Sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr
Das kantonale Sozialamt verlangt vom regionalen Sozialdienst auf Basis eines neuen Bundesgerichtsurteil 8C_138/2024 die Einrechnung des Einnahmen einer IV Rentnerin welche EL bezieht. Ich bin Beistand der IV Rentnerin. Der Lebenspartner braucht seit kurzem Sozialhilfe, eine IV Anmeldung ist pendent.
Gemäss meinem Wissensstand ist es so, dass das Sozialamt im Fall eines nichteinbringbaren Haushaltsbeitrages bei blossen Wohngemeinschaften diesen nicht einrechnen kann. Meine Frage ist, ob es möglich ist, das Urteil des Bundesgerichts zu umgehen indem dieselbe Strategie wie beim Haushaltsbeitrag möglich angewendet wird und die effektive Überweisung des Konkubinatsbeitrages, resp. die Aushändigung der Unterlagen zur Einkommenssituation, verweigert wird? Oder gibt es eine andere Möglichkeit diesen zu umgehen?
W
Frage beantwortet am
Anja Loosli Brendebach
Expert*in Sozialhilferecht
Guten Tag
Ich bedanke mich für Ihre Frage, die ich gerne wie folgt beantworte. Dabei gehe ich davon aus, dass es sich um ein gefestigtes Konkubinat handelt (ich gehe untenstehend darauf ein, wann es sich um ein solches handelt).
Die Sozialhilfe wird vom Subsidiaritätsprinzip beherrscht (BGE 141 I 153 E. 4.2). Als Grundprinzip im Sozialhilferecht meint die Subsidiarität, dass Sozialhilfe prinzipiell nur gewährt wird, soweit der Einzelne keinen Zugang zu einer anderweitigen, zumutbaren Hilfsquelle hat. Es ist damit Ausdruck der Pflicht zur Mitverantwortung und Solidarität gegenüber der Gemeinschaft, wie sie in Art. 6 BV verankert ist. Das Bestehen eines Anspruchs auf Sozialhilfe ist daher mit Blick auf den Subsidiaritätsgrundsatz zu klären (Urteil 8C_110/2014 vom 28. März 2014 E. 3.1.3).
In Art. 1 Abs. 1 der Ausführungsbestimmungen zum kantonalen Unterstützungsgesetz wird festgehalten, dass im Kanton Graubünden für die Bemessung der Unterstützung die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS-RL) massgebend sind.
In SKOS-RL D.4.4 wird festgehalten, dass – als Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips - das Einkommen und Vermögen der nichtunterstützten Person in Form eines Konkubinatsbeitrags zu berücksichtigen sind. Um ein stabiles Konkubinat handelt es sich nach Abs. 2, wenn die Partner seit mindestens zwei Jahren in einer Beziehung zusammenleben (davon gehe ich vorliegend, wie oben erwähnt, aus). Der Grund liegt darin, dass Ehepaare nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht schlechter gestellt werden sollen als eheähnliche Gemeinschaften (Erläuterungen lit. a). In lit. b der Erläuterungen zu SKOS-RL D.4.4 wird festgehalten, dass Einkommen und Vermögen des Partners/der Partnerin gestützt auf ein erweitertes SKOS-Budget zu berücksichtigen sind. Es werden betreffend Einkommen bzw. Einnahmen keine Einschränkungen gemacht. So ist z.B. nicht vorgesehen, dass die Einnahmen aus einer Sozialversicherungsrente oder EL nicht zu berücksichtigen sind. Der Kanton Graubünden hat diesbezüglich weder in den kantonalen Ausführungsbestimmungen noch im Handbuch abweichende Bestimmungen. Einnahmen in Form von EL sind deshalb grundsätzlich zu berücksichtigen bei der Berechnung des Konkubinatsbeitrags. Im von Ihnen genannten Bundesgerichtsentscheid (BGE 8C-138/2024) hat das Bundesgericht dies bestätigt und ausdrücklich festgehalten, dass diese als Einnahmen berücksichtigt werden dürfen (Erw. 5.2.3) und es nicht unzumutbar ist, dass der Partner oder die Partnerin ihre finanziellen Verhältnisse offenlegt. Damit ist das Vorgehen des Kantons Graubünden rechtsprechungs- und SKOS-RL konform.
Die Nichteinreichung der Unterlagen der Partnerin hilft nicht, die Anrechnung eines Konkubinatsbeitrags zu verhindern, da dies zur Folge hat, dass die Bedürftigkeit nicht berechnet werden kann und die Unterstützungsleistungen eingestellt oder nicht aufgenommen werden könnten (SKOS-RL F.3), da der Konkubinatsbeitrag und damit der Umfang der Bedürftigkeit nicht berechnet werden kann.
In lit. b der Erläuterungen zu SKOS-RL D.4.4 findet sich aber die Empfehlung, dass die rechtliche Vermutung eines gefestigten Konkubinats aufgrund der Dauer der Beziehung oder gemeinsamer Kinder umgestossen werden kann. Konkret muss von der unterstützten Person dargelegt werden, dass trotz Gründen für die Vermutung eines gefestigten Konkubinats keine eheähnliche Gemeinschaft besteht. Massgebend ist das Beweismass der «überwiegenden Wahrscheinlichkeit», d.h. das Sozialhilfeorgan muss von den vorgebrachten Indizien gegen das stabile Konkubinat mehr überzeugt sein als von jenen, die dafürsprechen. Eine blosse Glaubhaftmachung ist nicht ausreichend. Es müssen stichhaltige und nach aussen in Erscheinung tretende Anhaltspunkte bzw. Indizien vorgebracht werden, die bei objektiver Betrachtungsweise geeignet sind, die Annahme einer der Ehe vergleichbaren inneren Verbundenheit, d.h. die Bereitschaft zur Leistung von Treue und Beistand, zu beseitigen.
Sollte der Partner vorliegend solche Gründe vorbringen können, muss die Sozialhilfe prüfen, ob auf die Anrechnung eines Konkubinatbeitrags verzichtet wird. Die Auflösung des Konkubinats – also die räumliche Trennung – führt ebenfalls dazu, dass kein Konkubinatsbeitrag angerechnet wird.
Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort helfen zu können.
Freundliche Grüsse