Der technologische Wandel hat sich schon längst in unser aller Alltag eingeschrieben. Für die Adressat*innen bringt die Digitalisierung Herausforderungen und Chancen mit sich.
Der lebensweltorientierte Ansatz nach Hans Thiersch stellt den Alltag und die praktischen Herausforderungen und Probleme der Adressat*innen ins Zentrum. Der Alltag bringt unter Umständen Probleme mit sich, die ein Mensch mit seinen bisherigen Erfahrungen und Kompetenzen nicht mehr eigenständig bewältigen kann. Gleichzeitig sind nicht nur die individuellen Begebenheiten, sondern auch die gesellschaftlichen und strukturellen Verhältnisse zu beachten, in welcher ein Mensch lebt und sich bewegt. Beide Aspekte gehören zur sogenannten Lebenswelt der Adressat*innen.
Informationen zur Lebenswelt gewinnen
Sich mit verfügbaren Zahlen und Fakten zu verschiedenen Aspekten der digitalen Lebenswelt der Adressat*innen auseinander zu setzen, ist ein sinnvoller Schritt, um sich dieser anzunähern. Zwar lassen sich daraus keine direkten Schlussfolgerungen für individuelle Situationen ableiten. Aber es lassen sich eigene Meinungen und Haltungen ausdifferenzieren und reflektieren. Allerdings nur dann, wenn die verfügbaren Daten Aussagen zum Sozialwesen resp. zu den verschiedenen Adressat*innen enthalten. Mit Blick auf die Daten zum Thema «Informationsgesellschaft» des Bundesamtes für Statistik muss jedoch festgestellt werden, dass dem Sozialwesen insgesamt wenig systematische Information zur Verfügung steht, die spezifische Erkenntnisse zu den verschieden Zielgruppen liefern. Die sozialen Organisationen haben aber die Möglichkeit, relevante Informationen direkt bei der Zielgruppe zu gewinnen. Beispielsweise indem das Erleben und Handeln der Klientel bei direkten Kontakten thematisiert oder auch Informationen zu verfügbarer Infrastruktur oder den Kompetenzen erhoben werden.
Grundlegende Herausforderungen
Im Zusammenhang mit der Digitalisierung und dem technologischen Wandel bedeutet dies, die digitalen und virtuellen Realitäten ins Alltagsverständnis einzubetten und «Räume» in denen sich die Lebenswirklichkeit der Adressat*innen abspielt, nicht nur physisch zu denken.
Je nach finanziellen Möglichkeiten sowie Sprach- und Digital-Kompetenzen der Klientel, stellt bereits die Ausstattung resp. der Zugang zur Nutzung digitaler Möglichkeiten eine Herausforderung dar. Zudem stellt die Geschwindigkeit, mit welcher der technologische Wandel fortschreitet, ein stetes Exklusionsrisiko dar: Nur wem es gelingt, mit den Entwicklungen einigermassen Schritt zu halten, kann die Möglichkeiten der Digitalisierung auch zukünftig für sich nutzen.
Weiter kann die bewusste Wahrnehmung der Digitalisierung zur Herausforderung werden. Die wenigsten Nutzer*innen setzen sich explizit mit den Einflüssen der Digitalisierung auf ihr Leben, Erleben und ihr Nutzungsverhalten auseinander. Und die technischen Möglichkeiten werden genutzt, ohne dass sie tatsächlich verstanden werden müssen (z.B. Algorithmen). Dieses Unbewusste bewusst zu machen, kann in der Arbeit der Fachpersonen mit den Adressat*innen zentral sein. Vor allem dann, wenn sich negative Folgen einer digitalen Mediennutzug zeigen.
Ressourcen und ihre Defizite
Bei den im Beitrag aufgeführten Ressourcen, welche durch die Digitalisierung in der Lebenswelt der Adressat*innen entstehen, ist der Blick in diesem Beitrag bewusst nur auf die positiven Aspekte gerichtet, auch wenn die genannten Ressourcen auch negative Konsequenzen haben können.
Ressourcen der digitalen Lebenswelt
Die Digitalisierung bringt aber nicht nur Risiken und Herausforderungen für Adressat*innen mit sich. Sie birgt auch Chancen und Ressourcen, die zur Bewältigung des Alltags einen positiven Beitrag leisten können (Beranek, S. 118).
