Die Früherkennung von gesellschaftlichen Veränderungen stellt immer wieder eine grosse Herausforderung für soziale Organisationen dar. Das Projekt «Trendforschung in der offenen Kinder- und Jugendarbeit» hat ein Instrument entwickelt, um diese Problematik aufzugreifen.
Ausgangslage und Handlungsbedarf
Die Digitalisierung hat in den vergangenen Jahren zu einer zunehmenden Beschleunigung der gesellschaftlichen Prozesse geführt. Dabei ist die Digitalisierung längst nicht mehr nur eine Thematik der Erwachsenen, sondern bereits ab dem Kindes- und Jugendalter von hoher Relevanz. Heutige Kinder und Jugendliche bewegen sich sowohl in analogen als auch digitalen Sozialräumen wie z.B. Tiktok, Snapchat oder Discord. Die dadurch entstehende schier unendliche Vielfalt an Interaktionen für die Kinder und Jugendlichen kann nicht nur bereichernde, sondern auch herausfordernde Aspekte haben.
Für Fachpersonen der offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) wird die Früherkennung von Trends durch die enorme Fülle an jugendrelevanten Themen fast unmöglich. Dadurch verfällt die Praxis oft in ein Reagieren auf aktuelle Trendentwicklungen, was eine bedarfs- und zielgruppenorientierte Arbeit deutlich erschwert. Genau um diese Problematik anzugehen, entstand im Rahmen eines Schwerpunkts zur digitalen Transformation des Kompetenzbereichs Kinder und Jugend (KJU) Baden 2018 das nachfolgend beschriebene Instrument zur «Trendforschung» in der OKJA.
Konzeptionierung und fachliche Grundlagen
Für die Konzeptionierung eines Instruments zur Früherkennung von Trends wurden die Grundlagen der klassischen Markt- und Konsumentenforschung hinzugezogen, da diese ebenfalls dem Kernziel der Früherkennung von gesellschaftlichen Innovationen zur Weiterentwicklung von u.a. Produkten oder Unternehmen dienen.
Als eine der zentralen Theorien wurde das «Meinungsführerkonzept» nach Everret M. Rogers verwendet. Darin beschreibt Rogers den Annahmeprozess von Innovationen in sozialen Systemen auf der gesellschaftlichen Makro-, bis hin zu jenem von Individuen auf der Mikroebene. Anhand der «S-Kurve der Diffusion und Adopter Kategorien» (siehe Abbildung) wird aufgezeigt, welche Art von sozialen Systemen zu welchem Zeitpunkt Innovationen – oder in unserem Fall Trends – annehmen.1

Schwarz: Gesamtgesellschaftliche Adoptionsrate von Innovationen. Grau: Prozentuale gesellschaftliche Aufteilung pro adaptierende Gruppe
Aufgrund der anfangs beschriebenen Ausganslage können wir annehmen, dass ein Grossteil der jugendlichen Zielgruppen als «Digital Natives» entweder zur «Frühen-» oder «Späten Mehrheit» bei der Annahme von digitalen Trends gezählt werden kann. Gleichzeitig können viele Fachpersonen als erwachsene «Digital Immigrants» entweder zur «Späten Mehrheit» oder gar zu den «Nachzüglern» gezählt werden, wodurch der oftmals wahrnehmbare Rückstand im Bewusstsein um zielgruppenrelevante Trendthemen erklärbar wird.
Begriffsdefinition "Digital Natives" und "Digital Immigrants"
«Als Digital Natives bezeichnet man die neue Generation junger Leute, die in das digitale Zeitalter hineingeboren wurden, wohingegen Digital Immigrants diejenigen sind, die den Gebrauch von Computern in einer Phase des Erwachsenenalters erlernt haben. Während man davon ausgeht, dass Digital Natives inhärent technologieaffin sind, wird bezüglich der Digital Immigrants angenommen, dass sie gewisse Schwierigkeiten mit der Informationstechnologie haben.»2
Die Fachpersonen in der offenen Kinder- und Jugendarbeit sind gefordert, die Zielgruppe aufzuholen, oder im besten Fall sogar zu überholen. Damit dies überhaupt geschehen kann, braucht es allerdings auch eine frühzeitige Auseinandersetzung mit Themen, die für die Zielgruppe potentiell relevant sein könnten.
Damit diese Früherkennung möglich wird, ist es hilfreich, einen Bezug zu Theorien des modernen Influencer Marketings zu machen. Während früher Marketing noch primär über meinungsführende Magazine und TV- oder Radiostationen betrieben wurde, funktioniert dies heute vermehrt über einflussreiche Individuen als Meinungsführer*innen.
Diese «Influencer*innen» stehen, anders als die «Innovatoren» und «frühen Übernehmer» im traditionellen Sinn, im direkten Kontakt zu einer Zielgruppe. Dadurch wird ein zielgruppenspezifischeres Marketing möglich. Die Influencer*innen befinden sich als wichtige Knotenpunkte in sozialen Systemen in einer sozialen Beziehung mit ihren Follower*innen. Diese bringen ihnen deswegen mehr Vertrauen entgegen, als den traditionellen Einflussgruppen, wie etwa Promis oder werbenden Unternehmen selber.
