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Selbsthilfe, Unterstützung und Information – die Sui SRK App für Geflüchtete

26.06.2025 - 7 Min. Lesezeit

Migrationsarbeit
Portrait von Martin Heiniger

Martin Heiniger

Fachredaktion | Sozialinfo

Eine junge, lächelnde Frau zeigt ihr Handy.

Mit einer App trägt das Schweizerische Rote Kreuz dazu bei, eine Angebotslücke zu schliessen. Geflüchtete erhalten so einen niederschwelligen Zugang zu wichtigen Unterstützungsangeboten. Bei der Entwicklung hat das SRK auf Partizipation der Zielgruppe und technische Kooperation gesetzt.

In der Schweiz suchen Geflüchtete aus Ländern wie Syrien, Afghanistan, Türkei oder der Ukraine Schutz und Zuflucht. Damit sie sich hier zurechtfinden, benötigen sie Informationen, etwa zu Themen wie Asylverfahren, Wohnungs- oder Arbeitssuche. Gleichzeitig sind sie durch das Erlebte psychisch belastet und brauchen Unterstützung, um den Alltag zu bewältigen. Um den Betroffenen hierbei Hilfe zu leisten, hat das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) 2020 ein Projekt gestartet, aus dem nun eine App in fünf Sprachen entstanden ist. Die Sui SRK App bietet niederschwellig sowohl Orientierungshilfen, als auch psychosoziale Unterstützung.

Sui SRK App

Die Sui SRK App bietet Geflüchteten Informationen und psychosoziale Unterstützung an.

Nebst dem Wert, den die App für Betroffene und für Personen hat, die beruflich oder als Freiwillige mit Geflüchteten arbeiten, ist auch die Art und Weise spannend, wie die App entstand. Die Verantwortlichen beim SRK haben sich für einen interdisziplinären, kooperativen und partizipativen Prozess entschieden. Ihre Erfahrungen können auch für andere Projekte von Interesse sein. Im Gespräch geben Projektleiterin Viktoria Zöllner und die Begleitperson der ukrainischen Projektgruppe, Lilya Kovalenko1, Einblick in die Ziele, Hürden und Gelingensfaktoren dieses Projektes.

Portrait von Viktoria Zöllner

Viktoria Zöllner

Projektleiterin beim SRK für die Entwicklung der Sui SRK App

Schweizerisches Rotes Kreuz SRK

Symbol eines Portraits

Lilya Kovalenko

Mandat als Begleit- bzw. Schlüsselperson der ukrainischen Zielgruppe

Schweizerisches Rotes Kreuz SRK

Sozialinfo: Welche Lücke füllt die App?

Lilya: Aufgrund des Bürgerkriegs in Syrien und später des Kriegs in der Ukraine kamen in kurzer Zeit viele Flüchtende in der Schweiz an. Darauf war niemand vorbereitet und die Menschen stiessen mit ihrem Bedürfnis nach Informationen und Orientierungsmöglichkeiten auf strukturelle Hürden. Die Sui SRK App soll helfen, diese zu überwinden und den Menschen einen niederschwelligen Zugang zur benötigten Unterstützung bieten.

Viktoria: Geflüchtete leiden häufig unter Schlafstörungen, chronischen Schmerzen, depressiven Störungen und hohem Stress. Diese psychischen Belastungen wirken sich auf unterschiedliche Weise auf die Alltagsbewältigung aus. Sie erschweren es Betroffenen etwa, die Sprache zu lernen, einer Arbeit nachzugehen oder sich hier zurechtzufinden. Mit der App wollen wir Orientierung, aber auch Hilfe zur Selbsthilfe zur psychischen Gesundheit und sozialen Teilhabe anbieten.

Lilya: Natürlich ist die Sui SRK App kein Ersatz für eine psychotherapeutische Unterstützung. Allerdings ist der Zugang dazu sehr kompliziert und es gibt lange Wartezeiten. Mit Übungen, Tipps und Informationen zu psychosozialen Themen bietet die App eine Zwischenlösung.

Was hat euch dazu bewogen, diese Unterstützung in Form einer App anzubieten?

Viktoria: Eine App bietet einen niederschwelligen Zugang, da man sie zeit- und ortsunabhängig nutzen kann. Wir haben die App als eine kostenlose, zentrale Plattform konzipiert, wo man relevante Informationen an einem Ort gebündelt auffindet. Gleichzeitig verlinken bzw. triagieren wir auf andere, bereits bestehende Angebote, die Betroffenen in ihrem Kanton zur Verfügung stehen. Wir sehen uns als Eingangstor im Angebots-Puzzle für Geflüchtete und hoffen, dadurch Menschen zu unterstützen, sich auch mit stigmatisierten Themen wie psychischer Gesundheit auseinandersetzen zu können.

