Oberwalliser Gemeinden erproben im Projekt «Soziallabor Oberwallis» Formen und Möglichkeiten der Partizipation. Im Rahmen von Beteiligungsveranstaltungen kann ein ganzes Dorf mitdiskutieren und Ideen weiterentwickeln. Ziel ist eine nachhaltige Stärkung der Zivilgesellschaft in den Gemeinden.
Herausforderung Bevölkerungsentwicklung im Oberwallis
Im Oberwallis findet derzeit eine Entwicklung statt, welche die Bevölkerung vor grosse Herausforderungen stellt. Verschiedene Firmen, zuvorderst die Lonza, aber auch Scintilla oder die Matterhorn-Gotthard-Bahnen, werben international im grossen Stil qualifiziertes Personal an. Das hat in den letzten Jahren zu einer historisch einmalig hohen Einwanderung von Personen aus der ganzen Welt geführt.
Man sieht diese Einwanderung und ihre Auswirkungen beispielsweise daran, dass am Bauernmarkt in Visp, welcher jeden Freitag unzählige Menschen anzieht, mehr «Hello» als «Salü» zu hören ist. Die Zunahme der Bevölkerung im Tal wirkt sich aber auch auf die Infrastruktur aus: die Strassen sind oft verstopft, es braucht mehr Kita-Plätze und die Wohnungsmieten steigen in ungekannte Höhen. Dies alles geht nicht spurlos an der Bevölkerung vorbei.
Bisherige Massnahmen fokussieren vor allem auf Angebote für die Neuzuzüger*innen. Die Kita-Plätze wurden ausgebaut, es wurde ein Welcome-Desk eingerichtet und die Webpage Valais4you stellt das Wallis vor und bündelt Informationen. Weiter präsentierten Kulturveranstalter und Vereine ihre Angebote den neuen Mitgliedern der Gesellschaft. Was bis anhin fehlte, war der Fokus auf die Bevölkerung als Ganzes.
Das Projekt «Soziallabor Oberwallis»
Mit dem Projekt «Soziallabor Oberwallis» will die Hochschule für Soziale Arbeit HES-SO Wallis dazu beitragen, diese Lücke zu schliessen. Der Leitgedanke dabei ist, dass diese Herausforderungen alle betreffen. Daher will das Projekt die Zivilgesellschaft stärken und Prozesse «von unten» initiieren, welche Themen und Bedürfnisse von Gemeinden aufnehmen.
Eine zentrale Leitidee ist dabei die Partizipation. In vielen Projekten der Gemeindeentwicklung wird von Partizipation gesprochen. Oft ist damit jedoch nur ein Einbezug bei der Umsetzung von bereits geplanten Projekten gemeint. Hier soll es jedoch um eine Partizipation von Beginn weg gehen. Das bedeutet, dass bereits die Themenfindung, wie auch die daraus abgeleitete Entwicklung und Umsetzung von Projektideen in der Hand der Bevölkerung sind. Die Projektleiterinnen der HES-SO Wallis nehmen als Moderatorinnen und Prozessbegleiterinnen teil. Es ist jedoch die Bevölkerung, welche den Weg bestimmt und somit auch definiert, welche konkreten Ideen realisiert werden sollen.
"Soziallabor Oberwallis"
Mehr Informationen zum Projekt «Soziallabor Oberwallis» der Hochschule für Soziale Arbeit HES-SO Wallis/Valais finden Sie hier.
Wirkung auf verschiedenen Ebenen
Das Projekt hat einerseits konkrete und praktische Ziele. In den beteiligten Gemeinden werden Veranstaltungen organisiert. Dabei wird die ganze Bevölkerung einer Gemeinde eingeladen, mitzudiskutieren und Ideen für Projekte zu formulieren. In der Folge kann die Bevölkerung realisierbare Ideen umsetzen. Das kann ein Senior*innen-Treff sein oder ein Mittagstisch für Schulkinder. Andererseits stärkt ein solches Projekt auf einer Metaebene die Zivilgesellschaft. Es schafft mit der Beteiligungsveranstaltung eine erste Erfahrung, wie man gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten kann, wie eigene Ideen auf den Tisch kommen und diskutiert werden und wie daraus konkrete Projekte entstehen können.
Ablauf der partizipativen Gemeindeentwicklung
Bis zu einer solchen Beteiligungsveranstaltung ist es aber ein langer Weg. Eine erste Etappe sind Absprachen des Projektteams der HES-SO mit dem Gemeinderat einer ausgewählten Gemeinde. Danach stellt der Gemeinderat eine möglichst diverse Arbeitsgruppe zusammen, welche die Realisierung der Beteiligungsveranstaltung zum Ziel hat. Aus dem Prozess in verschiedenen Gemeinden hat sich gezeigt, dass es Zeit braucht, um den Gedanken der Partizipation zu verinnerlichen und Ideen in der Arbeitsgruppe und der Bevölkerung abzuholen, anstatt sie von vornherein vorzuschreiben. Wenn dies einmal erreicht war, dann waren bis anhin alle Arbeitsgruppen mit Engagement dabei. Dies kann jedoch zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgen.
In einem nächsten Schritt sortiert die Arbeitsgruppe die eingebrachten Themen und überlegt sich einen Titel oder ein übergeordnetes Ziel für die Veranstaltung. Weiter entwickelt sie auch eine Methode für die Beteiligungsveranstaltung. Es gibt viele bekannte und elaborierte Methoden für partizipative Prozesse, die dazu genutzt werden können. Bis anhin hatte jede Arbeitsgruppe die Überzeugung, diesen Anlass mit einer attraktiven Veranstaltung für die Bevölkerung verbinden zu wollen. Dies hat sicherlich zur grossen Beteiligung an allen bisherigen Veranstaltungen beigetragen.
Beispiele aus zwei Pilotgemeinden
Was muss man sich unter solch einer Beteiligungsveranstaltung vorstellen? In der Gemeinde Zeneggen hatte es bereits früher Zukunftswerkstätten gegeben. Daher war klar, dass dieser Tag ganz anders werden sollte: «keine Flip-Chart-Veranstaltung in der Mehrzweckhalle». Die Arbeitsgruppe organisierte einen gemeinsamen Arbeitstag am Badesee. Die Beteiligten bauten ein Klettergerüst für Kinder, spannten ein Sonnendach über den vorhandenen Essplatz, bauten eine Boccia-Bahn, entfernten Algen aus dem Badesee und pflanzten einen Kräuter- und Beerengarten. Während dem Arbeiten sorgte das HES-SO Team dafür, dass auch über Themen, Bedürfnisse und Wünsche für das Zusammenleben im Dorf gesprochen wurde.
Die Gemeinde Lalden organisierte einen Postenlauf im Dorf. An fünf verschiedenen Posten konnten die Beteiligten über Themen wie die Vereine, lebendiges Lalden, Ortsbild, Jugend und Visionen diskutieren und ihre Ideen festhalten. Der Nachmittag mündete in einen abwechslungsreichen Abend. Nach einer Ansprache des Gemeinderats für «Soziales» und einer Zusammenfassung der Ideen seitens des HES-SO Teams gab es einen Apéro für alle und schliesslich konnte man sich verpflegen. Es gab einen Film für die Kleinen und anschliessend Filmmaterial aus den Archiven verschiedener Personen aus dem Dorf. Ein spannender Blick zurück in vergangene Aktivitäten, Vereinsanlässe und Feste, welcher alle versammelten Personen auf dem Dorfplatz in seinen Bann zog.
Frage der Nachhaltigkeit
Und wie geht es weiter nach den Beteiligungsveranstaltungen? Die Energie an den Veranstaltungen war jedes Mal beeindruckend. Es stellt sich danach die Frage, wie diese Erfahrung auch nachhaltig wirken kann. An beiden Veranstaltungen konnten sich interessierte Personen eintragen. Je nach Gemeinde suchen die Arbeitsgruppe, der Gemeinderat und das Team der HES-SO nach Möglichkeiten, den Prozess weiterzuführen. In einer der Gemeinden kommt es demnächst zu einem Treffen von interessierten Personen aus der Bevölkerung und aus der Arbeitsgruppe, welche sich weiter für Anliegen des Dorfes einsetzen wollen. In einer anderen Gemeinde haben bereits erste Folgeanlässe stattgefunden.
Die Nachhaltigkeit ist eine fragile Sache, denn sie kann nicht darin bestehen, dass das Team der HES-SO weiterhin die Prozesse moderiert. Gewissermassen müssen die angestossenen Entwicklungen auf eigenen Beinen stehen. Wie erfolgreich dies auch in Zukunft sein wird, muss sich noch zeigen.
Inwiefern das Projekt «Soziallabor Oberwallis» dazu beiträgt die Herausforderungen für die Bevölkerung anzugehen, muss sich noch zeigen. Eine entsprechende Forschung ist in Planung. In den zwei Gemeinden hat sich jedoch bereits gezeigt, dass ein solcher Anlass und die daraus entstehenden Projekte, sehr wohl verschiedene Personengruppen aus der Gemeinde in einen Austausch bringen. In Lalden wurde die jährliche Begrüssung neuer Mitglieder der Gemeinde mit der Beteiligungsveranstaltung zusammengelegt. So konnten sich Neuzuzüger*innen gleich am Postenlauf einbringen und sassen dann am Abend auch auf dem Dorfplatz mit den Alteingesessenen zusammen.
Autor*innen

