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Zugang IV für UMA und für Nothilfe beziehende Personen

Veröffentlicht:
27.04.2020
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht

Guten Tag

In unserer Arbeit haben sich zwei Fragen bezüglich des Zugangs zu Leistungen der IV ergeben.

1. Eine Grundvoraussetzung für den Zugang zu Leistungen der IV ist unter anderem Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt in der Schweiz (Art. 6 Abs. 2 IVG). Erfüllen abgewiesene Asylsuchende, die Nothilfe beziehen,  grundsätzlich das Kriterium des Wohnsitzes in der Schweiz gemäss dieser Definition? Oder kann bereits mit Verweis auf den fehlenden Wohnsitz ein Gesuch abgelehnt werden?

2. Wie können unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) Zugang zu IV-Leistungen erhalten? Im Falle einer heute 19-jährigen Eritreerin mit F-Ausweis (ohne Flüchtlingsstatus) wurde aufgrund Intelligenzminderung und eines Herzfehlers ein IV-Gesuch für Massnahmen zur beruflichen Eingliederung gestellt. Sie ist 2015 als UMA in die Schweiz eingereist. Die IV anerkennt nun zwar die medizinischen Voraussetzungen, lehnt das Gesuch aber ab, weil das Beitragsjahr zum Zeitpunkt der Einreise nicht hergestellt werden kann - dies wäre nur über die Eltern möglich, welche ja per se nicht in der Schweiz sind. Ist das so Rechtens?

Herzlichen Dank im Voraus für Ihre Rückmeldungen!

Freundliche Grüsse

Raphael Strauss

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Sehr geehrter Herr Strauss

Bzgl. Eingliederungsmassnahmen (inkl. Hilfsmitteln und med. Massnahmen) der IV gilt Folgendes:

a) Zunächst ist gemäss Art. 6 IVG notwendig, dass ausländische Staatsangehörige Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 13 ATSG) in der Schweiz haben. Das ist der Fall, wenn ein Aufenthalt in der Schweiz besteht, verbunden mit der Absicht des dauernden Verbleibens.

Nicht entscheidend ist, ob die betreffenden Personen eine fremdenpolizeiliche Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung besitzen (BGE 125 V 78 E. 2a; Urteil des Bundesgerichts vom 10. Oktober 2007, 9C_294/2007, E. 6.2.1). Auch Asylsuchende können in der Schweiz Wohnsitz begründen (vgl. BGE 124 II 498 E. 2f). Ebenso vorläufig Aufgenommene, deren Asylgesuch abgewiesen worden ist (SVR 2000 IV Nr. 14, S. 45 E. 3e). Als für die Wohnsitznahme bestimmender Zeitpunkt gilt normalerweise der Zeitpunkt, in welchem sich die Person mit der Absicht des dauernden Verbleibens hierher begeben hat, also derjenige der Einreise in die Schweiz (vgl. BGE 113 II 7 f. E. 2). Es können also im Prinzip auch Asylsuchende mit negativem Entscheid Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt in der Schweiz haben.

Ein einmal begründeter Wohnsitz bleibt solange bestehen, bis anderswo ein neuer begründet wird (Art. 24 Abs. 1 ZGB).  Als Wohnsitz eines Kindes unter elterlicher Sorge der gemeinsame Wohnsitz der Eltern gilt oder der Wohnsitz des Elternteil, unter dessen Obhut das Kind lebt. Lebt das Kind nicht unter der Obhut der Eltern oder eines Elternteils und in internationalen Verhältnissen kann gemäss IPRG der dauernde Aufenthalt den Wohnsitz eines Kindes in der Schweiz begründen (Art. 20 Abs. 1 lit. a und b IPRG).

Grundsätzlich kann also ein Wohnsitz und ein gewöhnlicher Aufenthalt in der Schweiz für UMA und abgewiesene Asylsuchende bestehen.

b) Zusätzlich gilt aber, dass zur Erfüllung der versicherungsmässigen Voraussetzungen für Eingliederungmassnahmen die Betroffenen bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben.  Als Eintritt der Invalidität gilt gemäss der Rechtsprechung der Zeitpunkt, in dem die beantragte Leistung objektiv erstmals angezeigt war.

