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Zivilrechtlicher Wohnsitz bei Eintritt Volljährigkeit und Heimaufenthalt

Veröffentlicht:
08.11.2018
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Es stellt sich die Frage, wo mit Eintritt der Volljährigkeit meiner Klientin ihr zivilrechtlicher Wohnsitz sein wird und in der Folge welche KESB für die Errichtung einer Erwachsenenschutzmassnahme zuständig ist?
Die minderjährige Klientin hat zusammen mit ihrer Kindesmutter (der Kindesvater ist verstorben) in einem gemeinsamen Haushalt in W. gewohnt. Von dort aus ist das Kind unter Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrecht (Art. 310 ZGB) durch die KESB in ein Heim platziert worden. Ebenfalls von der KESB wurde eine nahtlose Umplatzierung in ein anderes Heim beschlossen. In diesem Heim in der Gemeinde A. wohnt die Klientin aktuell immer noch. In der Nachbargemeinde H. macht die Klientin ihre Berufslehre im 1. Arbeitsmarkt. Ihre Wochenenden verbringt sie in der Regel bei ihrem volljährigen Freund in der Nachbargemeinde O. Die Mutter in der Gemeinde E. besucht sie gelegentlich, wobei es sich um Besuche ohne Übernachtung handelt.
Während dem Heimaufenthalt hat die Kindesmutter den Wohnsitz in W. aufgegeben und einen neuen in der Gemeinde E. begründet. Momentan hat die Klientin ihren abgeleiteten zivilrechtlichen Wohnsitz ebenfalls in der Gemeinde E.
(Der unterstützungsrechtliche Wohnsitz befindet sich m.E. weiterhin in der Gemeinde W, welche aktuell die Heimkosten übernimmt).
Es stellt sich die Frage, wo mit Eintritt der Volljährigkeit meine Klientin ihren zivilrechtlichen Wohnsitz haben wird und in der Folge welche KESB für die Errichtung einer Erwachsenenschutzmassnahme richtigerweise zuständig ist? Ist es die KESB, welche für die Gemeinde E. zuständig ist oder ist es die KESB, welche für die Gemeinde A. (Heim), allenfalls Gemeinde O. (Freund), zuständig ist?
Gehe ich richtig in der Annahme, dass in Bezug auf die Beurteilung des zivilrechtlichen Wohnsitzes nicht das Beschlussdatum für die Errichtung der Erwachsenenschutzmassnahme relevant ist sondern per wann (=per Erreichen der Volljährigkeit) die Massnahme ihre Wirkungen entfaltet?

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrte Frau Schneider
Zivilrechtlicher Wohnsitz
Der zivilrechtliche Wohnsitz nach Erreichen der Volljährigkeit richtet sich nach Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 ZGB.
Art. 23 Abs. 1 ZGB
Der Wohnsitz einer Person befindet sich an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält; der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt begründet für sich allein keinen Wohnsitz.
Art. 24 Abs. 1 ZGB
Der einmal begründete Wohnsitz einer Person bleibt bestehen bis zum Erwerbe eines neuen Wohnsitzes.
Art. 23 stellt zwei Kriterien auf, welche beide erfüllt sein müssen, damit eine handlungsfähige Person an einem bestimmten Ort Wohnsitz hat: den objektiven physischen Aufenthalt und die subjektive Absicht dauernden Verbleibens. Da der Wohnsitz nicht nur für die betroffene Person, sondern auch für Drittpersonen und das Gemeinwesen von Bedeutung ist, ist die innere Absicht des dauernden Verbleibs nur soweit von Bedeutung, als sie nach aussen erkennbar ist (statt vieler BGE 137 II 122; zum Ganzen BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 5 ff. und 19a ff.). Massgebend ist daher der Ort, wo sich der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen befindet (BGE 125 III 100, 102: «le centre de gravité de son existence»). Einen selbstständigen Wohnsitz kann nur begründen, wer urteilsfähig ist. Die Absicht, einen Ort später zu verlassen, schliesst eine Wohnsitzbegründung nicht aus (BGE 127 V 241).
