Mit der Aufnahme von bislang ca. 30'000 Geflüchteten aus der Ukraine leistet die Schweiz einen wichtigen Beitrag zur Linderung der katastrophalen humanitären Folgen des Ukraine-Kriegs. Bei der ganz konkreten Umsetzung des politischen Entscheids, unbürokratisch Hilfe zu leisten, sind auch soziale Organisationen gefordert. Vorab im Asylwesen.
Nach der Coronakrise ist der Krieg in der Ukraine bereits das nächste krisenhafte Ereignis, das von der Gesellschaft schnelle Entscheide und Reaktionen erfordert. Die Schweiz hat sich dazu entschlossen, niederschwellig Hilfe zu leisten und Schutzsuchende unbürokratisch aufzunehmen. Dafür kommt der Schutzstatus S zur Anwendung, der Ende der 90er-Jahre aufgrund der Jugoslawienkriege geschaffen wurde.
Schutzstatus S
Mit dem Ausweis S erhalten Betroffene eine auf ein Jahr befristete, jedoch verlängerbare Aufenthaltsbewilligung. Personen mit Ausweis S können Familienangehörige nachziehen und ihre Kinder erhalten Zugang zu schulischer Bildung. Zudem haben sie Anrecht auf Sozialhilfe und die Erlaubnis, ohne Wartefrist eine bewilligungspflichtige Erwerbstätigkeit auszuüben.
Der Schutzstatus S ist rückkehrorientiert, d.h. eine langfristige Integration der betreffenden Personen wird nicht angestrebt.
Bis Mitte April haben rund 30'000 Personen Zuflucht in der Schweiz gesucht; zwischenzeitlich dürfte die Zahl weiter angestiegen sein. Die Unterbringung und Versorgung dieser Menschen ist eine grosse gesellschaftliche Aufgabe. Diese betrifft auch Organisationen des Sozialwesens, wobei besonders Organisationen im Asylbereich gefordert sind. Doris Maurer von der AOZ in Zürich hat sich bereit erklärt, uns einen Einblick in ihren momentanen Arbeitsalltag zu geben.
Doris Maurer, AOZ: «Man spürt die Solidarität»
Sozialinfo/Martin Heiniger: Der Krieg in der Ukraine ist nach der Coronakrise schon wieder ein krisenhaftes Ereignis, das schnelles Reagieren erfordert. Was sind für Sie die wichtigsten Herausforderungen, die Prioritäten des Tages?
Doris Maurer: Wir in der Personalabteilung sind zurzeit in erster Linie mit dem Bedarf konfrontiert, zusätzliche Leute anzustellen.
Was suchen Sie für Personal?
Das sind einerseits Betreuende für die Notunterkünfte und die Bundesasylzentren, wo die Kapazitäten jetzt heraufgefahren werden. Andererseits suchen wir Sozialarbeitende und Sachbearbeiter*innen für die Ausrichtung der wirtschaftlichen und persönlichen Sozialhilfe.
Finden Sie genügend qualifiziertes Personal?
Was man sagen kann, ist, dass wir mehr Bewerbungen erhalten als sonst. Man spürt also auch hier die Solidarität. Aber in der Sozialen Arbeit an sich ist der Markt natürlich schon sehr ausgetrocknet. Das macht es schwierig, denn gerade bei Sozialarbeitenden können wir natürlich keine Kompromisse machen, da müssen wir die fachspezifischen Qualifikation haben, die es braucht. Bei Betreuer*innen hingegen haben wir ein breiteres Anforderungsprofil, da ist es eher möglich, geeignetes Personal zu finden.
Es ist zudem ein neues Phänomen, dass so viele Leute auf einmal gekommen sind. Das bedeutet, dass wir sehr schnell zusätzliche Mitarbeitende rekrutieren müssen. Im Balkankrieg beispielsweise kamen die Leute viel gestaffelter.
