als Fachpersonen können wir für die ankommenden Flüchtlingskinder Standards schaffen, um sie in der neuen Umgebung zu stabilisieren. Hilfreich ist dabei, wenn wir ihnen
- sichere Orte und hilfreiche Strukturen bieten,
- eine zuverlässige Bindung geben,
- durch Psychoedukation (Erklärung) zu einem besseren Verständnis ihrer eigenen Reaktionen verhelfen,
- ihnen alternative Handlungsmöglichkeiten zu ihrem Verhalten aufzeigen.
Davon profitieren nicht nur Flüchtlinge. Traumapädagogik ist auch für in der Schweiz aufgewachsene Kinder und Jugendliche von Bedeutung, die Traumatisierungen erlitten haben.
Fallbeispiel 2
Die Schulsozialarbeiterin Nadia Kadri berichtete mir, wie sie Primarschüler*innen auf die Ankunft von Flüchtlingskindern vorbereitete. Die Kinder wurden ermutigt, die Neuankömmlinge willkommen zu heissen und ins Spiel einzubeziehen. Ein erster Schritt, der zählt. Werden doch die Flüchtlingskinder offen empfangen und finden einen Ort vor, wo sie sich zugehörig fühlen und unbeschwert lernen und mitspielen können.
Grundhaltung als zentraler Faktor
Das Ziel der Traumapädagogik ist, die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu stärken und ihnen zu helfen, mit den Symptomen von Traumafolgestörungen (siehe oben) umzugehen. Dazu braucht es von Seiten der Fachpersonen der Sozialarbeit und Pädagogik eine spezifische Haltung. Traumapädagogik ist eine Haltungspädagogik. Erst mit dieser Grundhaltung werden die Methoden, die wir den Kindern anbieten, wirksam.1 Dabei sind unter anderem folgende Elemente wichtig:
Individuelles Bedürfnis erkennen
Jedes traumatisierte Kind hat seine eigenen Bewältigungsstrategien. Entsprechend sind die Bedürfnisse unterschiedlich gewichtet. Fragen wir danach, was unser Gegenüber braucht. Ruhe? Ablenkung? Freundschaften? Sport? Rückzugsorte?
Beziehung schaffen
Eine junge Frau, die in ihrer Kindheit schwer traumatisiert wurde, erzählte mir, dass die gute Beziehung zu einer Lehrerin für sie heilsam und überlebenswichtig war, obwohl die Lehrerin nichts von ihren Problemen wusste.
Die Welt der innerlich schwer verletzten Kinder und Jugendlichen ist aus den Fugen geraten. Sie brauchen Menschen, die ihnen Orientierung und Sicherheit geben: durch wertschätzendes Verhalten, zuverlässige Erreichbarkeit und klare Regeln.
Subjektlogik - Verhalten verstehen
Traumatisierte haben ihre eigene Logik. Ein Junge, der immer wieder fluchtartig den Klassenraum verlässt, hat seinen Grund. Etwas hat in ihm das Gefühl der Bedrohung aus der Vergangenheit lebendig werden lassen (Trigger). Er erlebt sie in diesem Moment so, als ob sie gerade geschieht. Die Flucht ist für ihn folgerichtig.
Das Wissen um diese Subjektlogik hilft uns, den Betroffenen zugewandt zu bleiben. Wir können ihnen zudem die Logik ihres Verhaltens erklären und mit ihnen neuen Handlungsstrategien entwickeln.
Autonomie unterstützen
Während eines Traumas erleben Kinder und Jugendliche Kontrollverlust und Ohnmacht. Viele entwickeln dadurch ein erhöhtes Kontrollbedürfnis. Diesen Wunsch nach Selbstbestimmtheit gilt es zu fördern. Das heisst zum Beispiel, das Kind in Entscheidungen einzubeziehen und ihm Wahlmöglichkeiten zu geben. Auf Veränderungen und Abweichungen im Alltag sollte es behutsam vorbereitet werden.
Selbstwert fördern
Die Erfahrung der Ohnmacht und des Kontrollverlusts erschüttert ausserdem bei den Betroffenen das Selbstwertgefühl und das Weltbild. Oft stellt sich ein Gefühl der tiefen Scham, der Ausgrenzung und Stigmatisierung ein. In der Interaktion geben wir den Kindern und Jugendlichen Lob, Ermutigung und Vertrauen in ihre Stärken und Ressourcen, um ihre Selbstermächtigung wieder herzustellen.
Hilfreiche Methoden
Es gibt eine Vielzahl an Methoden, die entsprechend des Alters des Kindes, des Settings und der Symptome eingesetzt werden können. In meiner Gruppenarbeit und meinen Primarschulklassen haben sich klare Strukturen und feste Rituale bewährt. Zudem helfen Lieder mit Bewegung, ein bewusster Wechsel zwischen ruhigen, lebendigen und kreativen Tätigkeiten und andere Methoden aus der Pädagogik. Sie dienen dazu, die Kinder im Hier und Jetzt zu halten, sodass sie am Geschehen der Gruppe teilnehmen können. Auch geliebte Stofftiere, Tücher, positiv besetzte Fotos oder sichere Orte helfen einem Kind, wenn es in Gefahr steht, abzudriften.
In meiner Beratung mit Jugendlichen hat sich die Psychoedukation bewährt. Die Jugendlichen lernen zu verstehen, wie alles zusammenhängt. Es ist jedoch dringend abzuraten, sich von dem Traumaereignis berichten zu lassen. Dieses wird in der Therapie bearbeitet.
Oft setze ich Methoden ein, die helfen, Stress abzubauen oder bespreche mit den Jugendlichen Ersatzhandlungen, um Selbstverletzungen zu vermeiden. Die sogenannte Tresorübung hilft Gedankenkreisläufe zu durchbrechen und positive Imaginationsübungen bauen innerlich auf.
Doch es zeigt sich immer wieder, dass die Betroffenen vor allem Ermutigung und eine verständnisvolle Begleitung brauchen, damit sie den Weg in eine Therapie schaffen.
Wer besser versteht, kann besser handeln
Der Artikel möchte über die wichtigsten Punkte zur Traumapädagogik informieren, hat jedoch nur begrenzte Möglichkeiten. Ich lade Sie ein, mit mir ins Gespräch zu kommen und das Thema zu vertiefen.
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Selbstfürsorge beachten
Profis, die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu tun haben, sind Helfer*innen, Bezugspersonen, Zeug*innen, Begleiter*innen, Beobachter*innen und noch vieles mehr. Es braucht eine professionelle Haltung, um selbst psychisch und physisch gesund zu bleiben und nicht auszubrennen.
Dabei hilft zum einen das Bewusstsein, dass unsere Aufgabe Grenzen hat. Wir müssen nicht alles bewältigen. Und wir können nur so viel schaffen, wie der Personalschlüssel und die Ressourcen es hergeben. Zudem ist es entlastend zu wissen, dass die Behandlung und Therapie bei den Fachleuten liegen.
Zum anderen liegen in dem Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Selbstfürsorge auch Entwicklungsmöglichkeiten. Durch den Blick nach Innen können die eigene Resilienz gestärkt und Überbelastungen verhindert werden.
Um die eigenen Grenzen zu erkennen und einzuhalten helfen folgende Fragen:
- Wo liegen meine individuellen Bedürfnisse?
- Was tut mir gut?
- Wo habe ich selbst eine Geschichte, die die Traumatisierungen der Klient*innen berührt?
- Welcher Persönlichkeitstyp bin ich?
Dabei sind auch Führungskräfte und Teamleiter*innen aufgerufen, für ihre Mitarbeitenden und freiwillig Helfenden, die sich für die Flüchtlinge engagieren, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, dass sie vor Burnout und möglicherweise vor Sekundärtraumatisierungen schützt.
Das Werte- und Entwicklungsquadrat nach Schulz von Thun erlaubt es, die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen. Positive Eigenschaften, die in der eigenen Persönlichkeit überbetont sind, können sich nachteilig auswirken. Erst wenn beide „Schwesterntugenden“ zusammenspielen, entfacht sich die gewünschte Wirksamkeit.

