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Stärke der Sozialen Arbeit in Krisen – der Ukrainekrieg

09.08.2022 - 4 Min. Lesezeit

Andere
Migrationsarbeit

Maria Bernadetta Jastrzebska

B. A. Soziologie, Studierende Sozialer Arbeit, Masterstudium an der HSA FHNW, Olten

Im Rahmen des «Notfallmoduls Ukraine» an der FHNW reflektiert die Masterstudierende Maria Bernadetta Jastrzebska ihr freiwilliges Engagement für die Bewältigung der humanitären Katastrophe nach der Kriegseskalation in der Ukraine. Dabei stellt sie fest, dass ihre Profession über das Know-how verfügt, den sozialen Missständen entgegenzuwirken und ist der Ansicht, dass Soziale Arbeit politisch effektiver werden sollte.

Internationale (Nachbarschafts-)Hilfe

Nach der Eskalation des russisch-ukrainischen Krieges am 24. Februar 2022, wollte ich einen Beitrag zur Bewältigung der daraus resultierenden humanitären Katastrophe leisten. Viele Organisationen suchten nach Fachkräften, um die ukrainischen Flüchtlinge in der Schweiz aufzunehmen. Ich hatte keine Kapazitäten für eine zusätzliche Anstellung. Mein Nachbar hatte jedoch die Idee, einen Spendenanlass für Freunde und Familie in unserem Quartier durchzuführen, um die Geflüchteten zu unterstützen. Mein Mann schlug vor, die Kontakte in unserem Herkunftsland zu nutzen. Auf diese Weise begannen wir mit ein paar Quartierbewohner*innen, den ukrainischen Asylsuchenden in Polen zu helfen, wohin viele von ihnen geflüchtet sind.

Humanitäre Katastrophe – Definition

Eine ernsthafte Störung des Funktionierens einer Gemeinschaft oder einer Gesellschaft jeglicher Grössenordnung aufgrund von gefährlichen Ereignissen, die mit Expositionsbedingungen, Anfälligkeit und Kapazität interagieren und zu einer oder mehreren der folgenden Konsequenzen führen: menschliche, materielle, wirtschaftliche und ökologische Verluste und Auswirkungen.» Quelle: UNDRR

Soziale Arbeit in Krisen: der Staat, die NPOs und die Freiwilligen

In Polen registrierten sich bisher knapp 1.2 Millionen ukrainische Flüchtende. Sie haben die Sozialversicherungsnummer PESEL erhalten, die sie u. a. zur Arbeit und Sozialhilfeleistungen berechtigt. In der Schweiz haben sich bis Mitte Juli knapp 57’000 ukrainische Geflüchtete registriert. Sie haben den Schutzstatus-S erhalten (u.a. kein Asylverfahren nötig, Anspruch auf Sozialhilfe und Berechtigung zur Arbeit sind gewährt). Aus Berichten von Bekannten wissen wir, dass Sozialarbeitende in beiden Ländern in Folge der Katastrophe in der Ukraine unter hohem Arbeitsdruck stehen. Wir haben von Überlastung der Organisationen und Angestellten gehört. Deshalb setzen wir dort an, wo dem Staat oder grossen Hilfswerken die Kapazität fehlt, um, obwohl eingeschränkt, zielsicher zu helfen.

Mit dem gesammelten Geld haben wir bisher zwei Familien unterstützt, die aufgrund der gesundheitlichen Situation ihrer Mitglieder nicht in den polnischen kollektiven Unterkünften untergebracht werden konnten. Dank den Spenden und der Vernetzung vor Ort haben wir ihnen geholfen, Wohnungen und Arbeit zu finden. Eine Familie ist aktuell vollumfänglich selbständig. Für eine pensionierte, an Krebs leidende Person aus der zweiten Familie suchen wir noch nach einer Lösung. Gleichzeitig dauert die humanitäre Katastrophe in der Ukraine weiter an. Zudem bestehen andere Krisengebiete, wo Menschen Hilfe benötigen. Wir haben deswegen im Juli einen gemeinnützigen Verein gegründet, um dauerhaft tätig sein zu können.

Wenn der Staat nicht mehr kann, sind die punktuellen Initiativen der Zivilgesellschaft eine wichtige Ressourcenquelle. Polnische Bürger*innen haben z.B. Lebensmittel und Kleider an die Grenze zur Ukraine gebracht. Viele Menschen, ebenfalls in der Schweiz, offerierten ihre eigenen Wohnungen, um die Flüchtenden zu beherbergen.

