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Partizipationsprojekt für eine neue Verfassung

09.09.2021 - 5 Min. Lesezeit

Autor*innen

Rund tausend Walliser Kinder und Jugendliche haben an einem Beteiligungsprojekt zur Revision ihrer Kantonsverfassung teilgenommen. Dieser Mitwirkungsprozess hat zahlreiche konkrete Vorschläge für die neue Verfassung hervorgebracht, die dem Verfassungsrat übergeben wurden.

Die Walliser Bevölkerung hat im März 2018 eine Volksinitiative angenommen, welche die Totalrevision der Kantonsverfassung aus dem Jahr 1907 vorsieht. Die Revisionsarbeiten wurden einem aus 130 Mitgliedern zusammengesetzten Verfassungsrat anvertraut. Dieser wurde vom Volk gewählt und repräsentiert die verschiedenen politischen Parteien sowie die Zivilgesellschaft.

Unmittelbar nach ihrer Wahl in den Verfassungsrat sind mehrere Mitglieder an verschiedene Institutionen herangetreten, um ein Projekt zur Konsultation der Kinder und Jugendlichen im Kanton Wallis zu lancieren. Ziel war, auch die unter 18-jährigen im Rahmen dieser Revision anzuhören und ihre Anliegen einzubeziehen. Daraus ist der «Verfassungsrat der Kinder und Jugendlichen» entstanden.

Partizipation von Minderjährigen

Die UN-Kinderrechtskonvention (KRK), welche von der Schweiz 1997 ratifiziert wurde sowie die Agenda 21, welche im Rahmen der Rio-Konferenz 1992 angenommen wurde, sind die Grundlagen für die Beteiligung von Minderjährigen an für sie relevanten Themen. Art. 12 Abs. 1 der KRK besagt: «Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äussern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen entsprechend seinem Alter und seiner Reife.» (Vereinte Nationen, 1989). Dieser Grundsatz wurde im Jahr 2009 mit der allgemeinen Bemerkung Nr. 12 des UN-Kinderrechtsausschusses nochmals verstärkt. Diese setzen einen konkreten Rahmen, um die ethische und respektvolle Konzeption und Umsetzung von Beteiligungsprojekten von Kindern sicherzustellen.

Zuvor hatte sich im Wallis bereits ein Netzwerk rund um das Thema Kinderrechte entwickelt, zu dessen wichtigsten Aktivitäten ein jährliches internationales Kolloquium über Kinderrechte gehört. Die Hochschule für Soziale Arbeit Wallis, als Teil dieses Netzwerks, beleuchtet die Methoden und die Praxis der Sozialarbeit in der konkreten Anwendung der Kinderrechtskonvention. Der Verfassungsrat der Kinder und Jugendlichen ist ein Beispiel davon. Die in diesem Projekt angewandten partizipativen Methoden sind Teil des Methodenrepertoires, welches insbesondere den Studierenden der Vertiefungsrichtung Soziokulturelle Animation im Studium vermittelt wird.

Methodische Grundlagen

Dieses Beteiligungsprojekt wendet einen methodischen Ansatz an, welcher sich auf die vier Dimensionen - space, voice, audience, influence – des Modells von Lundy (2007) stützt. Die vier Dimensionen werden dabei folgendermassen verstanden: space meint, dass ein sicherer und inklusiver Raum zur Verfügung gestellt wird. Voice bedeutet, die Kinder dabei zu unterstützen, ihre Meinung auszudrücken. Die Dimension der audience verweist auf die Verpflichtung, jede Meinung anzuhören. Influence schliesslich spricht die Verpflichtung an, dass diese Meinungen – sofern sie angemessen sind – auch berücksichtigt werden müssen.

Von der Vorbereitungsphase des Beteiligungsprojektes an wurden Kinder und Jugendliche im Sinne einer Ko-Konstruktion in das Vorgehen einbezogen, insbesondere in die Ausarbeitung der partizipativen Methoden. Indem auf eine angemessene Sprache und ein geeignetes Format geachtet wurde, konnten die Diversität und der Entwicklungsstand aller (potenziell) Beteiligten berücksichtigt werden.

