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Zuständigkeit bei Nothilfe

Veröffentlicht:
09.10.2019
Kanton:
Aargau
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Schnyder,

Unser Klient (KInd  Herkunft Bulgarien) hat gemeinsam mit 1 Geschwister und Mutter zum Zweck des Besuchs des Vaters, der sich mit L-Bewilligung im Kanton Bern (Unterstützungswohnsitz) aufhält, besucht. Da der Vater in einer kleinen 2-Zimmer-Wohnung lebt, hat die Familie von vornherein geregelt, dass sie sich in der 3.5 Zi. Wohnung des Bruders des Vaters (Kanton Solothurn) aufhalten. Dort ist das Kind vom Fahrrad gestürzt und musste notfallmässig im Spital behandelt werden. Eine EU-Versichertenkarte existiert nicht. (Eine Ablehnung der gemeinsamen Eirichtung liegt vor).

Nach unserer Auffassung wäre Solothurn Aufenthaltskanton, der die Nothilfe (Spitalbehandlung) finanzieren müsste. Der Kantonale Sozialdienst Solothurn lehnt die Kostenübernahme ab mit der Begründung, dass der Kindsvater Unterstützungspflichten gegenüber seinem regulär in Rumänien lebenden Sohn hat und somit für die Kosten aufkommen muss. Dazu ist zu sagen, dass das Einkommen des Kindsvater im Niedriglohnbereich liegt und schwankt, da seine Arbeit auf Abruf geleistet wird und in den bisherigen Monaten nicht sehr weit über dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum liegt, wenn er bei der Berechnung als 1-Personenhaushalt betrachtet wird. Zudem musste er im erstbehandelnden Spital eine Anzahlung von CHF 550 leisten und im zweitbehandelnden Spital eine Anzahlung von CHF 300. Er leistet mit dem Überschuss (ca. 500-700 CHF pro Monat) Unterstützung an die Ehefrau und die beiden Kinder, die in Bulgarien leben und konnte seit Beginn des Aufenthalts in der Schweiz (März 19) keine Rückstellungen im Sinne eines Vermögens bilden und wird dies bei weiterer Unterstützung der Familie auch in Zukunft nur in sehr beschränktem Mass können .  Wie wird die Unterstützung der Familie in Bulgarien bei der Berechnung des sozialhilfe-rechtlichen Existenzminimums respektive beim Betreibungsrechtlichen Existenzminimums beurteilt? Inwieweit kann ihm zugemutet werden, dass er die Behandlungskosten in Raten bezahlt und stattdessen seine Familie nicht weiter unterstützt? Selbst wenn er den Überschuss, den er ohne Unterstützung seiner Familie für Ratenzahlung einsetzen würde, kann er damit die Behandlungskosten bis zum vorläufigen Ablauf seiner L-Bewilligung  (März 2020) nicht restlos tilgen. Wie ist unter diesen Umständen die "Uneinbringlichkeit der Forderung" durch den Leistungserbringer zu beurteilen?

Müsste die Sozialhilfe des Kantons Soloturn hier nicht eine subsidiäre Kosten-gutsprache erteilen und allenfalls nachträglich, falls die L-Bewilligung des Kindsvaters verlängert wird und er zukünftig ein höheres Einkommen erzielt, die Rückzahlung vereinbaren?  

Ist es richtig, dass der Kanton Solothurn Nothilfe leisten muss?

Besten Dank für die Beantwortung & freundliche Grüsse

A. Keller

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Keller

 

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Zunächst zur Frage der Zuständigkeit, anschliessend zum Umfang der Unterstützung und dann zur Unterhaltsfrage bzw. zum betreibungsrechtlichen Existenzminimums.

Gemäss Ihren Schilderungen ist das verunfallte Kind mit seiner Mutter und einem Geschwister zu Besuchszwecken in die Schweiz gekommen. Die drei Familienmitglieder sind nicht beim Vater im Kanton Bern, sondern beim Bruder des Vaters im Kanton Solothurn untergekommen. Art. 7 ZUG regelt den Unterstützungswohnsitz des Kindes. In erster Linie leitet sich dieser von den Eltern ab (Abs. 1 und 2). Im vorliegenden Fall ist das Kind zusammen mit seiner Mutter beim Onkel untergekommen – jedoch nur vorübergehend, also ohne Absicht dauernden Verbleibens. Insoweit hat die Mutter des Kindes nur Aufenthalt im Sinne von Art. 11 ZUG begründet, was sich ebenfalls auf die Situation des Kindes überträgt. Fraglich ist, ob nicht Art. 7 Abs. 3 lit. d ZUG als Auffangtatbestand zur Anwendung käme. Dadurch würde das Kind jedoch einen Unterstützungswohnsitz begründen, was mit seinem Aufenthalt zu Besuchszwecken in einem Spannungsverhältnis steht. Insoweit tendiere ich dazu, dass das Kind den Aufenthaltsort selbständig nach Art. 11 ZUG begründet, nicht aber einen eigenen Unterstützungswohnsitz nach Art. 7 Abs. 3 lit. d ZUG.  Bei dieser Ausgangslage stellt sich die Frage, ob ein allfällig stationärer Aufenthalt im Kantonsspital Aarau (AG) zu einer Veränderung des Aufenthaltsortes führen würde. Nach Rechtsprechung des Bundesgerichts ist jedoch eine Aufenthaltsortsverlegung zurückhaltend anzunehmen (Urteil 8C_852/08 vom 25.2.09 mit Verweis). Hat z.B. der Onkel das Kind nach Aarau verbracht und musste es dort stationär bleiben, würde es meiner Meinung nach trotzdem den Aufenthalt in Solothurn beibehalten, da auch dort Mutter und Onkel wie auch seine Effekten sind. Wurde es vom Spitalauto ins Spital verbracht, dann bleibt auf jeden Fall der Kanton Solothurn zuständig (Art. 11 Abs. 2 ZUG).

