Jede fünfte Stelle, die im Jahr 2017 auf der Webseite von Sozialinfo ausgeschrieben wurde, betrifft das Arbeitsfeld Behindertenarbeit. Die Analyse zeigt: Geringere Anforderungen beim Bildungsabschluss und tendenziell höhere Arbeitspensen kennzeichnen die Stellenangebote in diesem Bereich.
Siebter Monitor des Stellenmarktes im Sozialwesen der Schweiz
Der Anteil der Stellen, die im Arbeitsfeld Behindertenarbeit ausgeschrieben werden, hat seit dem Jahr 2011, als sie erst knapp 12 Prozent aller Stelleninserate ausmachten, kontinuierlich zugenommen. Dies zeigt die Analyse des Stellenmarktes auf Sozialinfo. Vergangenes Jahr war bereits jede fünfte der 6083 ausgeschriebenen Stellen dem Arbeitsfeld Behindertenarbeit zuzuordnen.

7. Arbeitsmarktmonitor: Anteil des Arbeitsfeldes Behindertenarbeit an allen Inseraten (2011–2017) | Sozialinfo & FHNW
Vergleichsweise tiefe Qualifikationsanforderungen
Verglichen mit anderen Arbeitsfeldern in der Sozialen Arbeit ist das Arbeitsfeld Behindertenarbeit dasjenige mit den tiefsten Qualifikationsanforderungen. Mehr als die Hälfte der ausgeschriebenen Stellen in der Behindertenarbeit erfordert lediglich eine berufliche Grundbildung. Dahingegen ist der Anteil Stelleninserate, die einen Hochschulabschluss verlangen, mit 5 Prozent sehr tief. Zum Vergleich: In den Arbeitsfeldern Sozialhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde und Opferhilfe verlangen je rund 50 Prozent der Inserate einen Hochschulabschluss, in der Jugendarbeit und in der Sozialpsychiatrie je 15 Prozent und in der Suchthilfe 30 Prozent.
Die Auswertung der Daten von Sozialinfo zeigt zudem, dass die Qualifikationsanforderungen im Arbeitsfeld Behindertenarbeit seit 2011 gesunken sind. So ist der Anteil der Inserate, in denen ein Hochschulabschluss verlangt wird, von 11 Prozent im Jahr 2011 auf 5 Prozent im 2017 gesunken, während die Nachfrage nach Personen mit beruflicher Grundbildung im gleichen Zeitraum anteilsmässig zugenommen hat (von 41 auf 53 Prozent). Auch der Anteil ausgeschriebener Stellen, die eine höhere Berufsbildung erfordern, ist gesunken: von 29 Prozent im 2011 auf 24 Prozent im 2017.

7.Arbeitsmarktmonitor: Geforderte Qualifikation im Arbeitsfeld Behindertenarbeit (ohne «andere Ausbildung») | Sozialinfo & FHNW
Tendenziell hohe Arbeitspensen
Der Durchschnitt der ausgeschriebenen Arbeitspensen liegt im Arbeitsfeld Behindertenarbeit mit rund 77 Stellenprozenten leicht über dem Durchschnitt aller Arbeitsfelder zusammen (73 Stellenprozente). Eine detailliertere Analyse zeigt, dass sich das Arbeitsfeld Behindertenarbeit vor allem bei den mittleren und hohen Arbeitspensen von der Gesamtheit der Arbeitsfelder unterscheidet: So hat die Behindertenarbeit einen kleineren Anteil Stelleninserate mit einem Arbeitspensum von 41 bis 60 Stellenprozenten, dafür einen grösseren Anteil mit Teilzeitpensen über 80 Prozent und Vollzeit-Stellen.1 Der Anteil Inserate mit 61 bis 80 Stellenprozenten unterscheidet sich kaum von demjenigen anderer Arbeitsfelder.
Viele Praktikums- und Zivildienststellen
Im Arbeitsfeld Behindertenarbeit werden mit 60 Prozent die meisten Stellen für die qualifizierte Fachmitarbeit ausgeschrieben. Jede zehnte der ausgeschriebenen Stellen ist eine Teamleitungsstelle und 6 Prozent sind Kaderstellen. Der Anteil an Praktikums- und Zivildienststellen ist mit 20 Prozent ziemlich hoch – vor allem im Vergleich zu anderen Arbeitsfeldern wie der Sozialhilfe (1 Prozent), der Sozialpsychiatrie (9 Prozent), dem Kindes- und Erwachsenenschutz (4 Prozent), oder der Familienberatung (3 Prozent).