c) Für AusländerInnen unter 20 gilt gemäss Art. 9 Abs. 3 IVG überdies, dass Ansprüche auch bestehen können, wenn ihr Vater oder ihre Mutter, falls sie ausländische Staatsangehörige sind, bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben. In diesen Fällen besteht ein Anspruch, wenn die Personen unter 20 selbst in der Schweiz invalid geboren sind oder sich bei Eintritt der Invalidität seit mindestens einem Jahr oder seit der Geburt ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten haben. Oder: wenn die Kinder im Ausland invalid geboren sind und deren Mutter sich dort (und nicht in der Schweiz) unmittelbar vor der Geburt während höchstens zwei Monaten aufgehalten haben. (vgl. Art. 9 Abs. 3 IVG)

d) Nicht erwerbstätige Flüchtlinge und Staatenlose mit Wohnsitz in der Schweiz haben, auch wenn sie über 20 sind, wegen des Bundesbeschlusses über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und Staatenlosen in der AHV und IV (gestützt auf einen internationalen Vertrag) Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, wenn sie bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines Jahres in der Schweiz gewohnt haben.

e) In Ihrem Fall ist also entscheidend, ob vor der erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigung, welche den Bedarf am Hilfsmitteln bzw. den beruflichen Massnahmen begründet, ein Jahr Aufenthalt in der Schweiz bestand, oder ob die Eltern entsprechende Beiträge in der Schweiz geleistet haben.

Lässt sich dies nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit belegen, besteht kein Anspruch auf Leistungen der IV.

Ich hoffe, das dient Ihnen.

Prof. Peter Mösch Payot

Sehr geehrter Herr Mösch

Herzlichen Dank für die hilfreichen Ausführungen zum Wohnsitz und zur Situation von jungen Geflüchteten hinsichtlich IV-Zugang!

Zu Frage 2 betreffend der jungen Frau aus Eritrea: Es ist also effektiv eine Patt-Situation, wenn ich das richtig verstehe: Den Eintritt der Invalidität würden wir auf den Abschluss der regulären Schulzeit legen, da berufliche Eingliederungsmassnahmen zu diesem Zeitpunkt erstmals objektiv angezeigt waren. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits länger als ein Jahr in der Schweiz, hat aber als UMA keine Beträge bezahlt. Die Beitragspflicht würde bestehen, respektive müsste über die (nicht anwesenden) Eltern gedeckt worden sein. Es besteht also kein Zugang weil die Beitragspflicht technisch nicht erfüllt werden kann.

Dies scheint mir sehr problematisch, da somit UMA gegenüber Kindern, die mit ihren Eltern in die Schweiz eingereist sind, diskriminiert/benachteiligt werden. Ist dies vom Gesetzgeber so gewollt?

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Sehr geehrter Herr Strauss

Gut dass Sie nachfragen. Gerne präzisiere ich hier noch die entsprechende Antwort:

a) Da die betreffende Person einen F-Ausweis hat (ohne Flüchtlingseigenschaft, also nicht eine Person mit dem Status nach Art. 59 Asylgesetz) kommt der Bundesbeschluss über Flüchtlinge und Staatenlose nicht zur Anwendung. 

b) Soweit sie unter 20 ist,  gilt Art. 9 IVG in Ergänzung zu Art. 6 IVG für die Frage, ob Ansprüche auf Eingliederungsmassnahmen bestehen. Und insoweit kommt im vorliegenden Fall, wenn die Versicherungsunterstellung nicht über die Eltern abzuleiten ist, vor allem Art. 9 Abs. 3 lit. b IVG zum Zuge: Notwendig ist - zusätzlich dazu, dass Mutter oder Vater ein Jahr Beiträge bezahlt haben oder  zehn Jahre Aufenthalt in der Schweiz haben - entweder die Geburt als invalide in der Schweiz, oder dass sich die Jugendliche bei Eintritt der Invalidität mindestens ein Jahr ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten hat.

c) Eine einjährige Beitragspflicht oder ein 10jähriger Aufenthalt vor Eintritt der Invalidität ist hingegen für Eingliederungsmassnahmennotwendig, wenn die Eltern keine entsprechenden Bezüge zur Schweiz haben - oder immer ab dem 20. Geburtstag (vgl. Art. 6 Abs. 2 IVG). 

d) Als "Eintritt der Invalidität" gilt nun aber gemäss  der Rechtsprechung zu Art. 4 und Art. 5 Abs. 2 IVG  für Jugendliche bei den beruflichen Massnahmen eine prognostische Betrachtung. Entscheidend ist der Zeitpunkt, in dem erkennbar war, dass berufliche Massnahme wegen des Gesundheitszustandes voraussichtlich notwendig sein werden (vgl. z.B. SVR 2008 IV Nr. 3 = I 1040/06; BGE 110 V 102). 

Das kann natürlich auch schon vor oder in der Schulzeit sein. Aus diesem Grund kann l in Ihrem Fall, wenn die relevante Beeinträchtigung schon bei Einreise bestand, kein Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen bestehen. Die Praxis ist gerade bei Eingliederungsmassnahmen aber nicht ganz einheitlich und nicht immer so streng.

