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Zuständigkeit Mandatsführung/Sozialhilfe

Veröffentlicht:
12.11.2018
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Ich bin Beiständin des 9-jährigen Mädchens A.G. Für das Kind führe ich eine BS gem. Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht gem. Art. 310 Abs. 1 ist der Mutter entzogen. Die Mutter hat das alleinige Sorgerecht, der Vater ist unbekannt. Aufgrund ihres Schwächezustandes wird die Mutter nie in der Lage sein, ihr Kind selber zu betreuen. Das Mädchen lebt seit seinem 1. Lebensjahr in einer Pflegefamilie.
Zuständigkeit Mandatsführung:
Weil die KM häufig umzieht (5x innert 8 Jahren, innerhalb vom Kt. Bern), wurde die Führung der Beistandschaft in K und somit bei der KESB X belassen. Auf KESB-Entscheiden wird als zivilrechtlicher Wohnsitz des Kindes der jeweilige Wohnort der Mutter angegeben. An seinem Aufenthaltsort (Gde. M) ist A.G. als Wochenaufenthalterin angemeldet. Gem. Art. 25 Abs. 1 ZGB "gilt als Wohnsitz des Kindes unter elterlicher Sorge der Wohnsitz der Eltern oder des Elternteils, unter dessen Obhut das Kind steht. In allen übrigen Fällen gilt sein Aufenthaltsort als Wohnsitz."
Frage: Müsste der zivilrechtliche Wohnsitz (und somit die Mandatsführung) nach M verlegt werden, da der Mutter die Obhut entzogen ist und das Kind dauerhaft bei der Pflegefamilie lebt?
Zuständigkeit Sozialhilfe:
Die Mutter hat eine 100% IV-Rente, das Mädchen bezieht eine IV-Kinderrente und EL. Bei Obhutsentzug werden die Pflegekosten direkt der KESB in Rechnung gestellt, die Nebenkosten werden durch die SH beglichen. Dafür wird administrativ in K ein Dossier geführt. IV und EL gehen monatlich auf diesem Konto ein. Einmal jährlich rechnet die KESB ab. Bei dauerhaftem Überschuss müsste gem. Art. 325 Abs. 1 die Verwaltung der Finanzen durch die Beiständin beantragt werden.
Aktuell liegt ein Kostenvoranschlag für eine kieferorthopädische Behandlung vor. Das VVG übernimmt einen Teil der Kosten, unklar ist der Gemeindebeitrag. Die Restfinanzierung erfolgt über die EL.
Frage: Welche Gemeinde ist in diesem Fall sozialhilferechtlich für die Kostengutsprache zuständig? (Die Formulare werden seit Monaten herumgeschickt: von K an die Wohngemeinde der Mutter; zurück nach K und von da nach M)

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrte Frau Soriano
Entschuldigen Sie bitte die verspätete Antwort, ich musste ein paar Aspekte im kollegialen Austausch abklären.

  1. Zivilrechtlicher Wohnsitz Minderjähriger
    Nach Art. 25 ZGB gilt als Wohnsitz des Kindes unter elterlicher Sorge der Wohnsitz der Eltern oder, wenn die Eltern keinen gemeinsamen Wohnsitz haben, der Wohnsitz des Elternteils, unter dessen Obhut das Kind steht; in den übrigen Fällen gilt sein Aufenthaltsort als Wohnsitz. Bevormundete Kinder haben ihren Wohnsitz am Sitz der Kindesschutzbehörde.
    Abgestellt wird einzig auf: a) die gemeinsame elterliche Sorge und den gemeinsamen Wohnsitz, b) die gemeinsame elterliche Sorge und die Obhutszuteilung sowie c) auf die Alleinsorge. Es ist unerheblich, wo sich das Kind tatsächlich aufhält und ob sich das Kind unter der Obhut der Inhaber der elterlichen Sorge befindet. Auch Kinder, die sich in einer Einrichtung befinden, haben somit ihren Wohnsitz am Wohnsitz ihrer Eltern, solange diesen noch die elterliche Sorge zusteht. Auch die Anordnung zivilrechtlicher Kindesschutzmassnahmen, insbesondere die Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts nach Art. 310 ZGB, ändert daran nichts. Nur wenn beiden Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen wird und sie keinen gemeinsamen zivilrechtlichen Wohnsitz haben oder wenn beiden Eltern die elterliche Sorge entzogen und für das Kind eine Vormundschaft errichtet wird, oder wenn sich aus der Obhutsregelung keine Anknüpfung ergibt, kommt es zu einer anderen Ableitung des zivilrechtlichen Wohnsitzes.
