Studien und Praxisstimmen nehmen regelmässig Bezug darauf, dass Fachpersonen der Sozialen Arbeit der Digitalisierung mit Widerstand begegnen. Die Ursachen dafür zu kennen, ist ein erster Schritt für deren Bearbeitung.
Zum Einstieg eine kurze Einordnung: An sich sollte es keine Überraschung sein, dass Fachpersonen der Sozialen Arbeit auf die Digitalisierung auch mit Widerstand reagieren. Einerseits ist Widerstand eine ganz normale, menschliche Reaktion auf Veränderungen. Und andererseits zählt eine kritische, reflektierte Haltung gegenüber Entwicklungen zum professionellen Habitus der Sozialen Arbeit.
Den Widerstand oder die Kritik der Fachpersonen pauschal mit der Begründung abzutun, dass die Digitalisierung ja sowieso stattfindet und Widerstand damit zwecklos sei, greift in jedem Fall zu kurz. Ursachenforschung ist bei der Bearbeitung von Widerstand der zentrale Ansatzpunkt. Denn Fachpersonen können ganz unterschiedliche Gründe haben, sich in Bezug zur Digitalisierung kritisch oder widerständig zu positionieren.
Gründe sind vielfältig
Der Widerstand gegen die Digitalisierung kann individuelle, fachliche, professionsbezogene, organisationale oder strukturelle Gründe haben. Nachfolgend wird eine Übersicht möglicher Gründe dargelegt 1, welche bei Fachpersonen der Sozialen Arbeit zu Widerstand oder zu einer Abwehrhaltung in Bezug auf die Digitalisierung führen können:
Individuelle, fachliche Ebene
- Die digitale Interaktion wird im Vergleich zum direkten zwischenmenschlichen Kontakt nicht als gleichwertig eingeschätzt oder es werden Qualitätseinbussen (z.B. im Beziehungsaufbau) befürchtet.
- Wenn die digitalen Tools durch ihre Funktionalitäten zu starke Nutzungsvorgaben machen, droht eine Überformung von Inhalt und Form des methodischen Handelns.
- Ein Mangel an digitalen Kompetenzen verstärkt die Unsicherheit im professionellen Umgang mit digitalen Möglichkeiten.
- Es besteht ein Gefühl der Ohnmacht, weil man wenig Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der digitalen Mittel nehmen kann (z.B. Verbesserung der verfügbaren Fachsoftware).
Professionsbezogene, berufsethische Ebene
- Es werden eine Abwertung der professionellen Tätigkeit oder weitere Deprofessionalisierungstendenzen durch den Einsatz von Technologie befürchtet, insbesondere wenn dieser mit Sparvorhaben im Rahmen der Austeritätspolitik begründet wird.
- Es bestehen professionsethische Gründe. Beispielsweise wenn die Digitalisierung zu zusätzlichen Exklusionsrisiken oder Benachteiligungen bei bestimmten Personengruppen führt (z.B. Armutsbetroffene, Menschen mit einer Behinderung), bei offenen Fragen des Datenschutzes oder im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Daten (z.B. zur illegitimen Kontrolle oder Überwachung von Klient*innen).
Organisationale Ebene
- Es fehlt den Mitarbeitenden an Vertrauen, dass die eigene Organisation die Veränderungen gelingend gestalten resp. umsetzen kann.
- Die Mitarbeitenden sind sich der knappen oder fehlenden Ressourcen (finanziell und personell) bewusst und sehen es als hohes Risiko an, digitale Vorhaben zusätzlich zum «Tagesgeschäft» meistern zu können.
- Es besteht Unsicherheit in Bezug auf die Zuständigkeit resp. Verantwortlichkeit in digitalen Themen (z.B. Support/Training der Klientel). Allenfalls kollidiert der Bedarf der Adressat*innen mit dem gesellschaftlichen oder politischen Auftrag.
- Es wird befürchtet, dass die Abgrenzung zwischen Beruflichem und Privatem zunehmend schwieriger einzuhalten ist (z.B. durch SocialMedia-Nutzung) und dass damit negative Konsequenzen in Bezug auf Selbstsorge und Erholung einhergehen. Dies hat eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zur Folge.
Strukturelle Ebene
- Es wird wahrgenommen, dass von Seiten der Politik und den finanzierenden Stellen wenig Bereitschaft vorhanden ist, in die digitale Entwicklung des Sozialwesens substanziell zu investieren.
Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zeigt jedoch auf, welche Spuren bei der Ursachenforschung weiterverfolgt werden können. Derzeit gibt es (noch) keine repräsentative Studie zu dieser Thematik.
