Klientin X (Ausländerin mit B-Bewilligung) tritt am 1.1.2019 (als minderjährig 17 Jahre alt) in eine IVSE Institution in A. (Thurgau) ein. Die alleinsorgeberechtigte Mutter (das Aufenthaltsbestimmungsrecht wurde der Mutter durch KESB entzogen) hat zu diesem Zeitpunkt den Wohnsitz in B, Kanton Zug. Kanton Zug bewilligte die KÜG für die Tochter C in der Institution in A.
Per 1.7.2020 hat sich die Mutter in B abgemeldet und in der Gemeinde C angemeldet. Zu diesem Zeitpunkt lebt die inzwischen volljährige Tochter X nach wie vor in der IVSE-Institution in A. Die Mutter meldete die volljährige Tochter X nicht in C an. Nach zwei Wochen verliess Ende Juli 2020 die Mutter die Schweiz und lebt seitdem in Deutschland.
Kanton Zug stellt per 30.6.2020 die Zahlungen an die IVSE Institution ein und verlängern auch die KÜG nicht, da sie davon ausgehen, dass die Tochter X auch den zivilrechtlichen Wohnsitz in C zusammen mit der Mutter begründen hat. Es wird begründet dass junge Erwachsene bis zum Alter von 21 im Rahmen des Familiennachzuges immer mit den Eltern "mitziehen" müssen. Das würde meiner Meinung heissen, dass die Tochter aus der Schweiz ausreisen müsste, da beide Elternteile nicht mehr in der Schweiz wohnen.
Fragen:
Wo befindet sich der zivilrechtliche Wohnsitz von X seitdem ihre Mutter die Schweiz im Juli 20 nach Deutschland verlassen hat?
Welcher Kanton ist für die Übernahme der Kostengarantie (KÜG) zuständig seitdem die Mutter die Schweiz verlassen hat?
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Lieber Pavol
Die Abklärungen haben etwas gedauert.
Deine zusätzlichen Angaben zum Sachverhalt: In die Einrichtung in den Kanton Thurgau wurde die Tochter von der Mutter freiwillig platziert und sie setzte ihren Aufenthalt ab Volljährigkeit dort freiwillig fort. Die Tochter sei zuvor „flottant“ unterwegs und in Einverständnis mit dem kostenpflichtigen Gemeinwesen in verschiedenen Einrichtungen platziert gewesen. In U/Kanton Zug habe sie sich nie aufgehalten. Ihren Unterstützungswohnsitz habe sie in Basel.
Der Sachverhalt ist komplex und es kommt auf jedes Detail an. Die Antwort beruht auf den vorliegenden Angaben.
1. Zivilrechtlicher Wohnsitz
Die minderjährige Tochter wurde von U/Kanton Zug in eine IVSE-Einrichtung im Kanton Thurgau freiwillig platziert. Der zivilrechtliche Wohnsitz der Tochter leitet sich vom zivilrechtlichen Wohnsitz der Mutter ab, das ist U/Kanton Zug: Hat nur ein Elternteil die elterliche Sorge inne, so leitet sich der zivilrechtliche Wohnsitz des Kindes immer vom Sorgerechtsinhaber ab. Es spielt keine Rolle, wo das Kind sich aufhält, und es spielt auch keine Rolle, ob gegenüber dem sorgeberechtigten Elternteil das Aufenthaltsbestimmungsrecht nach Art. 310 ZGB aufgehoben wurde (BK Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 315-315b N 45).
Die, seit dem 1. Januar 2019 in der Einrichtung lebende, Tochter wird im Juni 2019 volljährig und die KESB im Kanton Zug errichtete nahtlos eine Erwachsenenschutzmassnahme. Damit erklärt sich die KESB für örtlich zuständig: Nach Art. 442 Abs. 1 ZGB ist die KESB am Wohnsitz der betroffenen Person zuständig.
Hier ein paar Ausführungen:
Die Mutter zieht, nach Erreichen der Volljährigkeit der Tochter, von U/Kanton Zug um nach O/Kanton Solothurn. Zwei Wochen später zieht die Mutter nach Deutschland um.
Mit Erreichen der Volljährigkeit fällt der abgeleitete zivilrechtliche Wohnsitz von der Mutter von Gesetzes wegen weg. Der Familiennachzug hat keine Auswirkungen auf den zivilrechtlichen Wohnsitz, der Wegzug der Mutter könnte allenfalls Auswirkungen auf den Verbleib der Tochter in der Schweiz haben. Unmassgebend für den zivilrechtlichen Wohnsitz ist, ob eine Person eine Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung besitzt; eine solche kann jedoch ein Indiz für die Absicht des dauernden Verbleibens sein (BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 23).
