Der Lockdown während der Covid-19-Pandemie wirkte im Sozialbereich als starker Digitalisierungstreiber. Das Forschungsprojekt «Through2gether» untersuchte diese Entwicklung mit Befragungen zu drei verschiedenen Zeitpunkten. Der dritte und abschliessende Bericht erfasst, welche Veränderungen sich im Sozialbereich dauerhaft etabliert haben.
Bisherige Erkenntnisse
Das Projekt «Through2gether» hatte zum Ziel, die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die digitalen Entwicklungen im Sozialbereich in der Schweiz zu untersuchen.
In der ersten und zweiten Erhebungswelle zeigte sich ein markanter Unterschied zwischen den ambulanten und stationären Angeboten. Während ambulante Dienstleistungen an die Bedingungen der Pandemie angepasst oder eingestellt werden konnten, mussten die stationären weiterhin aufrechterhalten werden. Dies förderte bei den sozialen Einrichtungen und ihren Mitarbeitenden die Bereitschaft, sich auf digitale Lösungen einzulassen.
Im weiteren Verlauf haben ambulant tätige Organisationen ihre digitalen Angebote und Strukturen bis zur Endemie weiterentwickelt, während bei stationären Organisationen verstärkt eine «Rückkehr zum Alten» zu verzeichnen war. Auch zeigten die Befragungen, dass Mitarbeitende nach einiger Zeit häufiger Treiber digitaler Entwicklungen waren, während zu Beginn vor allem Leitungspersonen als Treiber genannt wurden.
«Through2gether»
Through2gether wurde als kooperatives Forschungsprojekt durchgeführt. Sozialinfo und das Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement der FHNW, Soziale Arbeit führten zu drei Zeitpunkten eine Befragung mittels Online-Fragebogen durch.
An der ersten Erhebungswelle im Juni und Juli 2020 nahmen 864 Organisationen teil.
Für die zweite Erhebungswelle im September 2021 konnten 791 Organisationen gewonnen werden.
Die Ergebnisse der dritten Erhebungswelle
Im Juni 2023 wurde die dritte und letzte Erhebung von Through2gether durchgeführt, an der noch 360 Organisationen teilnahmen. Insgesamt haben damit während den drei Erhebungswellen 2015 Organisationen den Fragebogen ausgefüllt, wovon nur 107 Organisationen an allen drei Befragungen teilgenommen haben. Die folgenden Analysen basieren daher auf einem Kohortenvergleich (N=864; 701; 360) und nicht auf einer Panelstudie.
Der Anteil der grösseren Organisationen ist in der Befragung kontinuierlich gewachsen. Möglicherweise befassten sich grössere Organisationen längerfristig mit der Digitalisierung und zeigten deshalb mehr Interesse an der Teilnahme. Auch kann die Analyse nicht ausschliessen, dass insbesondere kleinere Organisationen ihre Angebote aufgrund der Pandemie einstellen mussten. Da keine Statistik bezüglich der Struktur in der Soziallandschaft geführt wird, bleibt diese Frage offen.

Anzahl der Mitarbeitenden | FHNW
Professionalisierung der IT
Im Verlauf der Untersuchungsperiode haben soziale Organisationen
externe IT-Dienstleister in Anspruch genommen. Auch die Anzahl an internen Fachpersonen hat zugenommen, die Aufgabenbereiche bisheriger interner IT-Verantwortlicher ohne IT-Ausbildung übernommen haben.
Vermutlich haben sich mit der Pandemie zunehmend komplexere Fragen hinsichtlich IT-Infrastruktur und der Datenschutzanforderungen ergeben, welche professionelle Unterstützung erforderten. Zudem trat das neue Datenschutzgesetz am 1. September 2023 in Kraft, welches zwar nach unseren Erhebungen datiert ist, aber wohl bereits im Vorfeld zusätzliches technisches Knowhow voraussetzte.

Anzahl Digitalisierungsrollen pro Erhebungswelle | FHNW
Stärkere Entwicklung im ambulanten Bereich
Wie bereits erwähnt hat sich der ambulante Bereich digital stark entwickelt, nachdem die Organisationen ihre Angebote in der ersten Pandemiewelle schnell anpassen mussten. Wir sehen nun, dass die Entwicklung zwischen der zweiten und dritten Erhebung einen Rückgang erfahren hat. Davon sind sowohl die ambulanten als auch die stationären Angebote betroffen.