Digitale Möglichkeiten können in der alltäglichen Lebensführung eine Unterstützung und Erleichterung sein. Online-Einkäufe können - beispielsweise bei gesundheitlichen Einschränkungen - eine Entlastung darstellen. Der Kauf von Tickets für den öffentlichen Verkehr via Smartphone-App erspart das Anstehen am Schalter. Chatbots auf Firmenwebseiten beantworten Fragen unabhängig von der Warteschlaufe am Telefon oder von Büroöffnungszeiten. Und via Internet sind beinahe unendlich viele Informationen zu Lösungen alltäglicher Probleme abrufbar.
Im Hinblick auf Unterstützungsmöglichkeiten bei sozialen Problemlagen kann der Zugang zu digitalen Angeboten einfacher und niederschwelliger sein, was möglicherweise eine frühere Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen zur Folge hat. Insbesondere bei schambehafteten Themen kann eine anonymer Erstkontakt mit Fachpersonen Hemmschwellen auf Seite der Klientel abbauen (bspw. in der Schuldenberatung). Zusätzlich bietet die Digitalisierung eine zusätzliche Möglichkeit Angebote im Bereich der Selbsthilfe zu finden und zu nutzen: beispielsweise durch die Beteiligung an Online-Foren für den Erfahrungsaustausch zu konkreten Problemlagen oder durch den Austausch in Chat-Gruppen.
Nicht zuletzt bietet die Digitalisierung auch eine Vielzahl und Vielfalt an Möglichkeiten zur Erweiterung von sozialen Beziehungen sowie zur Identitätsarbeit und zur Orientierung an, indem der orts- und zeitunabhängige Zugang zu «Gleichgesinnten» mit ähnlichen Lebensthemen oder Interessen vereinfacht wird.
Erkenntnisse für die Weiterentwicklung nutzen
Fachpersonen und soziale Organisationen, die sich am lebensweltorientierten Ansatz orientieren, setzen sich dezidiert mit der Lebenswelt ihrer Zielgruppe auseinander, um Chancen und Risiken dieser Lebenssituationen zu kennen und ihre Tätigkeiten und Angebote darauf auszurichten. Die zentrale Herausforderung für die lebensweltorientiert arbeitenden Fachpersonen ist, die Lebenswelt und die individuellen Sinnzusammenhänge der Adressat*innen zu verstehen und aufgrund des kontinuierlichen Wandels fortlaufend neu zu reflektieren (Beranek, S. 121). Um die Angebote der sozialen Organisationen und die Tätigkeiten der Fachpersonen zukunftsorientiert weiterzuentwickeln, sind Erkenntnisse über die konkreten Begebenheiten und Veränderungen in der digitalen Lebenswelt der Adressat*innen in die professionelle Arbeit mit zu berücksichtigen. Wo nicht auf vorhandene Wissensgrundlagen– beispielsweise aus der Forschung - zurückgegriffen werden kann, können solche Erkenntnisse in der täglichen Arbeit der Fachpersonen oder mit partizipativen Ansätzen gewonnen werden.
- Beranek Angelika (2021) Soziale Arbeit im Digitalzeitalter. Eine Profession und ihre Theorien im Kontext digitaler Transformation. Weinheim: Beltz Juventa
- Thiersch Hans (2020) Lebensweltorientierte Soziale Arbeit – revisited. Weinheim: Beltz Juventa
Autor*in

Christine Mühlebach
Produktmanagement Digitalisierung
E-Mail: christine.muehlebach@sozialinfo.ch

Christine Mühlebach
Der technologische Wandel beeinflusst die alltägliche Lebensrealität der Adressat*innen der Sozialen Arbeit und die damit zusammenhängenden Herausforderungen für die Bewältigung des Alltages. Nebst Risiken bringt die Digitalisierung aber auch Chancen mit sich.
Der lebensweltorientierte Ansatz nach Hans Thiersch stellt den Alltag und seine konkreten, praktischen Probleme ins Zentrum. Dieser Alltag findet schon lange nicht mehr ausschliesslich in physischen Räumen statt. Das Digitale und seine Einflüsse aus der Perspektive der Adressat*innen zu kennen und sie auch vor dem Hintergrund der fortschreitenden Veränderung immer wieder neu zu reflektieren, ist eine zentrale Herausforderung und gleichzeitig eine grosse Chance für Fachpersonen und Organisationen, die nach diesem Ansatz arbeiten.