Nach Art. 21 Abs. 1 ZUG ist der Aufenthaltskanton für ausländische Personen zuständig, die sich in der Schweiz aufhalten, ohne einen Unterstützungswohnsitz zu haben, und hier in Not geraten. Mutter und Kind haben ihren Aufenthaltsort beim Onkel im Kanton Solothurn, insoweit ist der Kanton Solothurn als Aufenthaltskanton zuständig für das Kind, das aufgrund des Unfalls in eine Notlage geraten ist.

Zum Umfang der Unterstützung macht Art. 21 ZUG ebenfalls eine Aussage: Danach ist sofortige Hilfe zu leisten bis die Rückkehr in den Wohnsitz- oder Heimatstaat ärztlich zumutbar ist. Dies bedeutet, dass Spitalbehandlungen sich auf das Notwendige beschränken müssen, bis das Kind reisefähig ist.  

Damit das Gemeinwesen für Spitalkosten aufkommen muss, wird in der Praxis in der Regel der Nachweis der Uneinbringlichkeit der Kosten verlangt (vgl. Merkblatt der SKOS «Medizinische Notfallhilfe / Finanzierungsfragen bei Touristinnen und Touristen und Durchreisenden» Ziff. 3.5, Jahr 2014 ). Diese wird u.a. damit nachgewiesen, dass nach erfolgloser Mahnung eine Betreibung eingeleitet wurde, woraus ein Verlustschein resultiert. In Ihrem Fall hat das Kind die Leistung in Anspruch genommen, somit ist auch es Rechnungsadressat bzw. die Eltern, aber nur als gesetzliche Vertreter von ihm. Eine Betreibung müsste dann gegen das Kind eingeleitet werden, wobei wiederum die Eltern als gesetzliche Vertreter die Adressaten sind. Den Eltern selber können die Behandlungskosten nur in Rechnung gestellt werden, wenn sie sich neben dem Kind zur Übernahme der Kosten vorgängig verpflichtet haben z.B. in einem Formular, das ihnen das Spital unterbreitet. Ist dies nicht der Fall, muss die Rechnung dem Kind bzw. den Eltern als gesetzliche Vertreter zugestellt werden, ebenso eine allfällige Betreibung. Zum Ganzen siehe: https://www.ch.ch/de/konsequenzen-schulden/. Erweist sich zum Voraus eine solche Betreibung gegen das Kind als klar aussichtslos, wäre mit dem zuständigen Sozialdienst zu klären, ob auf eine solche verzichtet werden kann. Falls die Uneinbringlichkeit erstellt oder anerkennt wird, kommt die Sozialhilfe praxisgemäss für die Behandlungskosten auf (siehe zitiertes Merkblatt der SKOS). Übernimmt somit die Sozialhilfe Kosten für das Kind, subrogiert die Sozialhilfe in den Unterhaltsanspruch, welcher das Kind gegenüber den Eltern bzw. dem Vater hat (Art. 276 ZGB). Dieser kann der Sozialdienst sodann über das Zivilgericht klageweise geltend machen. Wie dieser berechnet würde, würde den Rahmen dieser Anfrage sprengen. Es kämen die allgemeinen Regeln gemäss Art. 285 ZGB zur Anwendung, die sich in den Grundzügen am betreibungsrechtlichen Existenzminimum orientieren (dazu nachfolgend).

Falls sich der Vater neben dem Kind mitverpflichtet hat, kann die Rechnung (auch) an ihn gerichtet werden, ebenso die Betreibung. Wie sein betreibungsrechtliches Existenzminimum bemessen würde, würde den Rahmen dieser Anfrage ebenfalls sprengen, weshalb ich Sie auf das diesbezügliche Kreisschreiben des Obergerichts des Kantons Bern verweisen möchte.

Noch ein Hinweis zur Versicherungspflicht: In der Schweiz erwerbstätige AusländerInnen, welche vom FZA-Abkommen erfasst werden, sind hierzulande krankenversichert, aber grundsätzlich auch ihre in einem EU-Staat lebenden, nichterwerbstätigen Familienangehörigen (vgl. dazu das Merkblatt der AHV/IV und Gemeinsame Einrichtung KVG). Sie, also auch die im EU-Staat lebenden Familienangehörigen, sind in der Schweiz krankenversichert und haben auch konsequenterweise Anspruch auf Prämienverbilligung nach kantonalem Recht (siehe ebenfalls das erwähnte Merkblatt). Allenfalls könnte die Deckung der Kosten darüber gelöst werden? Nehmen Sie zur Frage der Versicherungspflicht der in Bulgarien lebenden Familienangehörigen nochmals mit der Gemeinsamen Einrichtung KVG in Solothurn oder mit dem für den Kanton Bern (Wohnkanton des Vaters) zuständigen Amt für Sozialversicherungen (Ostermundigen) Kontakt auf. Dazu noch ein weiterer Hinweis: Würde die Versicherungspflicht für die Familienangehörigen bejaht werden, könnte eine Prämiennachforderung resultieren. Diesbezüglich wäre aber auch ein rückwirkender Prämienverbilligungsanspruch prüfen zu lassen.

Ich hoffe, Ihnen mit diesen Ausführungen Ihre Fragen in den wesentlichen Punkten beantwortet zu haben.

Freundliche Grüsse

Ruth Schnyder