Das Internet ist ein wichtiger Faktor gesellschaftlicher Teilhabe. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sollen sich deshalb auch im Internet selbstbestimmt bewegen können. Eine neue Broschüre gibt Betreuungspersonen medienpädagogische Unterstützung.
Behinderungen entstehen in der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und Hindernissen in deren Umwelt. Damit auch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen gleichberechtigt und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben können, müssen sie einerseits dazu befähigt werden und andererseits gilt es, einstellungs- und umweltbedingte Hindernisse abzubauen.
Das gilt auch für das Internet, das zu einem zentralen Faktor gesellschaftlicher Teilhabe geworden ist. Um Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen dazu zu befähigen, sich in der digitalen Welt eigenständig zu bewegen, braucht es geeignete und spezifische Hilfsmittel.
Die BFF Kompetenz Bildung Bern hat deshalb in Kooperation mit der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und der Schweizerischen Kriminalprävention SKP eine Broschüre entwickelt, die Betreuungspersonen hilft, Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen medienpädagogisch in der Online-Welt zu begleiten. Dabei bedient sie sich einer metaphorischen Bildsprache: Wie eine Stadt bietet auch das Internet sowohl Möglichkeiten als auch Gefahren, sowohl helle Plätze als auch dunkle Winkel.
Mit der Broschüre wurde eine Lücke geschlossen. Im Interview mit den drei Autorinnen erfahren Sie mehr über die Leitideen und Hintergründe zu deren Entstehung.
Sozialinfo/Martin Heiniger: Was war der Auslöser für die Erarbeitung der Broschüre «Sicher im Netz unterwegs»? Wie ist die Umsetzung zustande gekommen?
Corinne Reber: Wir wurden vor ca. 2 Jahren von einer Institution für eine Teambegleitung angefragt. Bei einer Reparatur wurde auf dem Laptop einer Wohngruppenbewohnerin illegales Bildmaterial gefunden. Das hat in diesem Team sehr grosse Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Mediennutzung von Bewohnenden ausgelöst. Wir haben dann festgestellt, dass sich die Unsicherheit vor allem darauf bezieht, was man darf und was nicht, und wie man das den Bewohnenden erklären kann. Wir haben dann zusammen mit diesem Team und mit jemandem von der Polizei einen Prototyp der Leitsätze, die nun in der Broschüre drin sind, erarbeitet. Dazu haben wir erste, rudimentäre Visualisierungen gemacht und uns überlegt, wie man das im Alltag erlebbar machen könnte.
Die Broschüre wird im Rahme des Projektes «MEKiS – Medienkompetenz in der Sozialen Arbeit» präsentiert, an dem Ihr auch beteiligt seid.
Monika Luginbühl: MEKiS ist ursprünglich aus einer Studie hervorgegangen, mit der die BFF Kompetenz Bildung Bern und die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW eine Bestandesaufnahme im Bereich Kinder- und Jugendhilfe gemacht haben. In einer ersten Phase führten wir eine Befragung bei den Institutionen durch, um den Bedarf zu klären, und in der zweiten Phase entwickelten wir Materialien und Grundlageninformationen für die Praxis. Auf der Website MEKiS, die daraus entstanden ist, sind zwischenzeitlich Studien, Befragungen, Materialien zu weiteren Bereichen dazu gekommen.
Corinne Reber: Bei der ursprünglichen MEKiS-Studie ging es um den Kinder- und Jugendbereich. Später haben wir zusätzlich Materialen für den Behindertenbereich und den Seniorenbereich erarbeitet. Die neue Broschüre “Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sicher im Netz” richtet sich nun speziell an den Behindertenbereich.
« Bei der neuen Broschüre ging es uns darum, explizit etwas für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zu erarbeiten. »
Broschüre «Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sicher im Netz»
Die Broschüre ist gedruckt in Heftform sowie auch online verfügbar. Das Heft ist für Begleitpersonen konzipiert. Ein zusätzliches Wimmelbild hilft in der konkreten Arbeit mit den Klient*innen.