Insbesondere könnte sich ein Einwand etwa lohnen, wenn sich die Gesundheitsbeeinträchtigung nach einem Jahr Wohnen in der Schweiz (erheblich) verschlechtert hat. Oder wenn sich der Eingliederungsbedarf objektiv betrachtet tatsächlich erst nach einem Jahr Aufenthalt gezeigt hat.

Hintergrund dieser relativ restriktiven Regelung ist das Versicherungsprinzip, das hier so nach dem Willen des Gesetzgebers zu Ungunsten von mit Handycaps eingereisten Beeinträchtigten wirkt.

Ich hoffe, die Ergänzung dient Ihnen.

Peter Mösch Payot

Sehr geehrter Herr Mösch

Danke für die zusätzlichen Erläuterungen - nach nochmaliger genauer Durchsicht muss ich trotzdem nochmals nachfragen: Sie verweisen auf Art. 9 Abs. 3 lit. b IVG, sofern die Versicherungsunterstellung nicht über die Eltern abzuleiten ist. Nun ist dieser aber mit dem vorhergehenden Art. 9. Abs. 3 lit. a mit einem UND verknüpft, und setzt somit wiederum die Anwesenheit mindestens eines Elternteiles voraus.

Die IV bestreitet denn auch nicht den Zeitpunkt des Invaliditätseintrittes, sondern verweist auf das fehlende Beitragsjahr. Dies könne für eine 19-jährige Person ohne Anwesenheit ihrer Eltern auch nicht mit rückwirkender Bezahlung durch die Asylsozialhilfestelle hergestellt werden. Ist es tatsächlich so, dass das Beitragsjahr für UMA gar nicht hergestellt werden kann?

Bin gespannt auf Ihre Antwort und wünsche ein gutes Wochenende

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Sehr geehrter Herr Strauss

Ja, die Sache ist komplex. Danke für das Nachfragen.

1. Tatsächlich kommt die Ausnahme von Art. 9  Abs. 3 IVG bei Personen, die nicht dem Flüchtlingsstatus unterstehen nur in Fragen, wenn erstens die betroffene Person in der Schweiz invalid geboren wurde (Ausnahmsweise auch im Ausland vgl. Satz 2 und Art. 4ter IVV) oder eben bei Eintritt der Invalidität seit mindestens einem Jahr oder seit der Geburt ununterbrochen in der Schweiz war. Meines Erachtens scheitert Ihr Fall schon an diesem Eintritt der Invalidität, darauf habe ich verwiesen.

ZUDEM müsste aber, wie Sie richtig erwähnen, bei Eintritt der Invalidität ein ausländischer Elternteil mind. ein Jahr Beiträge geleistet haben oder sich während 10 Jahren in der Schweiz aufgehalten haben (vgl. BGE 107 V 207). Auch dies fehlt hier und darauf hat sich wohl die Ausgleichskasse bezogen.

2. Denkbar ist noch, dass eine UMA über Art. 6 Abs. 2 IVG selber  die versicherungsmässigen Voraussetzungen erfüllt. Dafür müsste sie aber ebenfalls vor Eintritt der Invalidität selber während eines Jahres Beiträge geleistet haben oder unterunterbrochen während zehn Jahren sich in der Schweiz aufgehalten haben. Das kommt bei U20 wohl nur für Erwerbstätige in Frage. 

3. Da die Beitragspflicht für Nichterwerbstätige ja erst am 1. Januar nach Vollendung des 20. Altersjahres beginnt (Art. 3 AHVG) sehe ich auch insoweit von Vornherein keine Möglichkeit.

4. Würde der Status nach Art. 59 Asylgesetz anerkannt, könnte die Frage neu geprüft werden wegen des Bundesbeschlusses über die Rechtsstellung von Flüchtlingen und Staatenlosen in der AHV und IV. Diese Gruppe kann, soweit unter 20, unabhängig von den Eltern, einen Anspruch haben, wenn in der Schweiz invalid geboren oder seit der Geburt ununterbrochen in der Schweiz oder wenn sie bei Eintritt der Invalidität ein Jahr in der Schweiz gewohnt haben.

5. Wobei sich auch dort das bereits in der letzten Antwort angesprochene Problem stellt, dass die Invalidität (bei Eingliederungsmassnahmen im Sinne davon, dass absehbar ist, dass eine entsprechende Massnahme notwendig wird) wohl schon bestand bei der Wohnsitznahme in der Schweiz.

Peter Mösch Payot