Digital Affine nicht übersehen
Selbst wenn die widerständigen Stimmen deutlicher zum Ausdruck kommen sollten: Die gegenteilige Position ist im Kreis der Fachpersonen der Sozialen Arbeit ebenso vertreten.
Im Rahmen des kooperativen Forschungsprojektes «through2gehter» der Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW und des Vereins Sozialinfo wurden im Herbst 2021 die über 1'400 Umfrageteilnehmenden aus dem Sozialbereich nicht nur zur digitalen Entwicklung, sondern auch zu ihrer technikbezogenen Einstellung befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass man den im Sozialwesen tätigen Personen Unrecht tut, wenn man ihnen per se Widerständigkeit oder Aversion in Bezug auf die Digitalisierung unterstellt. Dazu einige ausgewählte Ergebnisse aus der Umfrage 2:
- 65% der Befragten sind in Bezug auf technische Entwicklungen völlig oder ziemlich neugierig
- Lediglich 1% der Befragten findet den Umgang mit neuer Technik völlig oder ziemlich schwierig
- 35% der Befragten stimmen der Aussage zu, dass sie stets daran interessiert sind, die neusten technischen Geräte zu verwenden
- Über 90% der Befragten haben wenig oder gar keine Berührungsängste mit technischen Neuentwicklungen.
Natürlich ist zu berücksichtigen, dass sich der Hauptteil der Umfrage auf die digitale Entwicklung in sozialen Organisationen während der Covid19-Pandemie bezieht und dass der Fragebogen deshalb eher von digital interessierten Personen ausgefüllt wurde.
Fazit
Sowohl jene Mitarbeitenden, die der Digitalisierung kritisch gegenüberstehen, als auch jene mit einer offenen Haltung sind für die digitale Transformation im Sozialwesen eine Ressource, um eine gute fachliche Entwicklung zu gewährleisten. Um soziale Organisationen in der Bearbeitung von Widerständen gegen die Digitalisierung zu unterstützen, wären zusätzliche repräsentative Forschungsergebnisse und Beispiele guter Praxis hilfreich.
Für die Bearbeitung sind Ursachen und Gründe auf den genannten Ebenen zu reflektieren und zu erforschen. Fachpersonen können dadurch ihre professionelle Haltung schärfen. Und soziale Organisation finden möglicherweise weitere digitale Themen, bei welchen sie auf Hürden oder Blockaden stossen. Wesentlich ist, die Widerstände nicht zu ignorieren, sondern sie als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung zu nutzen.
1 Eurofound (2020), Impact of digitalisation on social services, Publications Office of the European Union, Luxembourg.
Kettil Nordesjö, Gabriella Scaramuzzino & Rickard Ulmestig (2021): The social worker-client relationship in the digital era: a configurative literature review, European Journal of Social Work, DOI: 10.1080/13691457.2021.1964445
Eigene Praxisrecherche und Netzwerkkontakte von sozialinfo.ch, Kompetenzzentrum Digitalisierung & Soziale Arbeit durch Christine Mühlebach
2 Bestgen, Kirchhofer & Mühlebach (2022) Vorläufige Auswertungsergebnisse des Projektes «through2gether» (internes Dokument), FHNW / sozialinfo.ch
Autor*in

Christine Mühlebach
Produktmanagement Digitalisierung
E-Mail: christine.muehlebach@sozialinfo.ch

Christine Mühlebach
In Diskussionen über die Digitalisierung im Sozialbereich taucht regelmässig die Aussage auf, dass sich Fachpersonen der Sozialen Arbeit nur ungern darauf einlassen würden. Auch wenn solche Äusserungen nicht der ganzen Wahrheit entsprechen, so ist doch ein gewisser Widerstand gegen digitale Entwicklungen spürbar.
Dabei können die Gründe für eine kritische (Zurück-)Haltung auf persönlicher, fachlicher, professionsbezogener, organisationaler oder struktureller Ebene verortet sein. Sie reichen von mangelnden Kompetenzen bis zu fehlenden Ressourcen für Veränderungsprojekte, die meist neben dem Alltagsgeschäft gestemmt werden. Daneben darf aber nicht vergessen werden: Die digital Affinen und Interessierten gibt es genauso.
Zudem: Wir sind der Überzeugung, dass in einer stärkeren brancheninternen Vernetzung (online & offline) noch viel brachliegendes Potenzial schlummert (z.B. für den Austausch über gute Praxis oder Kooperationen bei gleichen Interessen) – nicht nur für die Digitalisierung.