Lilya: Am Anfang verstehen viele Geflüchtete noch keine Landessprache der Schweiz. Mit den Informationen in verschiedenen Sprachen überwinden wir diese Sprachbarriere. Die App hat ausserdem eine Chatfunktion, mit der Betroffene mit Begleitpersonen in ihrer eigenen Sprache kommunizieren können.

« Nebst der Augenhöhe mit den Betroffenen war uns eine grosse Diversität wichtig. Das hat uns geholfen, die App auf ganz unterschiedliche Bedürfnisse auszurichten. »

Symbol eines Portraits

Lilya Kovalenko

Die App wurde in einem partizipativen Prozess gemeinsam mit Betroffenen entwickelt.

Lilya: Das ist richtig. Da die Betroffenen ihre Bedürfnisse selbst am besten kennen, haben wir die App nicht nur für, sondern auch mit der Zielgruppe entwickelt. Nebst der Augenhöhe mit den Betroffenen war uns eine grosse Diversität wichtig. So begleitete ich für die Entwicklung der ukrainischen Version der App eine Fokusgruppe mit 10 russisch- und ukrainischsprachigen Personen zwischen 20 und 56 Jahren, mit unterschiedlichen Bildungsniveaus, beruflichen Hintergründen und digitalen Skills. Dabei zeigte sich, dass je nach Person andere Inhalte im Vordergrund stehen. Das hat uns geholfen, die App auf ganz unterschiedliche Bedürfnisse auszurichten.

Viktoria: Dabei war von Anfang an Teil des Projektauftrags, die App evidenzbasiert und gleichzeitig kultursensibel zu entwickeln. Das heisst, dass wir nicht nur die Sprache, sondern auch die Inhalte für jede Sprachgruppe angepasst haben. Dazu haben wir mit jeder Sprachgruppe einen eigenen Entwicklungs- und Anpassungsprozess durchgeführt. Das war aufwändig, angefangen bei der Rekrutierung, und dann auch bei der Zusammenarbeit mit den einzelnen Fokusgruppen.

Lilya: Die Fokusgruppen haben sich sehr bewährt. Die beteiligten Menschen waren sehr dankbar, dass sie nicht nur mitarbeiten, sondern auch mitentscheiden und sich zugunsten anderer Geflüchteter, die nach ihnen in die Schweiz kommen, einbringen durften. Das gibt den Menschen ein Gefühl der Selbstwirksamkeit.

Viktoria: Mit allen Personen in den verschiedenen Fokusgruppen, mit den wir teilweise während Monaten zusammenarbeiteten, sowie den Testpersonen, waren knapp 200 Geflüchtete involviert. Gleichzeitig haben wir Fachpersonen aus der Sozialen Arbeit, Psychologie und Psychotherapie einbezogen. Dadurch konnten wir sehr viel Wissen aufbauen und in das Angebot einbinden.

Welche kulturspezifischen Unterschiede haben sich gezeigt?

Lilya: Die Gruppen haben grundsätzlich ähnliche Bedürfnisse und unterscheiden sich nur in Details. So ist etwa das Thema psychische Belastung in manchen Kulturen stärker stigmatisiert als in anderen. Darauf haben wir bei den Formulierungen Rücksicht genommen.

Viktoria: Diese Details sind für eine breite Akzeptanz des Angebots wichtig, genauso dass die Gruppen durch Personen wie Lilya begleitet wurden, die denselben kulturellen Hintergrund haben. Ihnen übergaben wir als Entscheidungsträgerinnen vom ersten Entwicklungszyklus an auch für grundlegende Aspekte des Angebots sehr viel Verantwortung. Zudem haben in allen Sprachgruppen Menschen die Möglichkeit, ihre eigenen Geschichten und Erfahrungen als Testimonials in Form von Videos mit anderen zu teilen. Das sind alles Komponenten von kultursensibler Anpassung.

« Es gehört zur DNA dieses Projektes, Geflüchtete einzubeziehen und die App kultursensibel zu entwickeln. »

Portrait von Viktoria Zöllner

Viktoria Zöllner

Was hat euch am meisten herausgefordert?

Viktoria: Man darf die Komplexität der kultursensiblen Anpassung nicht unterschätzen. So hat etwa die arabischsprachige Übersetzung viel mehr Zeit in Anspruch genommen, bis die beteiligten Menschen aus den unterschiedlichen arabischsprachigen Ländern bei spezifischen Wörtern einen Konsens gefunden haben. Im Vergleich dazu ist eine französische oder englische Übersetzung viel schneller von der Hand gegangen; hier war es deutlich einfacher, die verschiedenen Sichtweisen abzustimmen. Der Aufwand hat sich aber aus unserer Perspektive sehr gelohnt.