Die Durchführung partizipativer Workshops

Im Herbst 2020 wurden Workshops für mehr als 1000 Kinder im Alter von fünf bis 18 Jahren angeboten, welche von dafür geschulten Animator*innen durchgeführt wurden. Den Kindern und Jugendlichen wurden jeweils zwei Workshops in Kleingruppen von drei bis sechs Personen angeboten: Im ersten bestand die Aufgabe für jede Gruppe darin, verschiedene Themen (Familie, Rechte und Pflichten, Gesundheit usw.) nach Priorität in einer Pyramide anzuordnen. Das Ziel dabei war, die Interessen und Sorgen der Teilnehmenden besser fassen zu können. Der zweite Workshop wurde so konzipiert, dass die Kinder und Jugendlichen jeweils zu einer aktuellen Frage aus den Arbeiten des Verfassungsrates arbeiten konnten. Mittels verschiedener partizipativer Methoden wurde den Beteiligten ermöglicht, ihre Meinung auszudrücken und sich in die Diskussion einzubringen.

Zu Beginn jedes Treffens wurde den Teilnehmenden ein kurzes Präsentationsvideo zum Projekt des Verfassungsrates der Kinder und Jugendlichen gezeigt, welches extra für diesen Zweck erstellt wurde. Mit diesem Einstieg wurde sichergestellt, dass alle Teilnehmenden zu Beginn der Arbeit dieselben Informationen erhielten. Durch die visuelle und spielerische Aufbereitung der Informationen konnte die Aufmerksamkeit und das Interesse der Kinder und Jugendlichen erreicht werden, um einen optimalen Start zu ermöglichen.

Die aus den Workshops resultierenden konkreten Vorschläge für die neue Kantonsverfassung wurden an die thematischen Kommissionen des Verfassungsrats übergeben, damit auch die Anliegen der Kinder und Jugendlichen in der weiteren Ausarbeitung berücksichtigt werden.

Um zu vermeiden, dass diese Workshops lediglich Symbolcharakter haben, welche zwar die Meinung der unter 18-jährigen einholen, aber diese nicht wirklich in die Überlegungen einbeziehen, haben mehrere Mitglieder des Verfassungsrates die Gruppe Ami*es de la Constituante enfants gegründet. Diese spielte in weiterer Folge eine zentrale Rolle für den Verfassungsrat der Kinder.

Im Rahmen einer Abschlussveranstaltung konnten die in den Workshops beteiligten Kinder und Jugendlichen mit Vertreter*innen des Verfassungsrats und insbesondere des Präsidialkollegiums in direkten Austausch treten.

Postulate für eine nachhaltige Zukunft

Das breite Spektrum an Vorschlägen, die die Kinder und Jugendlichen im Rahmen der Workshops erarbeitet haben, spiegelt die Diversität und Reichhaltigkeit ihrer Ideen wider. Dabei wurden diejenigen Themen sichtbar, welche für sie eine hohe Bedeutung haben: Umweltschutz, Gesundheit, Familie, Ausbildung sowie Gleichberechtigung. Diese Begriffe wurden in den Workshops mit konkreten Forderungen gefüllt. In Bezug auf Umweltschutz etwa die Verwendung von Plastik zu reduzieren, der Entwaldung entgegenzuwirken, nachhaltige Materialen und Recycling zu bevorzugen und den Langsamverkehr zu fördern. Im Zusammenhang mit der Ausbildung schlagen die Kinder und Jugendlichen vor, den Schüler*innen praxis- und aktualitätsbezogene Wahlfächer anzubieten, Noten weniger zu gewichten sowie die neuen Technologien vermehrt für den Unterricht zu nützen. Im Gesundheitsbereich fordern die Kinder und Jugendlichen Präventionsmassnahmen und die Verbesserung des Spitalsystems, um einen universellen Zugang zu Gesundheit(sleistungen) zu sichern. Schliesslich haben sie in Bezug auf die Diversität und Gleichberechtigung die Forderung formuliert, gegen Gewalt und Diskriminierung zu handeln sowie sich für Lohngleichheit von Männern und Frauen einzusetzen.

