Guten Tag
In der SKOS-Broschüre "Unterstützung vion Personen aus dem EU/EFTA-Raum" (Bern 2019) heisst es auf Seite 6:
Weiter besteht nach Artikel 4 Anhang 1 FZA ein Verbleiberecht, wenn eine Person dauernd arbeitsunfähig geworden ist (und die Beschäftigung deswegen aufgegeben hat) und sich während der letzten zwei Jahre (im Zeitpunkt des Eintritts der AUF) ständig in der Schweiz aufgehalten hat oder Anspruch auf die Rente eines schweizerischen Versicherungsträgers hat.
Lege ich diese Stellungnahme der SKOS zu Grunde, sollte es ja auch bei Personen mit nur kleiner IV (und deshalb hohem EL-Bedarf) oder bei Personen in Rentenprüfung keine Probleme geben...?!
Oder ist das die SKOS für einmal zu "blauäugig"?
freundliche Grüsse
M. Blindow
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Lieber Herr Blindow
Die Sache mit dem besonderen Verbleiberecht gemäss Art. 4 Anhang I FZA ist kompliziert: Es geht um spezielle Fälle, wo die "Arbeitnehmendeneigenschaft" (und um Arbeitnehmende geht es bei der Personenfreizügigkeit primär) in speziellen Konstellationen weiter angenommen wird trotz Arbeitsunfähigkeit.
Tatsächlich ist es so, dass EU-/EFTA-Angehörige, die nach zweijährigem ständigem Aufenthalt in der Schweiz dauernd arbeitsunfähig werden und WEGEN der dauernden Arbeitsunfähigkeit eine Beschäftigung aufgeben, ein autonomes Verbleiberecht haben.
Die Karenzfrist von zwei Jahren entfällt, falls die Arbeitsunfähigkeit auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückgeht und ein Anspruch auf eine Rente eines schweizerischen Versicherungsträgers besteht (vgl. MARC SPESCHA, in: Migrationsrecht, Spescha/Thür/Zünd/Bolzli [Hrsg.], 3. Aufl. 2012, N. 4 zu Art. 4 Anhang I FZA).
Wer sich auf ein solches Verbleiberecht berufen kann, behält seine als Arbeitnehmer erworbenen Rechte. Weder der Bezug von EL noch der Anspruch auf Sozialhilfe (vgl. Art. 22 VEP) gefährden dann das Verbleiberecht.
Die vom zuständigen Arbeitsamt ordnungsgemäss bestätigten Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit und die Abwesenheit infolge Krankheit oder Unfall gelten dabei als anrechenbare Beschäftigungsperioden (vgl. Art. 4 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70).
Wenn die IV-Abklärungen noch im Gange sind bzgl. der dauernden Arbeitsunfähigkeit, darf die Migrationsbehörde nicht über den weiteren Aufenthaltsstatus entscheiden. In Zweifelsfällen ist die Verfügung der zuständigen IV-Stelle abzuwarten; regelmässig kann nur gestützt auf deren Entscheid abschliessend beurteilt werden, ob eine Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 vorliegt. (Urteil 2C_587/2013 vom 30. Oktober 2013). Sie darf den Aufenthaltsstatus nur dann früher regeln, wenn die IV-rechtliche Ausgangslage als Vorfrage zum Bewilligungsentscheid klar und eindeutig erscheint (Entscheid 2C_1102/2013 vom 8. Juli 2014).
Keine Probleme dürfte es also bei Personen im IV-Verfahren oder nach Zusprache der Rente und EL (ausser bei Berufsunfällen und -krankheiten) nur geben, wenn die Betroffenen eindeutig zwei Jahre ununterbrochen in der Schweiz ständiger Aufenthalt hatten vor dem Beginn der relevanten Arbeitsunfähigkeit.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot