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Digitale Entwicklungen in sozialen NPOs verstehen

18.11.2021 - 28 Min. Lesezeit

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Portrait von Sabine Muff, Sozialinfo.

Autor*innen

Studierende der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW haben untersucht, wie Professionelle der Sozialen Arbeit die digitalen Entwicklungen, deren Umsetzung und Nutzen im Berufsalltag erleben. Das dabei entwickelte Netzwerkmodell gibt wertvolle Impulse zur Entwicklung einer Digitalisierungsstrategie.

Die Debatte um die Digitalisierung in der Sozialen Arbeit ist kein Novum mehr. Digitale Transformationsprozesse finden je länger je mehr in unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit statt. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Digitalisierungsthemen ist deshalb für Organisationen des Sozialwesens heute unumgänglich.

Vor diesem Hintergrund sind Masterstudierende der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW der Frage nachgegangen, wie Führungs- und Fachkräfte der Sozialen Arbeit die Digitalisierung erleben. Ihre Studie zeigt auf, dass dieses Erleben zum einen von individuell unterschiedlichen Bedürfnissen und Kompetenzen, sowie zum anderen von den vorhandenen Partizipationsmöglichkeiten in einer Organisation abhängt. Bei der Frage, ob soziale Organisationen die Möglichkeiten und Chancen der digitalen Veränderungsprozesse ausschöpfen können, spielt das Vorhandensein einer Digitalisierungsstrategie eine grosse Rolle.

Digitalisierung ist ein emotionales Thema

Die im Rahmen der Studie befragten Leitungspersonen und Mitarbeitenden von privaten und öffentlich-rechtlichen sozialen NPOs erleben die Digitalisierung im Grossen und Ganzen als positive Entwicklung mit Potenzial, aber auch mit Gefahren. Die Studie zeigt auf, dass sie unter dem Begriff Digitalisierung mehr als nur eine technische Entwicklung verstehen. Vielmehr sehen sie darin einen übergreifenden Transformationsprozess, da nebst der technischen Entwicklung die Art der Zusammenarbeit (intern und extern), die Prozessabläufe und die Angebotserbringung beeinflusst werden. Diese Veränderungen zeigen sich sowohl im Berufsalltag als auch im Privatleben.

So hat etwa die Homeoffice-Pflicht im Rahmen der Corona-Pandemie dazu geführt, dass sich Leitungspersonen und Mitarbeitende gezwungenermassen vermehrt mit der Digitalisierung befassen mussten. Dabei konnten Mitarbeitende Ängste in Bezug auf die Technik und deren Anwendung teilweise abbauen, da sie neue und andere Möglichkeiten kennen lernen konnten, beispielsweise im Bereich der Online-Beratung.

Die Partizipationsmöglichkeiten fördern

Führungskräfte sehen es als Leitungsaufgabe, digitale Entwicklungen in ihren Organisationen zu initiieren und zu begleiten. Dabei tun sie gut daran, das individuelle Erleben ihrer Mitarbeitenden mitzuberücksichtigen. Deren Bedürfnisse nach Schulungen, Weiterbildungen und den Einbezug in das Thema sind abhängig von bereits vorhandenem Vorwissen und Kompetenzen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist der Nutzen, den die Mitarbeitenden in digitalen Entwicklungen für den Arbeitsalltag erkennen.

Die Partizipationsmöglichkeiten der Mitarbeitenden sind aufgrund verschiedener Interessen, Fähigkeiten und Funktionen innerhalb einer Organisation sehr unterschiedlich. Dies erfordert von den Führungskräften eine Auseinandersetzung mit den Kompetenzen der Mitarbeitenden und einen individuellen Einbezug der Fachkräfte in diesem fortlaufenden Digitalisierungsprozess. Um den Grad der Partizipation zu erhöhen, sollte ein besonderes Augenmerk auf die Förderung der notwendigen Kompetenzen der Mitarbeitenden und Leitungspersonen gelegt werden. Kompetenzen bedeuten in diesem Kontext jedoch nicht lediglich Wissen in der Anwendung der Technik, sondern auch die Fähigkeit, Unsicherheiten auszuhalten und sich permanent auf Neues einlassen zu können. Dies kann nur gelingen, wenn diese Fähigkeiten im Arbeitsalltag allgemein gefördert und gefordert werden und diesbezüglich eine Fehlerkultur gelebt wird, die zur Auseinandersetzung mit digitalen Entwicklungen ermutigt. Voraussetzung ist, dass Führungskräfte in diesem Zusammenhang in einem engen Austausch mit ihren Mitarbeitenden stehen.

Die Studie hat deutlich gezeigt, dass während der Weiterentwicklung von Digitalisierungsprozessen innerhalb von sozialen NPOs die Perspektive der Klientel in Bezug auf die digitale Entwicklung kaum berücksichtigt wird und Partizipationsmöglichkeiten fehlen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf seitens der sozialen Organisationen, um Dienstleistungen konsequent auf die Bedürfnisse der Klientel auszurichten und um sie dabei zu unterstützen, auch unter veränderten Bedingungen an der Gesellschaft teilhaben zu können. Die Förderung der Partizipationsmöglichkeiten ist jedoch abhängig von organisationalen Rahmenbedingungen wie zeitlichen und finanziellen Ressourcen. Diese teilweise limitierenden Faktoren bedingen eine Strategie im Umgang mit digitalen Entwicklungen.

Fehlende Digitalisierungsstrategie

Es zeigte sich, dass in den meisten der acht befragten Organisationen eine Digitalisierungsstrategie fehlt. Die Aussagen in den Interviews wiesen jedoch deutlich darauf hin, dass eine organisationsspezifische Strategie im Umgang mit den digitalen Entwicklungen unabdingbar ist. Damit können technische Entwicklungen im Hinblick auf die Organisationsziele definiert und finanzielle Investitionen wie auch die Kompetenzerweiterung der Mitarbeitenden legitimiert werden. Eine Digitalisierungsstrategie bietet damit Orientierung und kann Unsicherheiten entgegenwirken. Darüber hinaus ermöglicht sie eine längerfristige Planung auf verschiedenen Ebenen (Finanzen, Angebotsgestaltung, Schulung etc.), was einerseits Frustrationen und Fehlinvestitionen minimieren und andererseits neue Perspektiven eröffnen kann. Längerfristige Digitalziele können so schrittweise aufgebaut und umgesetzt werden. Somit gilt es, nebst den Bedürfnissen der Mitarbeitenden auch die Bedürfnisse der Klientel systematisch zu erfassen und die Erkenntnisse für die laufende Angebotsoptimierung zu nutzen. Dazu gehört auch, den Blick in die Zukunft zu richten und sich mit den Bedürfnissen, aber auch Gewohnheiten in Bezug auf die Inanspruchnahme von Dienstleistungen, unter Berücksichtigung der notwendigen Zugangsmöglichkeiten von Infrastruktur sowie relevanter Kompetenzen künftiger Klientel, zu befassen.

Das Netzwerkmodell «Erleben Digitalisierung»

Anhand der Daten der Interviewauswertungen wurde das Netzwerkmodell «Erleben Digitalisierung» entwickelt, das Organisationen wertvolle Impulse zur Entwicklung einer Digitalisierungsstrategie geben kann.

Ausgangspunkte sind die vier Dimensionen Prozessgestaltung, Partizipation, persönliche Haltung und Rahmenbedingungen & Organisation, sowie die Perspektiven der beteiligten Akteurinnen und Akteure, also Leitungspersonen, Mitarbeitende, Klientel und Schnittstellen. Die Auswertung hat gezeigt, dass die Dimensionen in Wechselwirkung zueinanderstehen und alle einen Einfluss darauf haben, wie die Akteure die Digitalisierung erleben.

Der von den interviewten Personen erkannte Nutzen der Digitalisierung kristallisierte sich als wesentlicher Aspekt heraus (rot) und beeinflusst wechselwirkend das Erleben und Handeln der beteiligten Akteurinnen und Akteure (grün). Dabei sollten für jede Akteursgruppe unterschiedliche Schwerpunkte (grau) berücksichtigt werden: Leitungspersonen benötigen neue, partizipative Führungsansätze und ein ganzheitliches Digitalisierungsverständnis. Die Mitarbeitenden sind gefordert, sich mit ihren (digitalen) Kompetenzen regelmässig auseinanderzusetzen, diese weiterzuentwickeln und den Mut zu haben, Neues auszuprobieren. Damit Digitalisierung auch auf der Ebene der Klientel genutzt werden kann, ist die Erfassung ihrer Bedürfnisse zentral. Durch den schnelllebigen Prozess der Digitalisierung kommt es zur Beeinflussung durch unterschiedliche äussere Faktoren wie beispielsweise die Entwicklung neuer Softwares, die Corona-Massnahmen oder gesetzliche Vorgaben wie Datenschutz oder Datensicherheit. Diese Planungsunsicherheit und die Zusammenarbeit mit diversen Schnittstellen gilt es in einer Strategie zu berücksichtigen.

Grafische Darstellung des Netzwerkmodells «Erleben Digitalisierung»

Netzwerkmodell «Erleben Digitalisierung» | Lorenz Brandel et al. / FHNW

Das Netzwerkmodell bietet Organisationen einen Überblick über die wesentlichen Aspekte, welche in einer Digitalisierungsstrategie berücksichtigt werden sollten. Diese können anhand des Auftrages und der Ziele organisationsspezifisch gewichtet und ausgestaltet werden. Dabei gilt es, neben der technischen Ebene auch die Aspekte des Erlebens zu berücksichtigen.

Anknüpfungspunkte für die Berufspraxis und weiterführende Fragen

Die Veränderungen im Arbeitsalltag, welche durch die Corona-Massnahmen notwendig wurden, sind mittlerweile zumindest teilweise zu einer «neuen Normalität» geworden. Die Haltung der Mitarbeitenden und Leitungspersonen gegenüber digitalen Entwicklungen, welche vor allem im letzten Jahr spürbar war, hat sich verändert. Es ist davon auszugehen, dass eine vollständige Rückkehr zur Arbeitssituation vor 2020 nicht mehr realistisch ist. Dies gilt nicht nur für die Angestellten einer Organisation, sondern auch für die Klientel und stellt Organisationen vor die Frage, wie sie künftig ihre Dienstleistungen erbringen wollen und wo sie ihren Schwerpunkt legen.

Agile Organisationsformen

Unter agilen Organisationsformen werden Organisationsstrukturen verstanden, die sich in kurzer Zeit an Marktanforderungen anpassen. Agile Organisationen reagieren schnell und flexibel auf Veränderungen oder initiieren diese sogar selber durch proaktives Verhalten. Diese agilen Ansätze werden auf der Ebene der Leitung und Mitarbeitenden angewandt. Bekannte Beispiele, die auch in der Studie genannt werden, sind Holokratie oder Soziokratie.


Die qualitative Studie schlägt mit dem Netzwerkmodell einige mögliche Anknüpfungspunkte für die Berufspraxis vor. So kann eine organisationsspezifische Digitalisierungsstrategie inhaltliche, technische und finanzielle Sicherheit für alle Beteiligten schaffen, was das Erleben der Digitalisierung positiv beeinflusst. Die Digitalisierungsstrategie sollte interdisziplinär und somit unter Einbezug der Professionellen der Sozialen Arbeit sowie der Informatikabteilung erarbeitet werden. Dabei zeigen erste Erfahrungsberichte auch Innovationen im Bereich agiler* Organisationsformen, beispielsweise durch die Bildung eines Innovationsteams, wodurch Mitarbeitende Partizipationsmöglichkeiten erhalten. Eine weitere Implikation für die Berufspraxis stellt der Einbezug der Klientenperspektive dar. Das Wissen um die Bedürfnisse der Klientel in Bezug auf die digitale Ausgestaltung der Dienstleistungen ermöglicht ein breiteres sozialarbeiterisches Handlungsspektrum, da die Klientel dadurch individueller begleitet werden kann. So stellt sich auf einem Sozialdienst oder einer Beratungsstelle beispielsweise die Frage, welche Kompetenzen Sozialarbeitende und das Klientel im Umgang mit webbasierten Dienstleistungen von Amtsstellen oder bei der Anwendung von Applikationen auf dem Smartphone für Online-Wohnungssuche benötigen.

Die vergangenen, durch die Corona-Pandemie geprägten Monate, haben Entwicklungsschritte und neue Herangehensweisen in Organisationen ermöglicht. Es bleibt zu hoffen, dass soziale NPOs die Chance nutzen, vermehrt aus eigener Initiative Prozesse neu zu gestalten und somit Digitalisierungsschritte aus der Perspektive der Sozialen Arbeit mitzugestalten und dafür die Klientel als wichtige Kooperationspartner*innen zu gewinnen und zu befähigen, damit digitale Entwicklungen verstanden und umgesetzt werden können.

Autor*innen

Lorenz Brandel

Michael Burkhalter

Nicole Buser

Almira Mehmedovic

Alexandra Schneider

Claudia Wiedemann

Dominique Zäpfel

Sozialinfo

Im Rahmen einer Forschungswerkstatt von Masterstudierenden der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW wurden in mehreren Kantonen soziale NPOs aus dem privaten und öffentlich-rechtlichen Bereich in Bezug auf das Erleben der Digitalisierung befragt. An der qualitativen Studie haben sich Leitungspersonen und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter aus dem Bereich der Sozialhilfe sowie privaten Beratungsstellen beteiligt. Die Studie befasst sich mit der Frage, wie Veränderungsprozesse aufgrund der Digitalisierung von den 16 Befragten in Bezug auf die Dimensionen Prozessgestaltung, Partizipation, persönliche Haltung und Rahmenbedingungen & Organisation erlebt werden.