Hinweis: Lass dir von der IVSE-Stelle die konkrete Rechtsgrundlage für die Aussage geben, „dass junge Erwachsene bis zum Alter von 21 im Rahmen des Familiennachzuges immer mit den Eltern "mitziehen" müssen“ und wo die Auswirkungen auf den zivilrechtlichen Wohnsitz konkret verankert sein sollen.
Nach Art. 24 Abs. 1 ZGB bleibt der einmal begründete Wohnsitz einer Person bis zum Erwerb eines neuen Wohnsitzes bestehen. Wird ein Kind unter elterlicher Sorge volljährig, so bleibt der bisherige abgeleitete Wohnsitz bis zur Begründung eines neuen bestehen (Art. 24 Abs. 1 ZGB; BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 16; BK-Hausheer/Reusser/Geiser, Art. 162 N 34/10).
Zu prüfen gilt, wo die Tochter ihren zivilrechtlichen Wohnsitz ab ihrer Volljährigkeit hat. Nach Art. 23 Abs. 1 ZGB befindet sich der Wohnsitz einer Person an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält; der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt begründet für sich allein keinen Wohnsitz.
Art. 23 ZGB stellt zwei Kriterien auf, welche beide erfüllt sein müssen, damit eine handlungsfähige Person an einem bestimmten Ort Wohnsitz hat: den objektiven physischen Aufenthalt und die subjektive Absicht dauernden Verbleibens. Da der Wohnsitz nicht nur für die betroffene Person, sondern auch für Drittpersonen und das Gemeinwesen von Bedeutung ist, ist die innere Absicht des dauernden Verbleibs nur soweit von Bedeutung, als sie nach aussen erkennbar ist (zum Ganzen BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 5 ff. und 19a ff.). Massgebend ist daher der Ort, wo sich der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen befindet. Einen selbständigen Wohnsitz kann nur begründen, wer urteilsfähig ist. Die Absicht, einen Ort später zu verlassen, schliesst eine Wohnsitzbegründung nicht aus.
Der Aufenthalt zu einem Sonderzweck allein begründet keinen Wohnsitz. Die Bestimmung will die Gemeinden entlasten, auf deren Gebiet sich die entsprechenden Einrichtungen befinden. Art. 23 ZGB begründet damit eine widerlegbare Vermutung; denn eine Begründung eines neuen Wohnsitzes am Ort der Einrichtung ist nicht ausgeschlossen, wenn der dortige Aufenthalt nicht nur dem Sonderzweck dient (BGE 135 III 49). Wer freiwillig seinen Lebensmittelpunkt an diesen Ort verlegt, begründet hier einen Wohnsitz und behält nicht seinen bisherigen Wohnsitz gemäss Art. 24 Abs. 1 ZGB als fiktiven bei (BGE 135 III 49, 56).
Die Unterbringung in eine Einrichtung begründet keinen Wohnsitz, selbst wenn sie auf unbestimmte Zeit erfolgt, der Lebensmittelpunkt völlig in die Einrichtung verlegt wird und alle Beziehungen zum bisherigen Wohnsitz abgebrochen werden. Mit dem Begriff Unterbringung ist eine Einweisung durch Dritte gemeint, d.h. die volljährige Person befindet sich nicht aus eigenem Willem in der Einrichtung. Die Einweisung muss nicht behördliche angeordnet worden sein. Die betroffene Person behält aufgrund Art. 24 Abs. 1 ZGB ihren bisherigen Wohnsitz gemäss Art. 23 oder 25 ZGB.
Folgende Frage ist somit zu klären: Dient der Aufenthalt der Tochter in der Einrichtung im Kanton Thurgau einem Sonderzweck?
Ist der Aufenthalt vorübergehender Natur, z.B. bis Ausbildungsabschluss, Schulabschluss, Krisenintervention, Übergangsplatzierung, so spricht das für einen Sonderzweck. In diesem Fall hat die Tochter aufgrund von Art. 24 Abs. 1 ZGB ihren bisherigen zivilrechtlichen Wohnsitz gemäss Art. 25 Abs. 1 ZGB Wohnsitz in U/Kanton Zug beibehalten.
Da die KESB sich im Juni 2019 für örtlich zuständig erklärt hat, ist davon auszugehen, dass sich der zivilrechtliche Wohnsitz weiterhin im Kanton Zug befindet.
Fühlt sich die Tochter in der Einrichtung im Kanton Thurgau heimisch, hat sie vor Ort Kontakte geknüpft und möchte sie dort bzw. in der Region auch in Zukunft leben? In diesem Fall hat sie am Einrichtungsstandort nach Art. 23 ZGB ihren zivilrechtlichen Wohnsitz begründet.