Entwicklungsstand von Angebote pro Erhebungswelle | FHNW
E-Mail bleibt Spitzenreiter der technischen Kommunikation
In sämtlichen Befragungen haben wir nach der Nutzung der verschiedenen digitalen Kommunikationskanäle gefragt. Die Ergebnisse zeigen, dass E-Mails konstant häufig genutzt werden. Sie nehmen mit zunehmender Diversität der Kommunikationskanäle nicht ab, auch wenn Dienste wie beispielsweise Messenger-Angebote ihre Vorteile gegenüber der Mailkommunikation herausstreichen. Anscheinend verharren diese Dienste im Status einer wenig genutzten Parallelstruktur.
Andererseits zeigen die Befragungen einen eindeutigen Ausbau des ortsunabhängigen Zugangs zu Dokumenten, der bis zur dritten Befragung anhält. Dies ist vor dem Hintergrund vergangener und aktueller Diskussionen rund um die Etablierung von Home-Office gut nachvollziehbar. Videositzungen und Telefonate zeigen sich mittlerweile wieder rückläufig. Tools mit Messenger- oder Informationsboard-Funktionen besitzen nach wie vor nur geringe Relevanz. Durch den Ausbau von Microsoft Teams werden all diese Funktionen in einer Anwendung gebündelt. Möglicherweise verdrängt dies die zahlreichen kleineren Anbieter und etabliert die neuen digitalen Strukturen langfristig. Dies bleibt allerdings an dieser Stelle offen.

Kommunikationskanäle pro Erhebungswelle | FHNW

Kommunikationskanäle pro Erhebungswelle | FHNW
Betrachten wir den digitalisierten Kontakt zu den Klient*innen, so zeigt sich, dass die Organisationen Video-Termine primär als Übergangslösung genutzt haben. Nach dem Peak in der ersten Lockdown-Phase traten sowohl Video-Termine als auch die Nutzung sämtlicher alternativer Kommunikationskanäle wieder seltener auf. Es scheint, als wäre die persönliche Begegnung face-to-face nach wie vor die relevanteste Kontaktform, auf die viele nicht verzichten wollen oder können. Ob bei dieser Entwicklung die Initiative eher bei den Klient*innen oder den Professionellen liegt, können wir anhand der Daten nicht beantworten.
Mitarbeitende gestalten mit
Im Gesamten wird die digitale Entwicklung höher eingeschätzt, je höher sich die befragte Person in der Hierarchie befindet. Dies hat sich bei sämtlichen Erhebungswellen gezeigt. Die tiefsten Werte geben Personen aus dem Stab an (beispielsweise jene, die die IT-Infrastruktur oder das Qualitätsmanagement verantworten). Allerdings sehen diese durchschnittlich mehr Entwicklung zwischen der zweiten und dritten Erhebung. Aufgrund ihrer besonderen Nähe zu diesen Entwicklungen und dem gleichzeitig distanzierten Blick können Stabspersonen die Probleme bei digitalen Angeboten wohl deshalb besonders gut einschätzen.

Entwicklungsstand pro Funktionsstufe | FHNW
Zusammenfassend wurde die digitale Entwicklung in der dritten Erhebungswelle etwas tiefer einschätzt als in der zweiten, aber höher als in der ersten (Vergleich der Mittelwerte von 1 bis 10: erste Erhebung = 5.08; zweite Erhebung = 5.98; dritte Erhebung = 5.43).
Die untenstehende Darstellung zeigt, dass insbesondere in den Anfängen der Pandemie die Geschäftsleitung als zentraler Treiber der Digitalisierung gesehen wurde. Schliesslich wurde die digitale Umstellung häufig «top down» beschlossen und musste schnellstmöglich umgesetzt werden. Für partizipative Prozesse blieb – insbesondere in der krisenhaften ersten Pandemiephase – damals kaum Zeit.

Entwicklungstreiber für die Digitalisierung | FHNW
Wir sehen hier, dass danach jedoch äussere Einflüsse und die Mitarbeitenden wieder an Relevanz gewonnen haben. Indem sie mehr mitsprechen können, spüren sie auch die Charakteristika des Sozialbereichs wieder, wo Organisationen interne Prozesse partizipativ gestalten und den Professionellen der Sozialen Arbeit Gestaltungsraum in ihrer Arbeit geben. Wie bereits erwähnt, stellte zudem das neue Datenschutzgesetz die sozialen Organisationen sicherlich vor zahlreiche Herausforderungen, welche im Vorfeld diskutiert und angegangen werden mussten. Ebenfalls klar sichtbar ist die stark erhöhte Relevanz äusserer Umstände. Vor der Pandemie bestand kein Bewusstsein dafür, wie schnell eine solche Umstellung erforderlich sein könnte.
Hohe Aufmerksamkeit trotz rückläufiger Entwicklung
In der zweiten und dritten Erhebungswelle haben wir nach der Wichtigkeit des Themas Digitalisierung gefragt. Wir können nun feststellen, dass sich diese in der dritten Erhebung sogar leicht erhöht hat (Skala von 1 bis 10: Mittelwert von 7.62 bei zweiter Erhebung, Mittelwert von 7.75 bei dritter Erhebung).
Ein differenziertes Bild ergibt nachfolgende Darstellung:

