Es gibt kaum ein Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit, in dem man nicht mit sozialrechtlichen Fragen konfrontiert ist. Sozialrechtliche Normen sind vielfältig und komplex und bieten Praktiker*innen erhebliche Herausforderungen. Um Fachpersonen in juristischen Belangen künftig noch besser zu unterstützen, baut sozialinfo.ch das Kompetenzfeld «Sozialrecht» auf.
Rechtlicher Rahmen des Handelns in der Sozialen Arbeit
Fachpersonen im Sozial- und Gesundheitswesen haben in vielfältiger Weise mit Sozialrecht zu tun. Viele nutzen es zur Erschliessung und Sicherung von Ansprüchen von Klient*innen und Adressat*innen: Als Mitarbeitende von Beratungsstellen für diverse Zielgruppen, in psychiatrischen Einrichtungen, in Heimen, in Gesundheitseinrichtungen, in der betrieblichen Sozialberatung, in Angeboten der Arbeitsintegration, im Straf- und Massnahmenvollzug oder in ambulanten Betreuungsangeboten.
In einigen Bereichen wenden sie es in ihrer beruflichen Rolle an, etwa als Mitarbeitende im Bereich der Sozialhilfe, des Kindes- und Erwachsenenschutzes oder der Sozialversicherungen.
Sozialrecht bietet zudem einen generellen Handlungsrahmen für Fachpersonen des Sozial- und Gesundheitswesens: Zur Finanzierung von Angeboten, für die Regelung von Rechten und Pflichten der Klient*innen und Adressat*innen. Aber auch für die Tätigkeit der Fachpersonen selber, wie etwa bezüglich Persönlichkeitsschutz-, Datenschutz- und Haftpflichtfragen oder arbeitsrechtlichen Belangen.
Eine komplexe Materie aus vielen Quellen
Aufgrund der Vielfalt und der Verwobenheit der rechtlichen Normen ist es für Fachpersonen der Sozialen Arbeit eine grosse Herausforderung, diese adäquat auf die häufig anspruchsvollen Rechtsfragen anzuwenden, die sich aus den Lebenssituationen der Adressat*innen ergeben.
Dabei kann schon das Auffinden der richtigen Regeln eine grosse Hürde sein: Im vielgliedrigen Rechtssystem spielen nicht selten Bundesrecht, kantonales Recht und kommunale Normen zusammen. Manchmal müssen darüber hinaus sogar internationalrechtliche Normen berücksichtigt werden. Und: Zu unzähligen Regeln in verschiedensten Gesetzen des öffentlichen Rechts kommen wichtige privatrechtlichen Normen hinzu, die dann mit ersteren zusammenspielen.
Als Quelle wichtiger Regeln dienen Gesetze, Konkordate und Abkommen. Zusätzlich sind häufig Verordnungen, Kreisschreiben, Weisungen, Rundschreiben, Verträge, Reglemente, allgemeine Geschäftsbedingungen oder Handbücher zu berücksichtigen, deren Bedeutung und Verhältnis zueinander erwogen werden muss.
Ohne Auslegung keine Anwendung
Ganz abgesehen davon ist vieles interpretationsbedürftig, bzw. auslegungsbedürftig, wie Jurist*innen sagen. Zudem bestehen Regeln wie etwa “Kann-Bestimmungen”, die bewusst so formuliert sind, dass die Rechtsanwendenden einen Ermessensspielraum in der Anwendung erhalten. Beim juristischen Handwerk der Auslegung und des Umganges mit Ermessensspielräumen ist die jeweilige Rechtsprechung (die so genannte “Praxis”) besonders zu beachten.
Das alles gilt nicht nur für diejenigen Regeln, die über Rechte und Pflichten Betroffener Auskunft geben. Genauso wichtig sind für die Praxis die Regeln des Verfahrens und der Organisation. Sie legen fest, wer zuständig ist, wie ein Sachverhalt abgeklärt werden muss, welche Belege nötig sind und wie diese gewürdigt werden - und schliesslich wer das Recht wie anwendet. Nur so kann dann die Anwendung der Regeln auf die konkrete Situation, die so genannte Subsumtion, gelingen.