Jobs mit Bezug zur Ukraine-Krise
Damit die Betreuung von Geflüchteten sichergestellt werden kann, benötigen viele soziale Organisationen zusätzliches qualifiziertes Personal. Um betroffene Organisationen bei der Rekrutierung zu unterstützen, bieten wir die Möglichkeit an, entsprechende Stellen schnell und zu einem reduzierten Preis zu publizieren.
Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
Wir führen Infoveranstaltungen per Zoom durch, an denen wir die Arbeit vorstellen. Damit haben wir gute Erfolge. Bis wir neue Mitarbeitende eingestellt und eingearbeitet haben, heisst das aber in allen Bereichen, dass die einzelnen Mitarbeitenden viel auffangen müssen.
Doris Maurer
Leiterin Fachbereich Personal AOZ
Wie gestaltet sich der Umgang mit dieser spezifischen Flüchtlingsgruppe?
Grundsätzlich sind Geflüchtete aus der Ukraine wie die meisten Personen, die in die Schweiz fliehen, dankbar für die Unterstützung, welche sie erhalten. Sie wollen einander auch gegenseitig unterstützen und helfen auch in den Unterkünften mit. Die Sprache ist natürlich ein Thema, aber wir haben sehr viele Freiwillige, die übersetzen. Eine Schwierigkeit ist hingegen, dass es bei den Zuweisungen in die Kantone zu Verzögerungen kommt, weil es für alle Player schwierig ist, die schiere Menge an Gesuchstellenden zu bewältigen. Da werden die Leute zum Teil etwas ungeduldig, weil sie wissen möchten, wie es weitergeht.
Wie beurteilen Sie die schnellen Reaktionen der Behörden? Hat es Sie überrascht, dass die Geflüchteten den Schutzstatus S erhalten?
Nein, es hat sich politisch abgezeichnet, dass das kommen wird. Die Frage ist einfach, wie lange diese Situation andauert. Vieles ist noch ungewiss. Um im Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, sind Sprachkenntnisse sehr wichtig. Wir werden sicher nachgelagerte Deutschkurse und Integrationsförderung anbieten. Auch da werden wir zusätzlich Mitarbeitende suchen.
Da ist ja auch ein Zwiespalt, weil dieser Status zwar rückkehrorientiert ist, aber es auch sein kann, dass die Menschen lange hier bleiben werden?
Ja genau, sie sagen es richtig, es ist ein Zwiespalt. Wie sich dieser Krieg entwickelt, ist zur Zeit sehr offen.
Besteht die Unsicherheit auch deshalb, weil man nicht weiss, wie lange es dauern wird, und man deshalb nicht weiss, ob es sich nicht doch lohnt, in die Integration zu investieren?
Genau. Es hiess zwar gerade in der Zeitung, dass es eine leichte Beruhigung gebe, aber das glaube ich gerade noch nicht. Worum wir uns sehr bemühen, ist, dass die Kinder in die Schule können und Jugendliche den Anschluss an die Berufsbildung schaffen. In Bildung investieren lohnt sich immer.
Gibt es neue sozialarbeiterische Aufgabengebiete, etwa im Zusammenhang mit privater Unterbringung?
Nein, die gesetzlichen Grundlagen und Regelungen der Sozialhilfe sind ja nicht neu. Aber es gibt neue Herausforderungen. Im Moment ist es zum Beispiel oft unklar, welcher Kanton oder welche Gemeinde für die einzelnen Personen zuständig ist. Wir haben eine Hotline, welche hilft, Fragen zu klären, wir publizieren auf der Website der AOZ auch Informationen auf Ukrainisch und Russisch, aber es ist oft schwierig, die Leute wirklich zu erreichen. Es passiert schon, dass sie an den falschen Ort hingehen, und dann löst es Frust aus.
Sind Sie auch zuständig für private Unterbringungen?
Wir von der AOZ aus sind da nicht direkt involviert und konfrontiert. Wir sind mehr händeringend auf der Suche nach freien Wohnungen und Häusern für diejenigen Leute, die wir dann auch begleiten.