Die andere Seite der Medaille ist, dass die Gaben in Polen mancherorts unkoordiniert verteilt wurden und deshalb teilweise auf dem Boden liegen blieben und im Regen verrotteten, wie eine mir bekannte Sozialarbeiterin berichtete. Zudem ist eine gewisse Ermüdung spürbar. Als wir im April 2022 eine Wohnung für eine ukrainische Familie mit onkologisch zu behandelndem Kind suchten, waren die Vermieter*innen nicht mehr gleich solidarisch, wie am Anfang der Kriegseskalation. Da das Ausmass der Not für die Freiwilligen nicht zu bewältigen war, wussten sie nicht, wie weiter. Dabei kann m.E. das Know-how Sozialer Arbeit helfen.

Der Stellenwert der Sozialen Arbeit in Krisen

Sozialarbeitende verfügen nach Lena Dominelli, The British Association of Social Workers (BASW) und The Directors of Adult Social Sevices (ADASS) über das nötige Wissen und Kernkompetenzen, um die Aktivitäten verschiedener in der Krise agierender Akteure zu koordinieren und die Ressourcen dort bereitzustellen, wo sie von Nutzen sind.

Den präzisen, möglichst direkten, adäquat koordinierten Einsatz der gespendeten finanziellen Mittel haben wir als Ziel unserer kleinen Non-Profit-Organisation (NPO) gesetzt. Wir informieren uns darüber, was der Staat oder lokale Freiwilligen anbieten, bestimmen tunlichst mit den von uns unterstützten Menschen zusammen, was sie benötigen, um sich in der neuen Umgebung auf eigene Faust zurechtzufinden. Das sozialarbeiterische Fachwissen (z.B. zur Lebensweltorientierung, Sozialraumorientierung oder zum Empowerment), gute Vernetzung an beiden Orten sowie Koordinationskompetenzen erlauben uns, effiziente und nachhaltige Hilfe zu leisten.

Ein Blick auf die normative Ebene

Was uns bei unserer Aktivität belastet und zu Überlegungen über Gerechtigkeit veranlasst, ist die unterschiedliche Behandlung von Geflüchteten aufgrund ihrer Herkunft in der Schweiz und in Polen. Die ukrainischen Geflüchteten dürfen in beiden Ländern sofort arbeiten oder ihre Familien nachziehen lassen, wenn sie sich registrieren. Gemäss Schweizerischer Flüchtlingshilfe müssen Asylsuchende anderer Abstammung hierzulande oft lange auf derartige Berechtigungen warten. Der polnische Staat weist laut Amnesty International seit Juli 2021 Geflüchtete aus dem Nahen Osten an der weissrussisch-polnischen Grenze rechtswidrig nach Weissrussland zurück und versagt ihnen die nötige humanitäre Hilfe. Es soll meiner auf dem Berufskodex von AvenirSocial gestützten Ansicht nach nach anderen, migrationspolitischen Lösungen in beiden Ländern gesucht werden.

Fazit

Zwei Reflexionen aus meinem Studium und meiner Tätigkeit in den letzten Monaten sehe ich als für die Profession der Sozialen Arbeit von Bedeutung an.

Erstens sind die Initiativen der Zivilgesellschaft und NPOs eine relevante Ergänzung des Sozialstaates während sozialer Krisen. Das professionelle Wissen Sozialer Arbeit und die lokale bzw. internationale Vernetzung erlauben es, nachhaltige Hilfe zu leisten. In Zeiten einer humanitären Katastrophe sind die Sozialarbeitenden folglich sowohl für die staatlichen Organisationen als auch für die NPOs und spontanen Freiwilligen wichtige Fachkräfte.

Zweitens komme ich zum Schluss, dass Soziale Arbeit als Profession und Disziplin die sozialen (in Krisen noch ersichtlicheren) Ungerechtigkeiten anprangern und zu deren Behebung (wie z.B. die Schweizerische Flüchtlingshilfe) kräftiger beitragen kann. Die international und national in Berufsverbänden vernetzten Professionellen müssen dafür jedoch politisch effektiver werden.

Autor*in

Portrait von Martin Heiniger

Martin Heiniger

In Krisen ist die Soziale Arbeit eine besonders wichtige Akteurin. Durch ihre fachlichen Kompetenzen und ihre Fähigkeit, in komplexen Situationen zielgerichtet zu handeln, kann sie zur Abwendung oder Linderung von humanitärem Schaden Wichtiges beitragen.

Dies gilt auch für die gegenwärtige, durch den Ukraine-Krieg ausgelöste humanitäre Krise, wie unser aktueller Gastbeitrag von Maria Bernadetta Jastrzebska zeigt. Die Masterstudierende an der Fachhochschule Nordwestschweiz hat eine NPO gegründet, um Menschen zu unterstützen, die aus der Ukraine nach Polen geflüchtet sind.

Der Beitrag entstand im Rahmen des «Notfallmoduls Ukraine» an der FHNW. Sozialinfo gibt Teilnehmenden des Moduls die Gelegenheit, ihre Erfahrungen im Rahmen eines Gastbeitrags zu reflektieren und mit der sozialarbeiterischen Community zu teilen.