Weil die vielen Normen in ihrem Zusammenspiel oft zu kompliziert sind, um sie unmittelbar anwenden zu können, ist heute eine Vielzahl von Übersichten, Kurzdarstellungen und Merkblätter verfügbar. Und für fortgeschrittene Nutzer*innen - dazu gehören auch Fachpersonen der Sozialen Arbeit mit entsprechenden Funktionen - gibt es Lehrbücher, Kommentare und online-Tools, welche den Zugang ermöglichen sollen. Sie dienen sozusagen als Schlüssel.
Vor lauter Details geht manchmal der Blick auf das grosse Ganze verloren. Etwa wenn die Auslegung der Normen besonders anspruchsvoll ist. Oder wenn eine Regelung für die Anwendung Ermessensspielraum einräumt. In diesen Fällen ist die Orientierung an den Zielen (am Sinn und Zweck) und an den Grundsätzen des Rechts zentral (siehe folgende Infobox).
All dies gilt für die gesamte Rechtsordnung, auch für diejenigen Normen, die für die Fachpersonen im Sozial- und Gesundheitswesen von besonderer Bedeutung sind. Und dazu gehört insbesondere auch das so genannte Sozialrecht.
Grundsätze für Arbeit mit rechtlichen Regeln
- Die Orientierung an Sinn und Zweck der entsprechenden Norm
- Die Wahrung der Grundrechte, namentlich der Freiheitsrechte und der Rechtsgleichheit
- Die Beachtung der Zuständigkeitsregeln, der Verfahrensfairness, des Datenschutzes und des rechtlichen Gehörs
- Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zur Koordination von öffentlichen Interessen und privaten Schutz- oder Freiheitsinteressen
Merkmale des Sozialrechts
Es besteht keine gesetzliche Definition des Begriffs «Sozialrecht». In der Rechtslehre wird als Kriterium auf den Sinn und Zweck eines Gesetzes oder einer Norm Bezug genommen. Immer dort, wo Regeln (primär) einem bestimmten sozialen Zweck dienen, handelt es sich um Sozialrecht.
amit sind wir bei der Frage, was denn soziale Zwecksetzungen sein können. Diese können unterschiedlich sein:
- Es kann um den Schutz einer Person bei besonderen Schwächesituationen gehen, wie etwa im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht oder im Asylrecht.
- Es kann darüber hinaus um Ansprüche bei bestimmten Bedarfssituationen oder beim Eintritt von sozialen Risiken gehen wie beim Sozialversicherungsrecht, der Sozialhilfe oder bei anderen Bedarfsleistungen, etwa Opferhilfe, Alimentenbevorschussungen, Stipendien. Hinzu kommen weitere kantonale und kommunale Leistungen, sei es über Kostengutsprachen oder über die direkte Finanzierung der Angebote, etwa für die Bildung, die Gesundheitsprävention und -versorgung, Kinderbetreuung und -hilfe, die Jugend- und Familienhilfe, die Arbeitsintegration, die Behinderten- und Altenhilfe.
- Auch Regeln, welche die Stellung der typischerweise schwächeren Partei im Privatrecht stärken (sollen), gehören zum Sozialrecht: Solche Normen finden sich im Familienrecht (Unterhalt etc.), im Arbeitsrecht, im Mietrecht, in Versicherungsvertragsgesetz, im Konsumkreditgesetz, und in vielen anderen Regeln des ZGB und des OR.
- Zunehmend haben auch Regeln, welche Ziele der Gleichheit verfolgen, sozialrechtlichen Bezug: hierzu gehören die Gleichheit von Frau und Mann, die Behindertengleichstellung oder auch Regeln des so genannten Nachteilsausgleichs, etwa im Bildungswesen; in einem weiteren Sinne aber auch Regeln des Steuerrechts oder des Beitragsrechts der Sozialversicherungen (so vor allem bei den AHV/IV/EO-Beiträgen), welche (auch) einen Ausgleich, etwa zwischen arm und reich bezwecken.