In den Medien liest man von grossen kantonalen Unterschieden bei der Sozialhilfe. Gäbe es aus Ihrer Sicht Strategien, um das einheitlicher zu handhaben?
Ich denke, hier müsste der Bund Vorgaben machen.
Hat die Uneinheitlichkeit auch mit dem Schutzstatus S zu tun? Oder damit, dass viele privat untergebracht sind?
Es hat wohl auch mit den privaten Unterbringungen zu tun. Die Kantone und Gemeinden unterstützen die Anbietenden von privaten Unterkünften sehr unterschiedlich. So schnell wird man diese Ungleichheiten nicht eliminieren können. Gewisse Unterschiede gibt es ja auch in der normalen Sozialhilfe. Die SKOS-Richtlinien sind ja auch nur Empfehlungen. Genau gleich ist es jetzt mit den Empfehlungen für die Unterstützung von Personen mit Status S. Da gibt es keine einheitliche Umsetzung.
Werden Ukrainer*innen in separaten Kollektivunterkünften untergebracht?
Meistens ja. Dass es Notunterkünfte gibt, in denen ausschliesslich Ukrainer*innen wohnen, hat sich organisatorisch so ergeben.
Wie reagieren andere Flüchtlingsgruppen auf diese Situation?
Da habe ich bislang nichts Aussergewöhnliches gehört. Man liest einfach, dass manche Flüchtlinge sich fragen, weshalb die Ukrainer*innen eine solche Solidarität erhalten, die sie selbst nicht erlebt haben.
Diesen Zwiespalt teilen ja auch manche Schweizer*innen. Was denken Sie dazu?
Ich kann das verstehen, dass man sich diese Fragen stellt. Es hat wohl schon damit zu tun, dass es nah ist. Mir persönlich geht es auch so, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, dass es je einen solchen Krieg geben könnte in Europa. Dass man sich dann überlegt, weshalb z. B. Afghaner*innen weniger Unterstützung erfuhren, verstehe ich. Es ist tatsächlich so, dass nicht alle gleichbehandelt werden. Es ist gut, dass man das jetzt diskutiert.
SEM (2022): «Faktenblatt Schutzstatus S»
KOKES (2022): Merkblatt zum Schutz von Kindern aus der Ukraine
Sexuelle Gesundheit Schweiz (2022): Ukraine – Informationen zu sexueller Gesundheit
Autor*in

Martin Heiniger
Fachredaktion Sozialinfo
E-Mail: martin.heiniger@sozialinfo.ch

Martin Heiniger
Der Krieg in der Ukraine hat in Europa ein grosses Potenzial an Anteilnahme und Hilfsbereitschaft freigesetzt. Auch die offizielle Schweiz hat sich mit dem Schutzstatus S für eine unbürokratische Hilfeleistung entschieden. Viele Menschen sind sogar bereit, sich direkt für das Wohlergehen der Geflüchteten einzusetzen und sie privat aufzunehmen. Dies ist unbedingt zu würdigen! Auch wenn die aktuelle Situation die Frage in den Raum stellt, weshalb nicht auch andere Flüchtlingsgruppen eine ähnliche Solidarität erfahren.
Die grosse Zahl geflüchteter Schutzsuchender stellt hohe Anforderungen an die Soziale Arbeit. Hier sind es in erster Linie die Asylorganisationen, die den Andrang logistisch und betreuerisch zu bewältigen haben. Im Gespräch mit Doris Maurer, Leiterin Fachbereich Personal der AOZ in Zürich, haben wir Genaueres zum aktuellen Arbeitsalltag erfahren, z. B. wie es ihr gelingt, rasch neue Fachkräfte zu rekrutieren.
Benötigen auch Sie zusätzliches Personal? Mit unserem neuen Stellenmarkt für Jobs mit Bezug zur Ukraine-Krise unterstützt Sozialinfo betroffene Organisationen bei der Rekrutierung.