    Fazit
    Steht die elterliche Sorge bloss einem Elternteil zu, so erhält das Kind dessen Wohnsitz. Auch wenn das Kind gestützt auf Art. 310 ZGB durch die KESB in einer Pflegefamilie platziert wurde, leitet sich der zivilrechtliche Wohnsitz vom allein sorgeberechtigten Elternteil ab. Vorliegend hat das Mädchen abgeleiteten zivilrechtlichen Wohnsitz von der Mutter.
    Der zivilrechtliche Wohnsitz leitet sich zwingend aus dem ZGB ab und kann nicht durch Vereinbarung oder ähnliche Vorgänge verlegt werden.
  2. Zuständigkeit KESB/Beistandswechsel
    Nach Art. 315 Abs. 1 ZGB ist die KESB am zivilrechtlichen Wohnsitz des Kindes für die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen zuständig. Nach Art. 315 Abs. 2 ZGB kann aber auch die KESB am Aufenthaltsort des Kindes zuständig sein, namentlich, wenn das Kind bei Pflegeeltern lebt. Vorliegend hat das Mädchen eine auf Dauer angelegte örtliche Beziehung zum Aufenthaltsort und nicht zum zivilrechtlichen Wohnsitz. Wechselt die Inhaberin der elterlichen Sorge häufig ihren Wohnsitz, was vorliegend der Fall ist, so kommt der örtlichen KESB regelmässig eine bessere Vertrautheit mit den Lebensumständen des Kindes zu (Kokes-Praxisanleitung Kindesschutzrecht, Rz. 6.3 ff. und 6.15 ff.
    Ob ein Beistandwechsel erfolgen bzw. eine Beistandsperson vom am Aufenthaltsort dafür zuständigen Dienst bestellt werden soll, ist im Einzelfall abzuklären. Die bisherige Beistandsperson kann aus wichtigen Gründen im Mandat belassen werden, weil ein Beziehungsabbruch vermieden werden soll oder die Vertrauensbeziehung es erfordert. Ist das der Fall, so sind zwischen den Diensten allenfalls besondere Abrechnungsmodalitäten zu vereinbaren (vgl. Kokes-Praxisanleitung Kindesschutzrecht, Rz. 6.19 und Übernahme einer Massnahme des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts nach Wohnsitzwechsel, Art. 442 Abs. 5 ZGB, Empfehlung der KOKES vom März 2015, abrufbar auf https://www.kokes.ch/de/dokumentation/empfehlungen). Allerdings ist mir dazu weder eine Regelung noch eine Praxis im Kanton Bern bekannt.
    Im Kanton Bern trägt der Kanton subsidiär die Kosten für die Entschädigung und die Spesen der Führung der Beistandschaft, falls aus dem Kindesvermögen diese Kosten beglichen werden können. Der innerkantonale Wohnsitzwechsel ist somit nicht problematisch (vgl. dazu Übernahme der Kosten für Entschädigung und Spesen der Führung der Beistandschaft durch das Gemeinwesen bei Wohnsitzwechsel (Art. 404 Abs. 3 ZGB), Stellungnahme des Arbeitsausschusses KOKES, in: ZKE 2/2016, 152 ff. auch abrufbar auf https://www.kokes.ch/de/dokumentation/empfehlungen).
  3. Zuständigkeit der Sozialhilfe
    Gemäss Ihren Angaben liegt ein innerkantonaler Fall vor.
    Nach Art. 46 Abs. 1 des Gesetzes über die öffentliche Sozialhilfe (Sozialhilfegesetz, SHG) des Kantons Bern vom 11.06.2001 obliegt die Gewährung der Sozialhilfe an Personen mit Aufenthalt im Kanton der Gemeinde, in der die bedürftige Person ihren zivilrechtlichen Wohnsitz hat.
    Im Handbuch Sozialhilfe der Berner Konferenz Ausgabe September 2018 (abrufbar auf http://handbuch.bernerkonferenz.ch) finden Sie unter dem Stichwort Wohnsitz Folgendes:
    5.6 Minderjährige
    5.6.1 Allgemein
    Innerkantonal teilt das minderjährige Kind unter elterlicher Sorge, unabhängig von seinem Aufenthaltsort, den Wohnsitz der Eltern oder, wenn die Eltern keinen gemeinsamen Wohnsitz haben, den Wohnsitz jenes Elternteils, unter dessen Obhut es steht. (…).
    (…)
    Bei einer Platzierung in einer Institution begründet das Kind grundsätzlich keinen Wohnsitz am Aufenthaltsort.
