Liebes Expertenteam
Ich gelange mit folgender Anfrage aus dem Kanton BE an Sie:
Eine junge Frau ist von einer grossen Stadt im Kanton Bern in unser Einzugsgebiet ins Emmental gezügelt und bezieht nun von unserem Dienst Sozialhilfe. Sie wohnt zur Untermiete bei ihrer Schwester. Die Frau hat fünf Kinder. Davon sind zwei per Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts platziert und drei sind freiwillig in einem Schulheim platziert. Durch den Wechsel vom letzten Wohnort zu uns führen wir nun auch für alle Kinder ein Sozialhilfedossier. Es besteht die gemeinsame elterliche Sorge. Für die Kinder besteht eine Beistandschaft, welche noch vom Sozialdienst des letzten Wohnortes aus geführt wird. Die junge Frau ist psychisch erkrankt und suchtmittelabhängig. Nach einigen Monaten Aufenthalt bei ihrer Schwester, hat sie nun ihren Lebensmittelpunkt wieder zurück an den letzten Unterstützungswohnsitz verlagert. Sie wohnt bei verschiedenen Kollegen. Sie bekundet sie möchte in der Stadt bleiben. Sie hat ihre Schriften noch auf unserer Gemeinde hinterlegt.
Können wir das Sozialhilfedossier zurück an den letzten Sozialdienst übertragen? Wie sieht es mit den Sozialhilfedossiers der Kinder aus? Können die Sozialhilfedossiers der Kinder dauerhaft vom letzten Dienst aus geführt werden, da der Aufenthaltsort der Mutter sehr unstetig ist und von dort aus ja auch die Beistandschaft geführt wird?
Besten Dank und freundliche Grüsse
Sabine Bauer
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Bauer
Gerne beantworte ich Ihre Anfrage, welche die innerkantonale Zuständigkeit im Kanton Bern beschlägt. Diese ist in den Art. 46 ff. SHG (Bern) geregelt. Massgebend ist der zivilrechtliche Wohnsitz nach Art. 23 ff. ZGB (Art 46 Abs. 1 SHG). Wenn kein Wohnsitz besteht, ist die Aufenthaltsgemeinde zuständig. Dabei ist zu beachten, dass bei einem Wegzug der bisherige zivilrechtliche Wohnsitz bestehen bleibt, solange kein neuer begründet wird (Art. 24 Abs. 1 ZGB, welcher eine der Abweichungen zum Zuständigkeitsgesetz [ZUG] darstellt). Der Aufenthaltsort ist erst massgebend, wenn ein früher begründeter Wohnsitz nicht nachweisbar oder ein im Ausland begründeter Wohnsitz aufgegeben wurde und in der Schweiz kein neuer begründet worden ist.
Vorliegend kommt für die Mutter Art. 23 ZGB zur Anwendung. Massgebend ist die Absicht des dauernden Verbleibens, da keine Heimsituation o.ä. vorliegt. Kehrt die Mutter nun also zurück in die Stadt Bern, verlegt sie ihren zivilrechtlichen Wohnsitz zurück. Dabei ist nicht erforderlich, dass sie dort über geregelte Wohnverhältnisse verfügt oder sich anmeldet. Entscheidend ist, dass sie dort ihren Lebensmittelpunkt hat. Verlegt demnach die Mutter ihren zivilrechtlichen Wohnsitz nach Bern, endet die Zuständigkeit der Emmentaler Gemeinde und die Stadt Bern hat die wirtschaftliche Hilfe erneut aufzunehmen. Es besteht nach Ihrer Darstellung kein Anlass, vorliegend von einer Weiterwirkung des Wohnsitzes im Sinne von Art. 24 ZGB in der Emmentaler Gemeinde auszugehen.
Der Wohnsitz der Kinder regelt das ZGB in Art. 25 wie folgt:
c. Wohnsitz Minderjähriger
1 Als Wohnsitz des Kindes unter elterlicher Sorge gilt der Wohnsitz der Eltern oder, wenn die Eltern keinen gemeinsamen Wohnsitz haben, der Wohnsitz des Elternteils, unter dessen Obhut das Kind steht; in den übrigen Fällen gilt sein Aufenthaltsort als Wohnsitz.
2 Bevormundete Kinder haben ihren Wohnsitz am Sitz der Kindesschutzbehörde.
Das Berner Behördenhandbuch BKSE hält unter dem Stichwort „Wohnsitz“ zu Innerkantonalen Platzierungen Ziff. 5.6.3 Folgendes fest:
Im innerkantonalen Verhältnis wird bei Platzierungen die Zuständigkeit auch in finanzieller Hinsicht übertragen. Bei Beistandschaften geht die Unterstützungszuständigkeit bei einem Wohnortwechsel der Sorgeberechtigten auf den Sozialdienst des neuen Wohnortes über.
Die Regelung des ZGB kann wie folgt verstanden (vgl. Kurt Affolter-Fringeli und Urs Vogel, BK – Berner Kommentar, 2016, Die elterliche Sorge / der Kindesschutz, Art. 296-317 ZGB - Das Kindesvermögen, Art. 318-327 ZGB - Minderjährige unter Vormundschaft, Art. 327a-327c ZGB Schweizerisches Zivilgesetzbuch, Art. 315 – 315b, Rz. 41 ff mit Rechtsprechungshinweisen):
Die sorgeberechtigten Eltern leben zusammen oder sie leben getrennt, aber in der gleichen Gemeinde z.B. in der Stadt Bern: Der Wohnsitz des Kindes leitet sich vom Wohnsitz der Eltern ab, unabhängig davon, wo es sich aufhält.
Die sorgeberechtigten Eltern leben nicht in der gleichen Gemeinde (Mutter in der Stadt Bern, Vater in Thun):
- Besitzt ein Elternteil die Obhut (gemäss Gerichtsurteil, Behördenentscheid oder Vereinbarung zwischen den Eltern), dann ist dessen Wohnsitz massgebend, selbst wenn das Kind bei Dritten untergebracht wird.
- Bestehen keine eindeutigen Anknüpfungspunkte aus einer Obhutsregelung oder wurde beiden Elternteilen das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen (oder sind sie unbekannten Aufenthalts), dann ist der Aufenthaltsort des Kindes für seinen Wohnsitz massgebend.
Demnach kann in Fremdplatzierungsfällen der Aufenthaltsort des Kindes für die Zuständigkeit massgebend werden, wenn die sorgeberechtigten Eltern nicht den gleichen zivilrechtlichen Wohnsitz haben und sich keine eindeutige Regelung zur Obhut finden lässt oder ihnen beiden das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen wurde oder beide Elternteile unbekannten Aufenthalts sind. Insoweit könnte sich eine gleichbleibende Zuständigkeit für die Kinder etablieren. Wenn lediglich eine eindeutige Regelung zur Obhut fehlt, dann besteht die Anknüpfung am Aufenthaltsort des Kindes solange, als die Eltern keinen deckungsgleichen zivilrechtlichen Wohnsitz haben. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass diese Sicht nicht ganz der Regelung im Berner Handbuch wie oben dargelegt entspricht.
Ich hoffe, Ihnen mit dieser Antwort in der Frage weitergeholfen zu haben.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder