Guten Tag Frau Schnyder,
nach längerer Diskussion im Team gelange ich heute mit einer, aus unserer Sicht, komplexen Frage an Sie.
Ein Klient verblieb, mit Kostengustprache der Stadt (GR) seit September 2017, in einer IVSE anerkannte Institution im Kanton Zürich/Maur. Seit März 2019 hielt er sich dort nur ab und an auf, verblieb grösstenteils bei der Mutter seiner Freundin in Effretikon. Per 11.4.2019 teilte die Institution in Maur das Kant. Sozialamt mit, er habe die Therapie abgebrochen. Wiederum mit vorübergehendem Aufenthalt (Besuch) in Effretikon bis zu einer Anschlusslösung. Diese wurde gefunden, er konnte ins Urdörfli nach Pfäffikon Zürich, eine nicht IVSE anerkannte Institution.
Unsere Stadt begründet eine Ablehnung einer KoGu fürs Urdörfli damit, dass der Klient sich im Dezember 2018 aus der Stadt nach Maur abgemeldet habe.
...... hat Herr D. durch seinen Abbruch der Langzeittherapie per 11.04.19 und (Ummeldung per 10.12.2018 in den Kt. ZH) weder zivilrechtlich noch aufenthaltsmässig Wohnsitz in unserer Stadt. Wir bitten den Fall abzuschliessen und den SOZD einen offiziellen Dossierabschluss zukommen zu lassen.
Eine Kostengutsprache solle nun in Maur gestellt werden (wo er sich bekannterweise bereits nicht mehr aufhält). Die Einwohnerkontrolle widerspricht die Abmeldung. Er sei nach wie vor hier angemeldet, wenn auch ohne Adresse.
Nun ist für mich die Frage, in welcher Gemeinde einen Antrag für eine Kostengutsprache für seinen Aufenthalt im Ur-Dörfli gestellt werden kann.
Sollten meine Ausführlungen für eine Antwort nicht reichen, stehe ich für weiteren Informationen selbstverständlich gerne zur Verfügung.
Im Vorfeld bedanke ich mich schon mal für Ihre geschätzte Expertenantwort.
Mit freundlichem Gruss
C. Haubrich
Berufsbeiständin
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Haubrich
Gerne beantworte ich Ihre Frage. Zunächst kann festgehalten werden, dass sowohl für den zivilrechtlichen Wohnsitz (Art. 23 ff. ZGB) als auch für den Unterstützungswohnsitz nach ZUG (Art. 12 bzw. 20 in Verbindung mit Art. 4 ZUG) die polizeiliche Anmeldung (Einwohnerkontrolle) nicht das primär massgebende Kriterium für die Finanzierungszuständigkeit ist. In erster Linie ist auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen. Bei den tatsächlichen Verhältnissen ist darauf abzustellen, wo sich in der Lebensmittelpunkt des Klienten befindet. Um dies festzustellen, sind die äusseren Verhältnisse seiner Lebensgestaltung und seine Absichten, wo er dauern bleiben möchte, massgebend. Bei Heimsituationen treten die effektiven Verhältnisse jedoch in den Hintergrund, da sowohl das ZGB als auch das ZUG bei Heimaufenthalt eine Wohnsitzbegründung am Heimstandort grundsätzlich ausschliesst (Art. 5 ZUG und Art. 23 ZGB).
In dem von Ihnen geschilderten Fall befindet sich der Klient seit Mai 2019 in einem nicht IVSE anerkannten Heim, das sich im Kanton Zürich befindet. Ihren Schilderungen entnehme ich, dass der Klient davor bis 11. April 2019 während rund eineinhalb Jahren eine Langzeittherapie in einem anderen Heim (Maur) ebenfalls im Kanton Zürich in Anspruch nahm. Bereits aber im März 2019 hielt er sich nicht mehr ausschliesslich in der Klinik auf, sondern grösstenteils in Effretikon, zunächst bei der Mutter seiner Freundin, dann woanders.
Habe ich den Sachverhalt so korrekt wiedergegeben?
Für den aktuellen Heimaufenthalt ist für die Finanzierungsfrage aus Optik der Sozialhilfe nun ausschliesslich das ZUG (Bundesgesetz vom 24.6.1977 über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger, SR 851.1) massgebend, da das Heim nicht der IVSE unterstellt ist. Damit ich Ihre Frage beantworten kann, benötige ich noch weitere Angaben zum Fall:
Alter des Klienten?