    (…).
    5.6.2 Ausserkantonale Platzierungen
    (…)
    5.6.3 Innerkantonale Platzierungen
    Im innerkantonalen Verhältnis wird bei Platzierungen die Zuständigkeit auch in finanzieller Hinsicht übertragen. Bei Beistandschaften geht die Unterstützungszuständigkeit bei einem Wohnortwechsel der Sorgeberechtigten auf den Sozialdienst des neuen Wohnortes über.
  4. Klageverfahren
    Ein innerkantonaler Kompetenzkonflikt zwischen zwei Gemeinden kann nicht einseitig mittels Leistungseinstellung gegenüber der Klientel erledigt werden. Vielmehr ist diese Frage wegen unmittelbarer Betroffenheit der früheren Wohnsitzgemeinde zwingend unter Beizug derselben zu klären. Bei innerkantonalen Zuständigkeitskonflikten ist nach dem dafür vorgesehenen Verfahren beim Regierungsstatthalteramt auf Feststellung der Unterstützungszuständigkeit zu klagen. Solange die Nichtzuständigkeit der die zivilrechtliche Wohnsitznahme bestreitenden Gemeinde nicht geklärt ist, bleibt die bisherige Gemeinde leistungspflichtig.
    Fazit
    Der Kanton Bern knüpft für die innerkantonale sozialhilferechtliche Zuständigkeit an den zivilrechtlichen Wohnsitz an.
    Somit ist aktuell die Gemeinde zuständig, wo die Mutter ihren zivilrechtlichen Wohnsitz hat. Wechselt die Mutter innerhalb des Kantons Bern ihren Wohnsitz, so wechselt erneut die sozialhilferechtliche Zuständigkeit.
    Da es sich um eine behördlich angeordnete Platzierung handelt und die KESB Vertragspartei ist, fallen sämtliche Fragen in Zusammenhang mit den Platzierungskosten in den Verantwortungsbereich der KESB und des finanzierenden Gemeinwesens. Der KESB-Beschluss ist für das finanzierende Gemeinwesen verbindlich (BGE 135 V 134; vgl. zum Ganzen Kurt Affolter, Rollen und Verantwortlichkeiten bei behördlicher Fremdunterbringung eines Kindes, Zur Aufgabenabgrenzung zwischen KESB, Pflegeplatzverantwortlichen,Erziehungsbeistand und kostenpflichtigem Gemeinwesen, in: Festschrift für Thomas Geiser, Brennpunkt Familienrecht, Hrsg. Fankhauser/Reusser/Schwander, Zürich/St. Gallen 2017, S. 23-42, abrufbar auf http://www.affolter-lexproject.ch/Downloads/180102AffolterFSGeiserManuskript_finalissima.pdf). Deshalb hat die KESB den Platzierungsentscheid dem zuständigen Gemeinwesen zu unterbreiten und es zur Finanzierung und subsidiären Kostengutsprache einzuladen (vgl. dazu Kokes-Praxisanleitung Kindesschutzrecht, Rz. 17.38 ).
    Vorliegend geht es um Nebenkosten (kieferorthopädische Behandlung) und nicht um Platzierungskosten, weshalb eine Kostengutsprache einzuholen ist. Selbstredend trägt die Sozialhilfebehörde nur subsidiär die Kosten und sie hat das Gesuche zu prüfen. Sie kann es bewilligen, allenfalls mit Auflagen versehen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, oder sie hat es zu verweigern, wenn dies nicht zutrifft.
    Die Formulare können nicht rumgereicht werden, jede Sozialhilfebehörde hat eine Verfügung (Nichteintreten) zu erlassen, wenn sie sich als nicht zuständig erachtet.
    Von der Sozialhilfebehörde am zivilrechtlichen Wohnsitz der Mutter ist eine rechtsmittelfähige Verfügung zu verlangen. Ob Sie eine Vertretungskompetenz im Bereich Gesundheit und für die Geltendmachung von sozialhilferechtlichen Ansprüchen haben, ist mir allerdings nicht bekannt. Wenn nicht, so soll die Mutter den Antrag stellen. Kann oder macht sie es nicht, so würde ich an Ihrer Stelle es trotzdem versuchen, eine rechtsmittelfähige Verfügung zu verlangen.
    Alternativ kann die KESB gestützt auf Art. 392 Abs. 1 ZGB das Kostengutsprachegesuch stellen, und Sie dann später, sofern erforderlich, mit der notwendigen Vertretungskompetenz ausstatten.
    Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
    Luzern, 20.11.2018
    Karin Anderer