Lilya: In meiner Gruppe machte ich die Erfahrung, dass es eine gute Teambildung und Prozesssteuerung braucht, etwa damit alle zum Zug kommen. Es gab grosse Unterschiede, etwa in Bezug auf die digitalen Skills, Lesegeschwindigkeit etc. Damit sich alle gleichberechtigt in die Gruppe einbringen und einigen konnten, benötigte es vor allem von den Leitenden hohe emotionale und soziale Intelligenz.

Viktoria: Ein solch intensiver Partizipationsprozess, bei dem die beteiligten Personen im gesamten Projektverlauf eingebunden werden, braucht Durchhaltevermögen und auch Flexibilität von allen Beteiligten, z.B. auch von den Geldgebenden. Denn wenn man Partizipation und Mitsprache ernst nimmt, muss man auch bereit sein, Unvorhergesehenes oder Umwege in Kauf zu nehmen. Im Endeffekt ist es aber viel gewinnbringender, als wenn man die Betroffenen nur punktuell und einmalig einbeziehen würde. Echte Partizipation legt den Grundstein für eine nachhaltige Identifikation der Zielgruppe mit dem Angebot.

Wie gross ist dieser Aufwand, den die App im Normalbetrieb generiert, etwa durch die Chats?

Viktoria: Für die Chatfunktion haben wir pro Sprachgruppe zwei Begleitpersonen in Teilzeit angestellt. Das sind Schlüsselpersonen, die eine Brückenfunktion zur Zielgruppe übernehmen. Da sie individuelle Nachrichten beantworten und psychosoziale Unterstützung leisten, ist uns wichtig, dass sie selber gut geschult sind und Supervision erhalten.

Lilya: Dabei gehen wir nach dem Vieraugenprinzip vor. Die Begleitperson bereitet eine Antwort vor, die dann von einer anderen Person aus dem SRK-Team gegengelesen wird, bevor sie abgeschickt wird. Dies dient der Qualitätssicherung.

Was war die Rolle der Universitäten und anderen Organisationen, die bei der Entwicklung involviert waren?

Viktoria: Organisationen wie die Schweizerische Flüchtlingshilfe und die Universität Bern haben uns ihre Expertise zu bestimmten Themen zur Verfügung gestellt. Die engste Partnerschaft besteht mit der Freien Universität Berlin. Da die Entwicklung eines digitalen Produktes von Grund auf hohe Kosten und Aufwand bedeuten, ist es für uns sehr wertvoll, die Plattform DIRECT nutzen und weiterentwickeln zu dürfen, die die Freie Universität Berlin speziell für psychologische Interventionen in mehrsprachigen Kontexten entwickelt hat. Sie wurde bereits in anderen Projekten z.B. der WHO getestet und stellt einen modularen Baukasten zur Verfügung, wo man Elemente einfach zusammenstellen und Inhalte selbst einfügen kann.

Gab es bei der technischen Umsetzung auch Schwierigkeiten?

Viktoria: Es gab schon technische Hürden, gerade bezüglich der verschiedenen Sprachen und Schriftarten. So müssen die Inhalte auch in kyrillischer und arabischer Schrift, und daher auch von rechts nach links angezeigt werden können. Das ist zum Glück in dieser Plattform schon vorgesehen, da sie bereits für solche Zwecke genutzt wurde.

Die Zusammenarbeit mit IT-Fachleuten bei solchen Projekten ist manchmal nicht ganz einfach, da die verschiedenen Fachleute je ihren Jargon haben. Wie habt ihr das erlebt?

Viktoria: Wir haben da als Übersetzende gearbeitet, um den Entwicklern der externen Agentur, die wir beigezogen haben, die Bedürfnisse der Zielgruppe verständlich zu machen. Das war ein aufwändiger Prozess, aber auch eine sehr lehrreiche Erfahrung für uns. Die Agentur hatte auch schon Erfahrung mit ähnlichen Projekten, wovon wir profitieren konnten. Bei der Übersetzungsarbeit erhielten wir zudem Unterstützung von der FU Berlin, welche schon viele Jahre mit den Entwicklern arbeitet und sowohl die Sprache der Entwickler spricht als auch die Bedürfnisse der Zielgruppe gut kennt.

« Menschen in unserer Zielgruppe wünschen sich einen echten, menschlichen Austausch. »

Portrait von Viktoria Zöllner

Viktoria Zöllner

KI ist im Vormarsch und es werden auch in der Sozialen Arbeit Einsatzmöglichkeiten diskutiert. War es bei euch ein Thema, etwa im Zusammenhang mit Chat-Funktionen, KI einzusetzen?

