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Sterbehilfe hinter Gittern

12.10.2020 - 3 Min. Lesezeit

Straf- / Massnahmenvollzug
Portrait von Martin Heiniger

Martin Heiniger

Fachredaktion Sozialinfo

Bei der Frage nach selbstbestimmtem Sterben im Gefängnis müssen Grundrechte und situative Gegebenheiten sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Ein Grundlagenpapier des Schweizerischen Kompetenzzentrums für den Justizvollzug (SKJV) bietet betroffenen Behörden eine Orientierungshilfe.

Suizidhilfe im Gefängnis - ein neueres Bedürfnis

Vor rund zwei Jahren äusserte ein älterer verwahrter Sexualstraftäter in einer Fernsehsendung seinen Wunsch zu sterben. Dieser Fall gab den Anstoss zu einer Diskussion über die Selbstbestimmungsrechte von Menschen im Freiheitsentzug. Soll die Gesellschaft Gefangenen ein Recht auf Sterbehilfe bzw. assistierten Suizid zugestehen? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen?

Zu den Hintergründen dieses Themas gehört, dass sich die altersmässige Zusammensetzung der Strafgefangenen in den letzten Jahren verändert hat. Gefängnisse sind grundsätzlich auf jüngere Straftäter*innen ausgelegt. Nun sind sie damit konfrontiert, dass ihre Insass*innen immer älter werden und ein zunehmender Anteil über 60 Jahre alt ist. Dies wirft etliche Fragen auf, etwa Bezug auf Pflegemöglichkeiten, oder eben auf ein würdiges Sterben (siehe Kasten). Dazu gehört auch die Frage des assistierten Suizids.

Alterung wirkt sich auch im Strafvollzug aus

Behörden und Forschende beobachten schon länger, dass sich die gesellschaftliche Alterung im Strafvollzug nicht nur abbildet, sondern sogar überproportional bemerkbar macht. Nicht zuletzt liegt das auch an einer restriktiveren Verwahrungspraxis, die zu einer steigenden Zahl Verwahrter geführt hat. In diesem Kontext stellen sich Fragen nach dem Sterben im Freiheitsentzug mit zunehmender Dringlichkeit. Die Vollzugsbehörden setzen sich erst seit kürzerer Zeit näher damit auseinander, was das für Vollzugsanstalten, Einrichtungen und Personal bedeutet (siehe Beiträge unter "Alter und Sterben im Strafvollzug").

Kantone im Grundsatz einig

Aufgrund des erwähnten Falles hat sich die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) des Themas Sterbehilfe angenommen. KKJPD-Präsident Urs Hofmann äusserte gegenüber SRF, die „Kantone seien zum Konsens gekommen, den assistierten Suizid im Freiheitsentzug zu ermöglichen.“ Dies entspreche dem „Grundsatz, dass die Freiheit der Gefangenen nicht weiter eingeschränkt werden soll, als dies aufgrund des Strafvollzuges notwendig ist.“

Bei der Umsetzung gibt es jedoch Klärungsbedarf. Erster und wohl heikelster Punkt ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen Strafgefangene überhaupt ein Recht auf Suizid bzw. auf Suizidhilfe in Anspruch nehmen dürfen. Obwohl sie sich im Grundsatz einig sind, gibt es zwischen den Kantonen in Bezug auf diese Frage unterschiedliche Haltungen. Muss jemand todkrank sein oder soll auch eine psychische Erkrankung schon ein hinreichender Grund sein? Und inwieweit soll etwa toleriert werden, dass Straftäter*innen durch Suizid ihrer Strafe entgehen können?

Legalität der Sterbehilfe

Unter dem Begriff „Sterbehilfe“ werden verschiedene Sachverhalte subsumiert. Nicht alle sind legal. So ist etwa direkte aktive Sterbehilfe strafbar. Suizidhilfe – auch „assistierter Suizid“ -  ist unter bestimmten Umständen erlaubt. Einen Überblick zum Thema bietet das Bundesamt für Justiz.

SKJV bietet Orientierung

Um solche Fragen zu klären, hat das SKJV nun eine Orientierungshilfe sowie ein Grundlagenpapier veröffentlicht, das die Vollzugsbehörden bei der Klärung dieser Frage unterstützen soll. Für Thomas Noll und Thierry Urwyler, Mitverfasser des Grundlagenpapiers, ist klar: Es ist „irrelevant, ob der Gefangene wegen Haftmüdigkeit, schwerer körperlicher Erkrankung oder sonstiger Gründe sterben möchte. Jede andere Position kommt einer Entmündigung der inhaftierten Personen gleich. Die grundsätzliche Zulässigkeit heisst aber nicht, dass alle Inhaftierten zu jedem Zeitpunkt dieses Recht anrufen können.“ Vielmehr müsse die Zulassung an strikte Verfahrensbedingungen geknüpft werden und die Urteilsfähigkeit der inhaftierten Person in jedem Einzelfall genau geprüft werden.

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Jemand, der eingesperrt wird, soll in der Regel nicht nur bestraft, sondern auch resozialisiert werden. Die Person soll sich bessern und eine zweite Chance erhalten, um in der Gesellschaft zu bestehen und ein ehrliches Leben führen zu können. Soweit das Alltagsverständnis.

In der Praxis wird jedoch zum einen der Anteil älterer Inhaftierter immer grösser. Die Idee einer „Nacherziehung“ ist bei Menschen über 50 Jahren nicht mehr unbedingt angebracht. Zum anderen steigt die Zahl Verwahrter. Darin spiegeln sich veränderte gesellschaftliche Wertsetzungen, wie sie beispielsweise in der Annahme der Verwahrungsinitiative zum Ausdruck gekommen sind.

Für eine wachsende Gruppe Gefangener bedeutet dies, im Gefängnis alt zu werden und zu sterben. Dass für manche Betroffenen Suizidhilfe eine Option ist, entspricht dem allgemeinen Trend, dass vermehrt Sterbehilfe in Anspruch genommen wird.

Dies soll auch hinter Gittern in Würde geschehen können. Es ist deshalb sehr begrüssenswert, dass sich die Vollzugsbehörden dieses Themas angenommen haben.