Ergänzt wird die Publikation durch einen Satz Karten. Deren Vorderseite richtet sich an die Klient*innen. Auf der Rückseite sind Fragen formuliert, die den Begleitpersonen helfen, das jeweilige Thema mit der/dem Klient*in zu vertiefen.
In Kürze wird ausserdem ein Kartenspiel zur Verfügung stehen.
Ihr habt für die Broschüre mit der Schweizerischen Kriminalprävention zusammen gearbeitet. Wie ist diese Kooperation zustande gekommen?
Corinne Reber: Wir haben gemerkt, dass wir allein nicht alles abdecken können. Nebst dem heilpädagogischen und dem medienpädagogischen Hintergrund, den wir mitbringen, gibt es noch eine rechtliche und eine polizeiliche Seite, die man berücksichtigen muss, wenn man so etwas erarbeiten will.
Monika Luginbühl: Als wir das Konzept für die Broschüre entwickelt haben, dachten wir deshalb, das könnte die Schweizerische Kriminalprävention interessieren und haben dort angefragt.
Welche Eurer fachlichen Kompetenzen sind sonst noch in die Broschüre eingeflossen?
Rahel Heeg: In der ursprünglichen MEKiS-Studie habe ich das Thema Recht aufgearbeitet. Das war dann auch meine Rolle in dem Projekt. Ein weiterer Punkt ist die pädagogische Aufarbeitung: unabhängig vom Handlungsfeld stellt sich immer die Frage, wie man Inhalte verständlich macht. Deshalb suchten wir für die Aussagen noch mal eine andere, vereinfachte Form. Da es in dem Bereich auch viele fachfremde Personen gibt, haben wir überlegt, was die absolute Kernaussagen sind, mit denen es dann auch für Betreuungspersonen ganz einfach ist, zu arbeiten.
Die Broschüre richtet sich explizit an Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Könnte man sie mit ihrer leichten Sprache und den greifbaren, bildhaften Informationen nicht auch für andere Zielgruppen verwenden?
Corinne Reber: Grundsätzlich ist es immer so, dass Informationen für verschiedene Gruppen zugänglich werden, wenn man sie vereinfacht. Wir sehen das auch bei anderen Produkten. So hat das BFF etwa zusammen mit Insieme eine Broschüre gemacht für Eltern von Kindern mit Behinderungen, und dort haben wir auch die Rückmeldung gekriegt: das kann ich ja auch brauchen für Kinder, die keine Behinderung haben. Bei der neuen Broschüre ging es uns aber schon darum, explizit etwas für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zu erarbeiten, weil es wenig Material für diese Zielgruppe gibt. So richtet sich auch die Aufmachung an Erwachsene und nicht an Kinder.
Also ist es auch ein Statement, explizit etwas für diese Gruppe zu schaffen?
Rahel Heeg: Ja, auch weil es in Bezug auf Themen nicht deckungsgleich ist mit Publikationen für andere Zielgruppen. Bei Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen spielen andere Themen eine Rolle als bei einem 6-jährigen Kind, auch wenn es natürlich Überschneidungen gibt.
« Die Themen sind aus der Praxis für die Praxis entstanden. »
Wie ist die Themenauswahl zustande gekommen?
Monika Luginbühl: Der Kern waren die Leitsätze, die wir mit der bereits erwähnten Institution erarbeitet hatten. Daraus haben sich eigentlich die Themen ergeben. Dann hatten wir später eine erweiterte Resonanzgruppe mit vier Institutionen.
Rahel Heeg: Da sind noch ein, zwei Themen dazugekommen.
Monika Luginbühl: Genau, dann haben wir die noch ergänzt. Die Themen sind in einer engen Zusammenarbeit mit der Praxis entstanden, also aus der Praxis für die Praxis.
Rahel Heeg: Auch die Ideen zur Form, wie wir es aufbereitet haben, haben wir in den Resonanzgruppen diskutiert und zusammen weiterentwickelt, damit es dann wirklich anwendbar wird.