Viktoria: An KI kommt man nicht vorbei, aber gerade in einer Organisation wie dem SRK, die mit vulnerablen Personen arbeitet, muss man KI-Tools sehr bewusst einsetzen. Datenschutzfragen sind hier besonders wichtig. Natürlich können KI-Tools etwa bei Übersetzungsarbeiten hilfreich sein. Hier gibt es aber sehr grosse Unterschiede. Mit Englisch oder Französisch funktioniert das wunderbar. Wenn es aber um Sprachen wie Dari oder Farsi geht, ist die Qualität von KI-Übersetzungen noch mangelhaft. Wir gehen jedoch davon aus, dass sich das schnell weiterentwickeln wird. Für den Chat haben wir die Möglichkeiten von Bots tatsächlich auch in Betracht gezogen. Die Resultate sind hier aber noch zu schlecht in den meisten Sprachen.

Lilya: Beim Chat besteht zudem ein hoher Anspruch an ein empathisches Gegenüber. Wenn Betroffene sich uns anvertrauen, ist es wichtig, ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind und dass eine bestimmte Stressreaktion oder ein bestimmter Zustand normal sind. Eine geschulte Begleitperson kann hier den Bedarf herausspüren, kann Informationen, aber auch Verständnis und emotionale Unterstützung bieten. Das kann eine KI unserer Sicht nicht leisten, dazu braucht es ein wirkliches Gegenüber.

Viktoria: Das war auch die Rückmeldung bei der Bedarfserhebung, dass sich die Menschen in unserer Zielgruppe echten, menschlichen Austausch wünschen. Dieser persönliche Chat ist zudem eine Möglichkeit, die Menschen dazu zu motivieren, die Selbsthilfeangebote der App regelmässig zu nutzen und bei Bedarf professionelle Unterstützung zu suchen.

Fazit: Die wichtigsten Empfehlungen

Das SRK stellt seine Erfahrungen auf einer Webseite zur Verfügung. Fachpersonen finden eine umfangreiche Sammlung an wissenschaftlichen Papers und einen praktischen Leitfaden (engl.) zur Entwicklung digitaler, psychologischer, psychosozialer Angebote. Sie bietet zudem einen Überblick zu Angeboten, die in dem Bereich weltweit bestehen. Die wichtigsten Empfehlungen sind:

  • Betroffene Personen im Rahmen von Partizipationsprozessen in den Projektverlauf einzubinden, lohnt sich. Dazu braucht es entsprechende zeitliche und personelle Ressourcen und Flexibilität von Seiten der Geldgebenden. Das vom SRK gemeinsam mit der Uni Bern erarbeitete Paper dokumentiert den Partizipationsprozess detailliert.
  • Durch die Verschränkung des niederschwelligen digitalen Informationsangebots mit persönlicher, muttersprachlicher Unterstützung über einen Chat entsteht ein Mehrwert für die User*innen. Ein niederschwelliger Zugang erleichtert den Erstkontakt, während begleitende persönliche Komponenten – wie etwa eine integrierte Chatfunktion oder Peer-Begleitung – die kontinuierliche Nutzung fördern. Sie ermöglichen nicht nur eine engere Bindung an das Angebot, sondern tragen auch dazu bei, es fortlaufend bedarfsgerecht und nutzer*innenzentriert weiterzuentwickeln.
  • Die Nutzung bestehender Ressourcen sowie der Rückgriff auf evidenzbasierte Inhalte und bewährte Open-Source-Technologien kann die Entwicklungskosten digitaler Interventionen deutlich senken. Bereits verfügbare technische Plattformen – wie etwa die Plattform DIRECT der Freien Universität Berlin, die bald Open-Source zur Verfügung stehen wird – bieten auch anderen Organisationen die Möglichkeit, vergleichbare Projekte effizient umzusetzen.
  • Datenschutz und Datensicherheit haben bei digitalen Angeboten für vulnerable Zielgruppen höchste Priorität. Sensible personenbezogene Daten müssen besonders geschützt werden, um das Vertrauen der User*innen zu gewinnen und sie vor potenziellen Risiken zu bewahren. Nur so kann sichergestellt werden, dass digitale Interventionen tatsächlich unterstützend wirken und keine zusätzlichen Verletzlichkeiten oder Ausschlüsse erzeugen.
  • Digitale Angebote sind keine statischen Produkte, sondern erfordern eine kontinuierliche Qualitätssicherung sowie fortlaufende Anpassung an technologische Entwicklungen und Fortschritte. Insbesondere der rasante Fortschritt im Bereich KI macht es notwendig, digitale Angebote regelmässig zu überprüfen, weiterzuentwickeln und an neue Standards und Möglichkeiten anzupassen.

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