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Partizipation von Kindern bei ausserfamiliären Unterbringungen

08.04.2021 - 6 Min. Lesezeit

Stefanie Zlauwinen

Das Recht des Kindes auf Partizipation umfasst bei einer bevorstehenden ausserfamiliären Unterbringung mehr als nur die Anhörung. In der Schweiz besteht noch grosser Nachholbedarf.

Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) kritisiert die Umsetzung des Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) in der Schweiz. Trotz Fortschritten in den letzten Jahren, sei das Recht des Kindes auf Partizipation in allen das Kind betreffenden Lebenslagen, entweder begrenzt oder kantonal uneinheitlich umgesetzt worden. Die Konferenz für Kindes und Erwachsenenschutz (Kokes) hat eine Empfehlung veröffentlicht, in der mehr Partizipationsmöglichkeiten bei ausserfamiliären Unterbringungen gefordert werden.

Umsetzung des Rechts des Kindes auf Partizipation

Laut einer Studie des SKMR vom Sommer 2020 wird der Art. 12 Abs. 1 UN-KRK, welcher dem Kind das Recht auf Partizipation in allen das Kind berührenden Angelegenheiten gewährt, in der Schweiz nicht hinreichend umgesetzt. Die Kritik des SKMR rührt unter anderem daher, dass die Umsetzung des Rechts auf Partizipation oftmals auf die Kindesanhörung, d.h. auf das Recht, sich frei zu äussern, beschränkt wird. Grundsätzlich legt der Art. 12 Abs. 1 UN-KRK eine weite Auslegung fest, die nebst Kindesanhörung auch die Mitwirkung im Sinne des Einbezugs des Kindeswillens in die Entscheidungsfindung umfasst.

Position des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hat den Art. 12 UN-KRK als direkt anwendbare Bestimmung qualifiziert, d.h. das Anhörungs- und Mitspracherecht des Kindes kann bei dessen Verletzung beim Bundesgericht direkt gerügt werden (BGE 124 III 90). Die Kindesanhörung wurde u.a. zusätzlich mit dem Art. 314a ZGB bei Kindesschutzmassnahmen und mit dem Art. 298 ZPO bei Kinderbelangen in familienrechtlichen Angelegenheiten verankert.

Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung liegt der Zweck der Kindesanhörung einerseits in der Wahrung eines höchstpersönlichen Rechts des Kindes und andererseits in der Sachverhaltsermittlung für die Behörden und Gerichte (bspw. BGer, 5A_87/2019, 26.03.2019, E.2.2.).

Das Partizipationsrecht des Kindes soll gemäss SKMR in dem Sinne verstanden werden, dass dem Kind verschiedene Mitwirkungsformen gewährt werden sollen. Dazu gehöre u.a. das Recht auf Anwesenheit, das Recht auf Information über die Situation, das Recht auf freie Meinungsbildung und deren Äusserung sowie die ernsthafte Berücksichtigung des Kindeswillens bei der Entscheidungsfindung. Des Weiteren könne auch das Recht auf Verfahrensbegleitung und Vertretung unter das Recht auf Partizipation subsumiert werden.

Das SKMR kritisiert an der schweizerischen Umsetzung des Art. 12 Abs. 1 UN-KRK, dass Altersgrenzen für die Kindesanhörung durch das Bundesgericht und in einigen Bereichen auch durch das Gesetz festgehalten wurden. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung liegt die Altersgrenze sowohl bei Kindesschutzmassnahmen als auch bei familienrechtlichen Verfahren in der Regel bei sechs Jahren (BGE 131 III 553 E.1.2.). Der UN-Kinderrechtsausschuss (Rz. 20ff.) betont demgegenüber, dass kein Mindestalter für die Mitsprache bzw. die Kindesanhörung vorzusehen sei, da Kinder auch durch nonverbale Ausdrucksformen ihren Willen kenntlich zeigen können. Gemäss der UN-KRK soll das Kind, welches im Zentrum einer Kindesschutzmassnahme steht, als Subjekt und als eigenständige Persönlichkeit betrachtet werden (Hotz, Rz. 3.1).

Vertiefende Informationen

Die Forderungen des SKMR

Das SKMR fordert u.a. eine Erweiterung der Aus- und Weiterbildungen im Bereich des Partizipationsrechts des Kindes. Dies soll zur Sensibilisierung der Fachleute beitragen, Kinder als eigenständige Subjekte zu behandeln. Des Weiteren werden unter anderem Anpassungen von Verfassung und Zivilgesetzbuch sowie Praxiserhebungen zur Partizipation auf kantonaler Ebene gefordert.