Ist die Stadt-Metapher («Interneto») auch so entstanden?
Monika Luginbühl: Das ist unter uns Dreien entstanden. Wir haben uns überlegt, was es für Metaphern gibt, die hilfreich sind.
Corinne Reber: Die Idee war schon, dass das Lernen einfacher wird, wenn ich Bilder habe, wenn ich Geschichten und Erlebnisse habe.
Bei manchen Themen, wie beispielsweise Pornographie, dürfte es schwierig gewesen sein, einfach zu erklären, wo die Grenze des Erlaubten liegt?
Rahel Heeg: Wenn man etwa beim Thema Pornographie die rechtliche Grundlage anschaut, dann kann ich nicht in einem Satz beschreiben, was erlaubt ist. Von dem her ist das Material für die Klienten und Klientinnen nicht selbsterklärend. Man kann es einsetzen, um mit ihnen an einem Thema zu arbeiten, aber man kann natürlich nicht aus dieser Broschüre ableiten, ob man ein bestimmtes Bild anschauen oder runterladen darf oder nicht. Wenn man konkrete rechtliche Informationen benötigt, dann muss man auf ausführlicheres Material zurückgreifen, das man etwa auf der MEKiS-Website findet. Und bei vielen Themen ist es auch nicht einfach zu entscheiden, was erlaubt ist und was nicht. Da braucht es ein Abwägen. Auch wenn es ganz klar verbotene Sachen gibt, z.B. in Bezug auf Kinderpornographie.
« Die Idee dahinter ist, dass die Themen präsent und sichtbar sein sollen. »
Wie ist es mit Sachen, die zwar nicht explizit verboten, je nach ideologischer Haltung jedoch moralisch nicht ok sind?
Rahel Heeg: Sobald es um normative Einschätzungen geht, kommen verschiedene Personen zu verschiedenen Einschätzungen. Wenn jemand etwa ein streng christlich geprägtes Verständnis bezogen auf Sexualität hat, wird sicher die Alarmglocke zu einem anderen Zeitpunkt losgehen als bei jemand anderem. Ich glaube da, wo es über rechtliche Fragen hinausgeht, da bringen wir Menschen uns immer mit unseren Prägungen in eine Situation ein. Eine Grundaussage bei MEKiS ist deshalb, dass es in einem Team wichtig ist, die eigenen Haltungen zu reflektieren und eine bewusste gemeinsame Haltung zu entwickeln und zu leben. Und da ist unser Anliegen, dass wir die Perspektive von den Klient*innen ernst nehmen.
Monika Luginbühl: Es ist ein Thema, das sich in ähnlicher Weise beim Sexualkonzept einer Institution zeigt.
Welche Überlegungen haben dazu geführt, dass die Broschüre und Karten – obwohl es um Digitalisierungsthemen geht - auch in Papierform herausgegeben werden?
Rahel Heeg: Die Idee dahinter ist, dass die Themen präsent und sichtbar sein sollen. Mit den Karten, die man irgendwo aufhängen kann, und auch mit der Broschüre, die man auflegen kann, ist es einfacher, das kontinuierlich immer wieder zum Thema zu machen, als wenn es irgendwo auf der Festplatte liegt.
Habt Ihr schon Rückmeldungen zur Broschüre aus der Praxis?
Monika Luginbühl: Was wir bis jetzt als Resonanz gekriegt haben, war sehr positiv. Aus der Praxis erhielten wir verschiedene Feedbacks, dass sie hilfreich und praxisnah anwendbar sei und dass so etwas bis jetzt gefehlt habe.
Gibt es daran anschliessende Projekte oder Vorhaben?
Monika Luginbühl: Ja, die Broschüre war jetzt der erste Teil, der an verschiedensten Orten publiziert wurde, auf der Seite der SKP, bei Jugend und Medien, bei Insieme. Und kommt bald ein Spiel heraus.
Corinne Reber: …ein analoges…
Monika Luginbühl: …ein analoges Kartenspiel, das an die Broschüre anschliesst mit den Sujets und der Thematik und es wird auch noch eine Art Parcours geben.