Marina Richter
Ordentliche Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit, HES-SO Valais/Wallis
E-Mail: marina.richter@hevs.ch

Anita Heinzmann
Lehrbeauftragte Hochschule für Soziale Arbeit, HES-SO Valais/Wallis

Martin Heiniger
Sozioökonomischer Strukturwandel und andere für die Bevölkerung prägende Veränderungen finden nicht nur im urbanen Raum statt, wo man etwa das Phänomen der Gentrifizierung kennt. Auch ländliche Gebiete können herausgefordert werden durch starke Bewegungen, die sich in relativ kurzer Zeit vollziehen.
Eine solche Entwicklung erlebt zurzeit das Oberwallis. Das Gebiet erfährt seit einigen Jahren eine starke internationale Zuwanderung von Menschen, die von gossen lokalen Firmen angeworben werden. Diese lassen sich, oft mit Familienangehörigen, in den Oberwalliser Gemeinden nieder und prägen dadurch das örtliche Zusammenleben mit.
Dies ist Herausforderung und Chance zugleich. Um das positive Potenzial dieser Entwicklung zu nutzen, hat die Hochschule für Soziale Arbeit HES-SO Wallis das Projekt «Soziallabor Oberwallis» ins Leben gerufen. Lesen Sie unseren Gastbeitrag über dieses gelungene Best-Practice-Beispiel zu partizipativer Gemeindeentwicklung!