7. Arbeitsmarktmonitor: Ausgeschriebene Funktionen im Arbeitsfeld Behindertenarbeit | Sozialinfo & FHNW
1 Hier handelt es sich jeweils um durchschnittliche Stellenprozente. Wenn z. B. ein Pensum von 40–60 Stellenprozenten ausgeschrieben wird, rechnen wir mit 50 Stellenprozenten.
Der Stellenmarkt in der Behindertenarbeit aus Arbeitgebersicht
Die Entwicklung des Stellenmarktes ist auch für Personalverantwortliche ein Thema. Antonio Gallego hat langjährige Führungserfahrung im Behindertenbereich. Seine Einschätzungen über die Veränderungen in der Behindertenarbeit.
Sarah Madörin: Wie schätzen Sie den Stellenmarkt ein? Gibt es aktuelle Entwicklungen, die Sie in Bezug auf den Stellenmarkt im Arbeitsfeld Behindertenarbeit feststellen?
Antonio Gallego: Ein Thema, welches wir immer wieder zu spüren bekommen, ist sicherlich der Fachkräftemangel. Die Arbeitsbedingungen mit Abend-, Wochenend- und Nachtdiensten sind anspruchsvoll. Die Anforderungen an das Personal steigen. Die Erwartungen an eine gute Qualität der zu erbringenden Dienstleistungen in Bezug auf Pflege, Sozialkontakte, Integration, Partizipation, Dokumentation und agogische Fachlichkeit sind hoch. Auch die demographische Entwicklung, die einen erhöhten Pflegebedarf mit sich bringt, wird die Behindertenarbeit genauso beschäftigen wie die Alters- und Pflegeheime.
Die Stelleninserate, die auf der Webseite von sozialinfo.ch im Arbeitsfeld Behindertenarbeit ausgeschrieben wurden, haben seit 2011 stark zugenommen. Wie erklären Sie sich das?
Die Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen ist in den vergangenen Jahren immer differenzierter geworden und die Anforderungen in der Begleitarbeit sind hoch. Viele soziale Organisationen verfolgen zudem einen dualen Auftrag. Das heisst, dass nebst der Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung auch wirtschaftliche Ziele erreicht werden müssen. Dies erfordert mehr fachlich differenzierte personelle Ressourcen.
Zudem hat die durchschnittliche Lebenserwartung nicht nur in der allgemeinen Bevölkerung zugenommen, sondern auch bei Menschen mit einer Behinderung. Aufgrund dieser demographischen Entwicklung steigt auch in der Behindertenarbeit der Bedarf nach Betreuungs- und agogischem Fachpersonal.
Was denken Sie, weshalb werden bei Stelleninseraten der Behindertenarbeit weniger hohe Ausbildungsabschlüsse verlangt als in anderen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit? Und weshalb sind diese Qualifikationsanforderungen seit 2011 gesunken?
Ich bin nicht der Meinung, dass die Qualifikationsanforderungen in der Behindertenarbeit tief sind. Wir legen grossen Wert auf eine gute Ausbildung unseres Fachpersonals. Der Grossteil unserer Mitarbeitenden im Arbeits- und Wohnbereich sind ausgebildete SozialpädagogInnen und ArbeitsagogInnen.
Die Sozialdirektorenkonferenz hat in der interkantonalen Vereinbarung für soziale Einrichtungen die Mindeststandards für die Ausbildungsquoten festgelegt. In den Einrichtungen für Erwachsene muss eine durchschnittliche Fachquote von 50 Prozent erreicht werden. Die verschiedenen Sparbemühungen der Kantonsparlamente und Regierungen haben aber einen direkten Einfluss auf die Personalressourcen der Einrichtungen. Meine Hypothese ist, dass in der Branche die Ausbildungsquote reduziert wird. Eine solche Reduktion des agogischen Fachpersonals verkleinert automatisch die Lohnsumme in den Budgets der Einrichtungen. Das ist nicht wünschenswert, aber eine Konsequenz des finanziellen Drucks in der Branche.
Weshalb haben die Stellen der Behindertenarbeit tendenziell ein höheres Arbeitspensum als diejenigen in anderen Arbeitsfeldern?
Die Bezugspersonen- und Facharbeit ist eine anspruchsvolle Beziehungsarbeit. Ein hohes Arbeitspensum hat den Vorteil, dass sich die Team-Mitglieder regelmässig sehen und die Begleit-, Pflege- und Betreuungsarbeit besser planen und umsetzen können. Ein Team mit vielen kleinen Arbeitspensen verkompliziert diese notwendige Koordinationsarbeit.
Aufgrund des Fachkräftemangels und des Spardruckes ist die Branche aber auf Wiedereinsteigende und Mitarbeitende, die neben der Familie einer Teilzeitarbeit nachgehen, angewiesen. Aus diesem Grund werden in der Behindertenarbeit oft mehrere Teams von einer Leitungsperson geführt, die nicht mehr in die Betreuungsarbeit involviert ist und hauptsächlich übergeordnete Führungs-, Koordinations- und Administrationsthemen betreut. Mitarbeitende in der Begleitarbeit können so von gewissen Themen entlastet werden und sich intensiver auf die Betreuungsaufgaben konzentrieren.
Auch gibt es im Vergleich mehr Praktikums- und Zivildienststellen. Woran könnte das liegen?
Wir erleben immer wieder, dass wir über ein Praktikum oder einen absolvierten Zivildienst gutes künftiges Fachpersonal gewinnen können. Wir haben einige Zivildienstmitarbeitende, die nach dem Abschluss ihres Einsatzes bei uns eine zweite Berufsausbildung oder ein Sozialpädagogikstudium absolvieren. Dies ist für alle Beteiligten und auch für die Branche ein Gewinn. Die PraktikantInnen können sich beruflich weiterentwickeln, die Einrichtung gewinnt langjährige Mitarbeitende und gleichzeitig wird etwas gegen den Fachkräftemangel getan, was wiederum der Branche beziehungsweise der Gesellschaft zugutekommt.
Auf was achten Sie persönlich bei der Personalsuche? Welche Qualifikationen sind Ihnen bei den Bewerbenden wichtig?
Die besten Fach- und Methodenkompetenzen nützen wenig, wenn die Sozial- und Selbstkompetenzen suboptimal entwickelt sind. Aus diesem Grund sind uns Sozial- und Selbstkompetenzen, wie Eigenverantwortung, Belastbarkeit und angenehme Umgangsformen gekoppelt mit einer lösungsorientierten Grundhaltung, sehr wichtig. Und auch auf die Lern-, Team-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit der Mitarbeitenden legen wir grossen Wert.
Autor*innen

Jeremias Amstutz
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW.
Sarah Madörin
Peter Zängl

Barbara Beringer
ehem. Geschäftsleiterin Sozialinfo