Corinne Reber: Dort wird es Anregungen geben, wie man diese Themen praktisch erlebbar machen kann, wo man selbst auswählen kann, welche Themen man auf welche Art mit Klient*innen in den Fokus nehmen will.
Monika Luginbühl: Das Kartenspiel kann gratis online herunterladen oder fixfertig kaufen. Die Kaufversion wird eine geschützte Werkstatt machen, die im ganzen Prozess mitgearbeitet hat und die auch in der Resonanzgruppe vertreten war. Die haben jetzt einen Auftrag, und das freut mich persönlich sehr. Das heisst, die Zielgruppe, für die wir diese Broschüre gemacht haben, die hat jetzt noch einen Auftrag erhalten.
Gibt es etwas, was Ihr noch ergänzen möchtet?
Rahel Heeg: Ich finde es einfach toll, dass man immer mehr von dem reinen Schutzaspekt wegkommt. Es geht nicht mehr einfach darum, Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen von digitalen Inhalten fern zu halten. Sondern es ist zunehmend ein Bewusstsein dafür da, dass es ein Teil der Lebenswelt ist, dass wir Umgangsweisen brauchen, und dass es darum geht, die Leute zu befähigen. Dabei braucht es Befähigung auf beiden Seiten, das heisst auch die Fachpersonen müssen befähigt werden. Je weniger Wissen die Fachpersonen haben, desto unsicherer sind sie, desto näher ist die Tendenz, manches einfach zu verbieten, damit nichts passieren kann.
Monika Luginbühl: Ich glaube, die Digitalisierung beinhaltet riesige Inklusionschancen, gerade für diese Zielgruppe, aber auch riesige Exklusionsrisiken. Deshalb nehmen wir das Thema auch auf, sei es in der Zusammenarbeit mit der Praxis, oder auch in der Ausbildung mit den Studierenden. Zusammen als Profession auf verschiedenen Ebenen für diese Inklusionschancen einzustehen und Barrieren abzubauen, gibt uns den Antrieb, an diesen Themen zu arbeiten.
Corinne Reber: Wenn wir zeigen können, wo die Inklusionschancen liegen, dann kommen plötzlich Prozesse in Gang. Das ist es, was diese Arbeit schön macht. Wenn man immer wieder andere Player findet, sei es die Polizei, jemand aus dem juristischen Bereich oder Leute aus der Praxis.

Monika Luginbühl
Dozentin für Sozial- und Medienpädagogik an der Höheren Fachschule für Sozial - und Kindheitspädagogik BFF in Bern

Rahel Heeg
Co-Leiterin Institut Kinder- und Jugendhilfe, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz

Corinne Reber
Dozentin für Heil- und Medienpädagogik an der Höheren Fachschule für Sozial - und Kindheitspädagogik BFF in Bern
Autor*in

Martin Heiniger
er/ihm
Fachredaktion Sozialinfo
Sozialinfo
Ausbildung
Dipl. Sozialarbeiter FH; BA Philosophie / Medien- und Kommunikationswissenschaften
Leitsatz
Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel. (Paul Watzlawick)

Martin Heiniger
Menschen mit Behinderungen sollen selbstbestimmt und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können; das bekräftigt auch die UNO-Behindertenrechtskonvention. In der heutigen Zeit betrifft das auch den Zugang zur digitalen Welt.
Die Gefahren, die das Internet birgt, dürfen kein Grund sein, Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen davon fernzuhalten. Betreuenden Institutionen kommt vielmehr die Aufgabe zu, sie medienpädagogisch zu begleiten und zu einem möglichst risikofreien Online-Verhalten zu befähigen, damit sie von den Teilhabechancen des Internets profitieren können.
Um Betreuungspersonen dazu konkrete Hilfestellung zu geben, hat die BFF Kompetenz Bildung Bern, in Kooperation mit der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und der Schweizerischen Kriminalprävention SKP, eine neue Broschüre entwickelt.