Empfehlung der Kokes bei ausserfamiliären Unterbringungen

Aufgrund der Studie des SKMR hat die Kokes im November 2020 eine Empfehlung zu ausserfamiliären Unterbringungen veröffentlicht. Gemäss Kokes besteht das Risiko, dass die Rechte des betroffenen Kindes/Jugendlichen bei einer ausserfamiliären Unterbringung eingeschränkt werden, sowohl bei einer angeordneten als auch bei einer vereinbarten Unterbringung. So wird gemäss Kokes etwa das Recht der Pflegekinder auf Partizipation nicht genügend umgesetzt. Sie fordert eine Gewährung des Partizipationsrechts in jeder Verfahrensetappe einer Unterbringung.

Definition Pflegekinder

«Mit «Pflegekinder» sind Kinder gemeint, die entweder in Familienpflege oder in Heimpflege leben. Auch der Begriff «Pflegeverhältnis» bezieht sich auf die Familienpflege und die Heimpflege.» (Kokes Empfehlungen, S. 13).

Die Etappen einer Unterbringung umfassen die Entscheidungs- und Aufnahmephase, die Betreuungsphase und die Austrittsphase. In der Entscheidungs- und Aufnahmephase wird zunächst der Lebenssachverhalt des Kindes geklärt sowie die voraussichtliche Dauer der ausserfamiliären Unterbringung. Das Kind soll über sein Mitspracherecht so schnell wie möglich informiert und seine Meinung soll möglichst früh eingeholt werden. Während der Betreuungsphase soll sowohl das Kind als auch seine Herkunftsfamilie unterstützt werden, damit alle Beteiligten die neue Situation bewältigen und verarbeiten können. Deswegen soll dem Kind auch in diesem Verfahrensabschnitt die Möglichkeit gegeben werden, sich frei zu äussern und mögliche Kritik anbringen zu können. Bei der Austrittsphase, welche entweder eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie vorsieht oder eine neue Kindesschutzmassnahme umfasst, sollen ähnliche Überlegungen wie in der Anfangsphase vorgenommen werden. Hierbei seien stützende und stabile Beziehungen für Kinder/Jugendliche von zentraler Bedeutung. Diesen Übergang sollen Kinder und Jugendliche ebenfalls mitgestalten können.

Projekt «Pflegekinder – next generation»

Aufgrund von Lücken in der Forschung und der fehlenden Datenlage in der Schweiz, wurde das Projekt «Pflegekinder – next generation» initiiert. Es handelt sich dabei um eine Kooperation folgender Institutionen: Palatin-Stiftung, Pflege- und Adoptivkinder Schweiz (PACH), Fachverband für Sozial- und Sonderpädagogik (Integras), Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und Kokes. Dieses Projekt verfolgt das Ziel, eine umfassende Analyse der Situation der Pflegekinder in der Schweiz zu erstellen und diejenigen Merkmale zu eruieren, welche für eine erfolgreiche Lebenskarriere der Pflegekinder wesentlich sind. Um die Situation der Pflegekinder nachhaltig zu verbessern, sollen daraus Handlungsrichtlinien und Sensibilisierungsmassnahmen abgeleitet werden, deren Umsetzung in den Jahren 2024 bis 2026 erfolgen soll.

Im Rahmen dieses Projektes wird auch die Umsetzung des Rechts auf Partizipation bei ausserfamiliären Unterbringungen eingehend abgeklärt. Dieser Aspekt wird durch ein interdisziplinäres und interregional aufgestelltes Forschungsteam der Ostschweizer Fachhochschule (OST) und der Universität Freiburg (UniFR) bearbeitet.

Autor*in

Stefanie Zlauwinen

Stefanie Zlauwinen

Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) hat im Sommer 2020 eine Studie zum Thema «Die Umsetzung des Partizipationsrechts des Kindes nach Art. 12 UN-KRK» veröffentlicht.

Die Studie möchte insbesondere darauf aufmerksam machen, dass das Recht des Kindes auf Partizipation, u.a. in Kindesschutzmassnahmen, nicht nur in der Gewährung der Kindesanhörung bestehe, sondern auch darin, dass der ermittelte Kindeswille bei der Entscheidungsfindung der Behörden und Gerichte berücksichtigt werden solle, wie dies der Art. 12 Abs. 1 UN-KRK festhält. Das SKMR fordert daher Partizipationsmöglichkeiten der Kinder/Jugendlichen während des gesamten Verfahrens und nicht nur im Rahmen der Kindesanhörung.

Im November 2020 hat die Konferenz für Kindes und Erwachsenenschutz (Kokes) Empfehlungen zur Situation der Pflegekinder in der Schweiz veröffentlicht. Insbesondere wurde hierbei auf die fehlende Datenlage und die mangelhafte Forschung im Bereich der ausserfamiliären Unterbringung hingewiesen. Die Forderungen der Kokes sind klar, Pflegekinder sollen mehr Partizipationsmöglichkeiten während des gesamten Verfahrens einer ausserfamiliären Unterbringung erhalten.