Welche Art von Beistandschaft liegt vor?
Aufenthalt zu welchem Zweck?
Hatte der Klient vor dem ersten Klinikaufenthalt den Lebensmittelpunkt in der oben erwähnten Stadt (GR)?
Liegt eine FU für den Aufenthalt (bisherigen und aktuellen) vor?
War die Anschlusslösung auch in seinem Sinne? War klar, dass die stationäre Therapie nach Abbruch fortgesetzt wird bzw. werden muss?
Gehört Effretikon zur politischen Gemeinde Illnau-Effretikon im Kanton Zürich?
Bezieht der Klient Leistungen der IV und EL?
Besten Dank für die Zusendung der weiteren Angaben.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder
Guten Tag Frau Schnyder,
Als erstes schon vielen herzlichen Dank für Ihre umfassende Antwort. Als Antwort auf Ihre Fragen kann ich Ihnen folgendes mitteilen:
Alter des Klienten? Unser Klient ist 41 Jahre und italienischer Staatsbürger mit Ausweis C
Welche Art von Beistandschaft liegt vor? Ein Beistandschaft gem. ART 394 i.V.m. 395 und 396 ZGB mit zuständigkeit in sämtlichen Bereiche.
Aufenthalt zu welchem Zweck? Der Aufenthalt in Maur hatte, gemäss Motivationsschreiben und Leitbild von Maur, zum Ziel eine Drogenabstinenz und die Reintegration im Bereich Arbeit und Soziale Reintegration zu erreichen.
Hatte der Klient vor dem ersten Klinikaufenthalt den Lebensmittelpunkt in der oben erwähnten Stadt (GR)? Der Klient wohnt(e) seit in unserer Stadt 2014 (GR), auch seine Familie (Mutter und Zwillingsbruder) wohnen hier. Vorher wohnte er in einem Nachbarort, ebenfalls im Kanton. Er war zuerst, ab Mai 2017, für einen Entzug in der Klinik Pfäfers und anschliessend in Maur.
Liegt eine FU für den Aufenthalt (bisherigen und aktuellen) vor? Es lag und liegt keine FU vor.
War die Anschlusslösung auch in seinem Sinne? War klar, dass die stationäre Therapie nach Abbruch fortgesetzt wird bzw. werden muss? Er selber hat sich fürs Ur-Dörfli entschieden, zumal einen längerer Aufenthalt bei der Mutter der Freundin keine Option war. Im Ur-dörfli ist eine Abstinenz nicht erforderlich und gehöre, nach Aussagen des Klienten, momentan auch nicht zu seinem kurzfristigen Ziel (kontrolliertes Konsumieren)
Gehört Effretikon zur politischen Gemeinde Illnau-Effretikon im Kanton Zürich? Ja, Effretikon gehört zu dieser Gemeinde.
Bezieht der Klient Leistungen der IV und EL? Das IV-verfahren ist noch in Abklärung; gegen einem Vorbescheid wurde Einsprache erhoben, es wurde dazu einen Anwalt eingeschaltet zur Vertretung der Interessen des Klienten.
Konnte ich Ihnen hiermit Ihre Fragen beantworten? Sonst stehe ich Ihnen gerne zu einem weiteren Austausch zur Verfügung.
Mit freundlichem Bündnergruss
C. Haubrich
Berufsbeiständin
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Haubrich
Besten Dank für Ihre weiteren Angaben. Es gibt im Grunde drei Möglichkeiten:
1. Die Langzeittherapie mit Ziel Drogenabstinenz ist zusammen mit dem Ur-Dörfli ohne primäres Ziel Drogenabstinenz als Therapieeinheit zu betrachten. Dies hätte nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts 2A.24/1998 vom 20.8.1998 (veröffentlich in ZBl 101/2000 S. 539, siehe Beilage) zur Folge, dass der zwischenzeitliche Aufenthalt in Effretikon keinen Unterbruch des bisherigen Unterstützungswohnsitzes in der Stadt (GR) zur Folge hätte, da die beiden Heime, Institution Maur und Ur-Dörfli – seiner Webseite* zufolge ebenfalls ein Heim im Sinne von Art. 5 bzw. 9 Abs. 3 ZUG - , eine Einheit bezüglich der Heimunterbringung bilden, bei welcher der Aufenthalt in Effretikon lediglich als Intermezzo zu werten wäre.