Die Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements

Dieses Projekt schreibt sich in den Ansatz des experimentellen Lernens (Kolb, 1984) ein, analog zu neuen pädagogischen Programmen wie «Team Academy». Diese stützen sich auf die praktischen Erfahrungen im Prozess der Aneignung von Wissen und Kompetenzen (Dewey, 2011/1916). Dieser Rahmen ermöglicht zum einen Fertigkeiten zu entwickeln wie argumentieren, kooperieren und einen Konsens zu finden, zum anderen eigenen sich die Kinder und Jugendlichen über den experimentellen Zugang solides Wissen über ihre Rechte an. Somit werden sie zu Subjekten des Rechts.

Die aktive Beteiligung am Revisionsprozess der Walliser Verfassung hat den unter 18-jährigen ermöglicht, in demokratische Debatten einzutauchen. Dabei konnten sie sich mit ihren Überzeugungen, Glaubensgrundsätzen und Werten auseinandersetzen und ein Bewusstsein für ihren Platz in einer immer globaler werdenden Welt entwickeln (Morin, 1990).

Der Einbezug von Kindern und Jugendlichen in die Revision der Walliser Kantonsverfassung ist ein wichtiger Baustein im Bemühen, Minderjährige aktiv in gesellschaftliche Diskussionen einzubinden, die sie direkt betreffen. Im Fahrwasser dieser Erfahrung werden nun mehrere Initiativen angedacht wie die Gründung eines Walliser Netzwerks, das sich weiter für die Entwicklung von partizipativen Projekten und Prozessen engagiert. Eine weitere Idee ist, eine Session der Kinder ins Leben zu rufen sowie eine Handreichung für den Kanton und die Gemeinden zu entwickeln für die Durchführung partizipativer Prozesse.

Literatur

Kinderrechtkonvention der Vereinten Nationen (KRK) (1989)  

UN-Kinderrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkungen Nr. 12 (2009): Das Recht des Kindes auf Gehör. Nicht amtliche Übersetzung aus dem englischen Original [Zugriff am 2.7.2021]; Englisches Original [Zugriff am 2.7.2021]

Dewey, John. (2011/1916). Démocratie et éducation, suivi de Expérience et éducation. Paris, France : Armand Colin

Kolb, David Allen. (1984). Experiential learning. Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice-Hall

Lundy, Laura. (2007). «Voice» is not enough: conceptualising article 12 of the United Nation convention on the rights of the child. British educational research journal, 33(6), 927-942

Morin, Edgar. (1990). Introduction à la pensée complexe, Paris, ESF

Autor*innen

Sozialinfo

17 % der Walliser Bevölkerung – d. h. über 60'000 Personen – sind unter 18 Jahre alt. Es war deshalb wichtig, für diese grosse Bevölkerungsgruppe geeignete Möglichkeiten anzubieten, um sich ebenfalls an der Revision der Kantonsverfassung zu beteiligen.

Das Projekt wurde von der Hochschule für Soziale Arbeit der HES-SO Valais-Wallis, dem Centre interfacultaire en Droits de l’Enfant der Universität Genf, der Pädagogischen Hochschule Wallis, der Kantonalen Dienststelle für die Jugend, der Dienststelle für Unterrichtswesen und der Stiftung Sarah Oberson durchgeführt.

Für die Vorbereitungsphase des Projektes konnte es zudem auf die Mitarbeit einer Arbeitsgruppe zählen, die sich aus Kindern und Jugendlichen zusammensetzte und unter anderem von dem Kinderparlament des Instituts Sainte-Agnès unterstützt wurde.