All diese Normen sind vielfältig, komplex, selten gar widersprüchlich. Sie sind historisch entstanden und in ständiger Entwicklung. So sind auch per 1.1.2023 wichtige Neuerungen in Kraft getreten (siehe Info-Box unten).
Beispiele für sozialrechtliche Normen
- Normen, die Personen in besonderen Schwäche- und Bedarfssituationen schützen wollen; Beispiel: Kindes- und Erwachsenenschutzrecht.
- Normen, die Ansprüche bei bestimmten Bedarfssituationen oder beim Eintritt von sozialen Risiken vermitteln; Beispiel: Sozialversicherungen und Sozialhilfe.
- Normen, welche die Stellung der typischerweise schwächeren Vertragspartei stärken wollen; Beispiel: Arbeitnehmer*innen- und Mieter*innenschutznormen.
- Normen, die Ziele der Gleichberechtigung und Gleichheit verfolgen; Beispiel Behindertengleichstellungsgesetz.
Bewährte und neue sozialrechtliche Dienstleistungen bei Sozialinfo
Um Fachpersonen in ihrem Praxisalltag juristisch zu unterstützen, bietet Sozialinfo zu besonders wichtigen Teilen des Sozialrechts Rat von ausgewiesenen Expert*innen. Die bewährte Rechtsberatung umfasst die sechs Bereiche Arbeitsrecht, Datenschutz/Persönlichkeitsschutz/Haftung, Schuldenberatung, Sozialhilfe, Sozialversicherungsrecht und Kindes- und Erwachsenenschutzrecht. Neu kann diese Dienstleistung auch von Nichtmitgliedern genutzt werden.
Zusätzlich stellen wir künftig noch mehr wichtiges sozialrechtliches Grundwissen zur Verfügung. Dazu gehören zum einen redaktionelle Beiträge zu wichtigen Themen und aktuellen Entwicklungen des Sozialrechts, wie etwa Gesetzesreformen und Gerichtsentscheiden. Zum anderen Übersichten über die wichtigsten Rechtsquellen und -zugänge und weitere Hilfen für die Praxis der Fachpersonen Sozialer Arbeit.
Wichtige Gesetzesänderungen per 2023
Für die Sozialberatung besonders wichtige Gesetzesänderungen per 2023 im Bereich der Sozialversicherungen:
- Die AHV- und IV-Renten von Personen mit voller Beitragsdauer steigen um 30-60 CHF; also um 2.5%.
- Damit zusammenhängend ändern sich eine Vielzahl von Ansätzen und Masszahlen in den Sozialversicherungen: Etwa im AHV-Beitragsrecht der Mindestbetrag, in der EL der Grundbetrag für das Existenzminimum, für die Familienzulagen, die IV und die EO die Höhe der Taggelder, in der AHV und der IV die Ansätze der Hilflosenentschädigungen, im BVG die Eintrittsschwelle und der Koordinationsabzug usw.
- Im Bereich der Unfallversicherung werden Vereine des Breitensports von der gesetzlichen Versicherungspflicht befreit. Rentner*innen, die eine UVG-Rente erhalten, bekommen einen Teuerungsausgleich.
- Im Bereich der Arbeitslosenversicherung fällt die Beitragspflicht (Solidaritätsprozent) auf Löhnen über CHF 148200 weg.
- Im Bereich der EO werden die bereits bestehenden Mutterschafts-, Vaterschafts- und Betreuungsentschädigungen ergänzt um eine Adoptionsentschädigung.
- Wichtig auch die Änderungen im Erbrecht. So für die Praxis der Sozialen Arbeit, wo Treuhanddienste, Vorsorge- und Erbschaftsplanung dazu gehören wie bei vielen Beistandschaften. Dabei werden unter anderem die Möglichkeiten der freien Verfügbarkeit für Erblasser*innen erweitert.
Quellen:
CHSS: Sozialversicherungen: Was ändert sich 2023?
SRF: Diese Gesetze und Regeln ändern sich 2023
Bundesrat: Revidiertes Erbrecht tritt am 1. Januar 2023 in Kraft
Beobachter: Das ändert sich 2023
Autor*in

Peter Mösch Payot
Co-Präsident und verantwortlicher Experte Rechtsberatung
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