2. Die beiden Therapien können nicht als Therapieeinheit betrachtet werden. In diesem Fall gibt es zwei weitere Anknüpfungsmöglichkeiten:
2.1 Der Klient hatte die Absicht, in Effretikon dauernd zu bleiben, als er bei der Mutter seiner Freundin wohnte (vgl. ebenfalls beigelegtes Urteil des Bundesgerichts 8C_223/2010 vom 5.7.2010 E.4.1, wonach bei Drogenabhängigen nicht zu hohe Anforderungen an gefestigte soziale und ökonomische Beziehungen zu stellen sind). In diesem Fall begründete er neu Unterstützungswohnsitz (Art. 4 ZUG) in Effretikon. Die Konsequenz der Annahme eines Unterstützungswohnsitzes in Effretikon wäre, dass der Wegzug ins Ur-Dörfli/Pfäffikon (ZH) keinen neuen zu begründen vermag, da es sich beim Ur-Dörfli, wie oben erwähnt, um ein Heim handelt. D.h. der zuständige Wohnkanton für das Ur-Dörfli würde sich (weiterhin) von Effretikon ableiten und wäre somit der Kanton Zürich.
2.2 Der Klient hatte keine Absicht, in Effretikon dauernd zu bleiben. Damit begründete er in Effretikon keinen Unterstützungswohnsitz im Sinne von Art. 4 ZUG, sondern lediglich Aufenthalt im Sinne von Art. 11 ZUG. Die Konsequenz der Annahme lediglich des Aufenthalts wäre, dass er im Zeitpunkt des Wegzugs von Effretikon auch den dortigen Aufenthalt aufgab und neu einen solchen in Pfäffikon (ZH) begründete. D.h. der zuständige Aufenthaltskanton im Sinne von Art. 11 i.V.m. Art. 12 Abs. 2 ZUG wäre wiederum der Kanton Zürich (gilt auch analog für ausländische Personen mit längerfristigem Aufenthaltsstatus).
Weder als Unterstützungswohnsitz noch Aufenthalt kommt die Gemeinde Maur in Frage. Denn solange der Klient die Langzeittherapie in Anspruch nahm, war er in Maur in einem Heim untergebracht, das nach Art. 9 Abs. 3 ZUG den bisherigen Unterstützungswohnsitz, nämlich Ihre Stadt (GR) nicht untergehen liess. Der kritische Zeitpunkt kam erst, wie oben dargelegt, als er bei der Mutter seiner Freundin unterkam und die Langzeittherapie in der Institution/Maur beendete. Nicht massgeblich ist, wie bereits erwähnt, die polizeiliche Abmeldung.
Letztlich ist aus Sicht von Graubünden entscheidend, ob es sich um eine Therapieeinheit handelt (vgl. Variante 1.) oder nicht (vgl. Variante 2). Für diese Frage möchte ich Sie bitten, insb. Erwägung 3.b) des beigelegten Urteils (ZBl 101/2000 S. 539) zu lesen. Ich könnte mir vorstellen, dass u.U. mit Hilfe der ÄrztInnen der Institution Maur entschieden werden kann, ob es sich um eine Therapieeinheit handelt, oder nicht. Allenfalls wäre eine Möglichkeit, sich über die ZUG-Stellen Ihres Kantons und des Kantons Zürich zu verständigen.
Leider kann ich die erwähnten Urteile nicht (mehr) meiner Antwort angehängen. Darf ich Sie bitten, mir eine E-mail auf ruth.schnyder@hslu.ch zu schicken, so dass ich sie Ihnen per mail zukommen lassen kann?
Ich hoffe, Ihnen mit dieser Antwort in der vorliegend nicht einfachen Frage des zuständigen Gemeinwesens weitergeholfen zu haben.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder
*https://www.swsieber.ch/was-wir-tun/betreuen/suchthilfeeinrichtung/: stationäre Betreuung mit Angebot an Substitutionsprogrammen