Influencer*innen haben als Meinungsführer*innen also einen direkten Einfluss auf die Meinungsbildung unserer Zielgruppen. Daraus kann geschlossen werden, dass durch ein gezieltes Monitoring und Scanning von Influencer*innen und Informationsbezugsmedien, wie z.B. Social Media, aber auch tradtionellen Medien wie TV oder Zeitschriften, eine Früherkennung von Innovationen und damit zusammenhängenden Trends möglich wird.
Praktische Umsetzung der Trendforschung
Auf Grundlage dieser theoretischen Überlegungen wurde eine für die KJU Baden spezifische Umsetzungsmöglichkeit erarbeitet. Das dabei entstandene Instrument zur Trendforschung umfasst zwei Hauptkomponenten. Zum einen erfolgt eine klassische Recherche über die meinungsführenden Kanäle, welche laufend durch die Projektleitung durchgeführt wird. Zum anderen werden die im Rahmen der Recherche zusammengetragenen Trendthemen auf ihre Relevanz hin evaluiert. Dies geschieht durch eine heterogen zusammengesetzen Gruppe von jugendlichen Trendscouts, die potentielle von tatsächlichen Themen unterscheidet. Gleichzeitig können die Trendscouts auch auf zusätzliche oder evtl. auf nicht in der vorgängigen Recherche erkannte Themen verweisen und damit die Früherkennung der wichtigsten Trends abrunden.
Schlussendlich wird diese Sammlung der aktuellesten Trends jeweils durch die Projektleitung aufgearbeitet und in Form eines monatlichen Newsletters an einen E-Mail-Verteiler, bestehend aus Mitarbeitenden des Teams KJU Baden, aber auch weiteren interessierten Fachpersonen der Sozialen Arbeit, versandt.
Mehrwert auf verschiedenen Ebenen
Die Erfahrungswerte durch den Einsatz des Instruments aus den vergangenen Jahren zeigen deutlich auf, dass die Trendforschung auf verschiedensten Ebenen einen Mehrwert für die Arbeit des Kompetenzbereichs KJU Baden generiert hat. So gelingt es, die Angebote und Projekte wieder vermehrt an den aktuellen Bedürfnissen der Zielgruppen orientiert zu gestalten. Des Weiteren zeigt sich, dass die Mitarbeitenden durch die monatlichen Infos zu digitalen Trends ihre Medienkompetenzen erweitern können. So erfolgt oft die Rückmeldung, dass dieser komprimierte Informationsfluss von aktuellen zielgruppenrelevanten Themen und Trends für die Optimierung der eigenen Zeitressourcen im Arbeitsalltag sehr geschätzt wird.
Der Einsatz des Arbeitsinstruments «Trendforschung» zeigt auf, dass soziale Organisationen durch einen gezielten und zentralisierten Einsatz wirkungsvoller Massnahmen mit der enormen Geschwindigkeit der gesellschatlichen Entwicklung «mithalten» können.
Abschliessend darf hierbei aber natürlich nicht unbetont bleiben, dass für die Umsetzung der Trendforschung erhebliche zeitliche wie auch finanzielle Ressourcen benötigt werden und darüber hinaus auch eine hohe digitale Grundkompetenz einer Projektleitung essentiell ist. Da diese Voraussetzungen aber längst nicht in allen sozialen Organisationen gegeben sind, sind wir als Fachprofession Soziale Arbeit gefordert, bestehende Kompetenzen zu bündeln und miteinander zu teilen.
Bei Interesse am Trendforschungs Newsletter: ken.rueegg@baden.ch
1 Karnowski, Veronika & Kümpel, Anna Sophie (2016). Diffusion of Innovations von Everett M. Rogers (1962). In M. Potthoff (Hrsg.), Schlüsselwerke der Medienwirkungsforschung, S. 97-107. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
2 Wang, Qian, Myers, Michael D. & Sundaram, David (2013). Digital Natives und Digital Immigrants. In Wirtschaftsinformatik 55, S. 409–420. Auckland: University of Auckland Business School.
Autor*in
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Ken Rüegg
Leitung digitale Transformation KJU Stadt Baden
Kontakt

Christine Mühlebach
Im Zusammenhang mit der Digitalisierung sind Fach- und Leitungspersonen nicht nur herausgefordert, sich mit dem Gegenwärtigen auseinanderzusetzen. Es stellt sich auch die Frage: Was kommt als Nächstes?
Im Sinne eines «best practice»-Beispiels zeigt Ken Rüegg, Soziokultureller Animator bei der Kinder- und Jugendanimation der Stadt Baden, in seinem Beitrag, wie Trendforschung zum Beantworten dieser Frage eingesetzt werden kann.