1 David Zimmermann, 2017
Beckrath-Wilking, U. et. al. (2013). Traumafachberatung, Traumatherapie & Traumapädagogik: Ein Handbuch zur Psychotraumatologie im beratenden & pädagogischen Kontext. Paderborn: Junfermann.
Huber, M. (2020): Trauma und die Folgen, Trauma und Traumabehandlung, Teil 1. Paderborn: Junfermann.
Schulz von Thun, F. (1989). Miteinander Reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Hamburg: Rowohlt.
Zimmermann, D. (2017). Traumatisierte Kinder und Jugendliche im Unterricht: Ein Praxisleitfaden für Lehrerinnen und Lehrer. Weinheim: Julius Beltz GmbH & Co. KG.
Autor*in

Rosemarie Reintjes
Kommunikationspsychologin und -trainerin
E-Mail: r.reintjes@bluewin.ch

Martin Heiniger
Menschen, die aus Kriegsgebieten flüchten und bei uns ankommen, ist selten anzusehen, welche schrecklichen und traumatisierenden Erfahrungen sie durchgemacht haben. Im Asyl finden sie zwar Schutz vor äusseren Bedrohungen, die Traumata aber wirken fort.
Kinder und Jugendliche sind besonders schwer betroffen, da sie vulnerabler sind als Erwachsene und sich selbst weniger gut schützen können. Dies muss im sozialarbeiterischen und pädagogischen Umgang mit ihnen unbedingt berücksichtigt werden.
Um Traumatisierungen frühzeitig zu erkennen und damit adäquat umgehen zu können, ist es für Fachpersonen sehr hilfreich, über traumapädagogisches Wissen zu verfügen. Im aktuellen Gastbeitrag gibt die Sozialpädagogin Rosemarie Reintjes Einblick in die wichtigsten traumapädagogischen Grundlagen.