Der Aufenthalt zu einem Sonderzweck allein begründet keinen Wohnsitz. Die Bestimmung will die Gemeinden entlasten, auf deren Gebiet sich die entsprechenden Einrichtungen befinden. Art. 23 ZGB begründet damit eine widerlegbare Vermutung; denn eine Begründung eines neuen Wohnsitzes am Ort der Einrichtung ist nicht ausgeschlossen, wenn der dortige Aufenthalt nicht nur dem Sonderzweck dient (BBl 2006, 7001, 7096; statt vieler BGE 135 III 49, 56). Wer freiwillig seinen Lebensmittelpunkt an diesen Ort verlegt, begründet hier einen Wohnsitz und behält nicht seinen bisherigen Wohnsitz gemäss Art. 24 Abs. 1 ZGB als fiktiven bei (statt vieler BGE 135 III 49, 56).
Zwischenfazit
Gemäss den Ausführungen weist einiges darauf hin, dass der Aufenthalt in A nicht nur dem Sonderzweck dient, vielmehr behält die junge Frau ihren Lebensmittelpunkt (nun) freiwillig in der Einrichtung in A. Sie hat eine Lehrstelle in H und einen Freund in O, was ein Indiz dafür ist, dass sie sich in A heimisch fühlt.
Anders wäre es, wenn die junge Frau nur noch bis Ausbildungsabschluss in der Einrichtung in A bleiben möchte und danach zu ihrer Mutter und Freunden nach E zurückkehren beabsichtigt, die sie auch regelmässig in den Ferien und an den Wochenenden besucht.
Die in Art. 23 ZGB aufgestellte Vermutung dürfte somit widerlegt sein und die junge Frau hat demnach mit Erreichen der Volljährigkeit ihren zivilrechtlichen Wohnsitz am Heimstandort in A.
Fazit
Die junge Frau hat ihren zivilrechtlichen Wohnsitz in E, solange sie unter elterlicher Sorge steht. Die Kindesschutzmassnahme fällt von Gesetzes wegen mit der Volljährigkeit dahin (KOKES-Praxisanleitung Kindesschutzrecht, Rz. 4.81).
Als Beiständin müssen Sie sich im vorliegenden Kontext nicht en détail mit der Bestimmung des zivilrechtlichen Wohnsitzes befassen. Die KESB hat ihre Zuständigkeit von Amtes wegen festzustellen (Art. 442 ZGB; KOKES-Praxisanleitung Kindesschutzrecht, Rz. 6.1. ff.). Sie verfügt auch über juristisches Know-how für solch komplizierte Sachverhalte. Reichen Sie oder die junge Frau den Antrag auf eine Erwachsenenschutzmassnahme an die örtlich falsche KESB ein, so hat diese den Antrag an die ihrer Meinung nach zuständige KESB weiterzuleiten und sich mit dieser zu verständigen.
I
ch gehe davon aus, dass die Erwachsenenschutzmassnahme notwendig ist und die Unterstützung nicht anderweitig geleistet werden kann.
Zuständig zur Anordnung einer erwachsenenschutzrechtlichen Massnahme ist die KESB am Wohnsitz der betroffenen Person (Art. 442 ZGB).
Kann davon ausgegangen werden, dass sich bei Volljährigkeit der zivilrechtliche Wohnsitz in A befindet, bedarf es einer Absprache zwischen der KESB E und der KESB A. Grundsätzlich sollte die bisherige KESB E noch während der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt des Erreichens der Volljährigkeit die erforderliche Erwachsenenschutzmassnahme anordnen, womit die Zuständigkeit klar bei der bisherigen KRESB E liegt. In diesem Entscheid wäre dann aber die Massnahme mit Erreichen der Volljährigkeit auf die neu zuständige Behörde zu übertragen. Möglich ist es, dass die KESB E Sie aus wichtigen Gründen im Mandat belässt, weil ein Beziehungsabbruch vermieden werden soll oder die Vertrauensbeziehung es erfordert. Ebenso kann die KESB E bereits eine Beistandsperson aus der KESB-Region A bestellen, was sie mit der dort zuständigen Organisation im Vorfeld zu besprechen hat.
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich
Karin Anderer
Luzern, 13.11.2018