Wichtigkeit der Digitalisierung | FHNW
Es stellt sich nachfolgend die Frage, weshalb die Digitalisierung 2023 stärker im Fokus steht, während andere Ergebnisse eher rückläufige Digitalisierungsbestrebungen nahelegen. Teilweisen Aufschluss gibt die Frage aus der dritten Erhebung, ob aktuell Veränderungen im IT-Bereich im Gange sind (Ja oder Nein). 63 Prozent der Befragten bejahten, 37 Prozent sahen aktuell keine Veränderungen (mehr). Differenziert nach Funktion in der Organisation zeigen sich die Mittelwerte folgendermassen:

Funktionsstufen | FHNW
Teamleitungen geben leicht häufiger an, dass Veränderungen im Gang seien. Dies könnte an ihrer Schnittstellenfunktion zwischen strategischem Organ und den Bedarfen an der Basis liegen.
Die Auswertung der Daten nach Organisationsgrösse ergibt, dass kleinere Organisationen eher angeben, dass sie sich in einem Veränderungsprozess befinden. Das könnte an der höheren Flexibilität liegen oder aber an einem höheren Digitalisierungsbedarf kleinerer Organisationen

Anzahl der Mitarbeitenden | FHNW
Fazit und Ausblick
Wir können mithilfe der bestehenden Daten feststellen, dass der Sozialbereich in der Schweiz während und im Nachgang der Covid19-Pandemie eine digitale Entwicklung durchlaufen hat. Organisationen der Sozialen Arbeit professionalisierten sich im Bereich der Digitalisierung und erweiterten insbesondere den ambulanten Bereich mit grundlegenden digitalen Kompetenzen. Die Befragungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zeigen, dass die Entwicklungen zumindest teilweise nachhaltig sind.
Allerdings ist es schwierig, unterschiedliche Dienstleistungen im Sozialbereich als Einheit zu betrachten. Zu viele Unterschiede in ihren Aufträgen, ihrer Beschaffenheit und ihren Herausforderungen bestehen, welche bei einer detaillierten Analyse betrachtet werden müssten. Hierzu wäre ein umfangreicheres qualitatives Vorgehen ratsam, um Voraussetzungen und Treiber von digitalen Entwicklungen genauer identifizieren zu können. Wie sich unterschiedliche Dienstleistungen im Sozialbereich künftig digital positionieren, müsste zu einem späteren Zeitpunkt erforscht werden.
Insgesamt haben sich jedoch die ambulanten Angebote im Vergleich zu vor der Pandemie digital weiterentwickelt. Das deutet darauf hin, dass sich die digitale Arbeitsweise etabliert und in eine Regelstruktur eingefügt hat. Im Idealfall ist sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden und bringt heute weniger Hürden mit sich. Anders ist es im stationären Bereich, wo die digitale Entwicklung, die während der Pandemie stattfand, wieder rückgängig gemacht worden ist. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass stationäre Angebote auf physischer Präsenz beruhen und dadurch die digitalen Lösungen weniger alltagsrelevant waren oder nur den Status einer Übergangslösung hatten.
Autor*innen

Roger Kirchhofer
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten
E-Mail: roger.kirchhofer@fhnw.ch

Sarah Bestgen
Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten
E-Mail: sarah.bestgen@fhnw.ch

Christine Mühlebach
Produktmanagement Digitalisierung
E-Mail: christine.muehlebach@sozialinfo.ch

Christine Mühlebach
Im Frühling 2020 hat der Lockdown aufgrund der Covid-19-Pandemie soziale Organisationen dazu gezwungen, neue digitale Wege zu gehen. Im Forschungsprojekt «Through2gether» hat uns interessiert, welche digitalen Entwicklungen die Organisationen während und nach der Pandemie durchliefen.
Im aktuellen Beitrag berichten wir nun ein drittes und letztes Mal über die Ergebnisse aus diesem Projekt. Dabei waren wir besonders gespannt, welche der digitalen Entwicklungen zu nachhaltigen Veränderungen geführt haben. Ein Spoiler vorweg: Die Möglichkeiten sind längst nicht ausgeschöpft. Insbesondere beim Einbezug von Mitarbeitenden und Adressat*innen in digitale Projekte liegt noch grosses Potenzial brach. Die konkreten Erfahrungen, die während der Pandemie gesammelt wurden, sind für zukünftige Entwicklungen sehr wertvoll, sei es in der digitalen Zusammenarbeit innerhalb der Organisation, in den diversen Kontaktformen mit Adressat*innen oder in der Führungsarbeit.