Die Sachverhaltsbeschreibung und die zusätzlichen Informationen weisen m.E. eher auf einen Sonderzweck hin.
Hinweis Internationales Privatrecht IPRG:
Das IPRG regelt internationale Sachverhalte, das für Familien mit ausländischer Staatsbürgerschaft anwendbar ist.
Nach Art. 20 Abs. 2 IPRG wird bei Minderjährigen an den effektiven gewöhnlichen Aufenthalt angeknüpft, und nicht an einen von der elterlichen Sorge oder der KESB abgeleiteten Wohnsitz. Ein Teil der Lehre vertritt die Ansicht, in internationalen Sachverhalten könne nicht an Art. 25 ZGB angeknüpft werden (Schwander, AJP 2014, S. 1360; Levante, S. 54 f.; BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 4 m.w.H). Ein anderer Teil der Lehre hält dafür, der Ort des Wohnsitzes bestimmt sich nach dem ZGB, wenn ein Wohnsitz nach Art. 20 Abs.1 IPRG in der Schweiz bejaht werden könne (BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 4; BK Hausheer/Reusser/Geiser, Art. 162 N 34/25). Die Praxis folgt weitgehend dieser zweiten Lehrmeinung. Die kontroverse Rechtslage wurde vom Bundesgericht bis anhin noch nicht geklärt (eingehend dazu Vogel Urs, Der Wohnsitz des minderjährigen Kindes im Zivil- und Sozialhilferecht, in: Fankhauser/Reusser/Schwander (Hrsg.), FS Geiser, Zürich 2017, S. 584 f.).
2. IVSE-Zuständigkeit
Der Bereich A ist in Art. 2 IVSE geregelt: Stationäre Einrichtungen, die gestützt auf eidgenössisches oder kantonales Recht Personen bis zum vollendeten 20. Altersjahr, längstens jedoch bis nach Abschluss der Erstausbildung beherbergen, sofern sie vor Erreichen der Volljährigkeit in eine Einrichtung eingetreten oder dort untergebracht worden sind.
Schuldner der Leistungsabgeltung ist nach Art. 19 IVSE der Wohnkanton der Person, welche die Leistungen beansprucht. Der Wohnkanton wird nach Art. 4 lit. d IVSE anhand des zivilrechtlichen Wohnsitzes bestimmt. Da Minderjährige nicht selten ihren zivilrechtlichen Wohnsitz am Aufenthaltsort haben, kam es regelmässig zu Zuständigkeitsstreitigkeiten und Standortbelastungen. Deshalb wurde am 23. November 2018 das Regelwerk geändert und in Art. 5 IVSE ein neuer Abs. 1bis erlassen.
Art. 5 Abs. 1bis IVSE lautet:
Begründet eine Person mit dem Aufenthalt oder während des Aufenthaltes in einer Einrichtung gemäss Artikel 2 Absatz 1 Bereich A ihren zivilrechtlichen Wohnsitz am Standort der Einrichtung, ist der Kanton des letzten von den Eltern oder eines Elternteils abgeleiteten zivilrechtlichen Wohnsitzes für das Leisten der Kostenübernahmegarantie zuständig.
Somit lässt sich eine Standortbelastung verhindern, wenn eine Person während dem Aufenthalt in einer Einrichtung volljährig wird und gestützt auf Artikel 23 ZGB ihren Lebensmittelpunkt und somit einen eigenen Wohnsitz am Standort der Einrichtung begründet hat.
Art. 5 Abs. 1bis IVSE wurde per 1. Juni 2020 in Kraft gesetzt (Anhang 1 IVSE).
Der Vorstand der IVSE hat im Übrigen bereits am 23 November 2018 eine „Empfehlung über die vorwirkende Anwendung der «Änderung der IVSE (Art. 5 Absatz 1bis)“ beschlossen (siehe das Dossier Teilrevision IVSE,auf <https://www.sodk.ch/de/ivse/ivse-allgemein/teilrevision/>.
Der Kanton Zug hat mit Regierungsratsbeschluss vom 25. Februar 2020 die Änderung der IVSE vom 23. November 2018 ratifiziert.
Art. 5 Abs. 1bis IVSE führt also in Fällen, wo die betroffene Person ihren zivilrechtlichen Wohnsitz mit dem Eintritt in die Einrichtung oder während des Aufenthaltes in einer Einrichtung begründet, zu einer Sonderanknüpfung; Standortbelastungen werden somit weitgehend vermieden.
Somit gilt Folgendes:
Auch wenn die Tochter infolge Volljährigkeit ihren zivirechtlichen Wohnsitz in den Standortkanton Thurgau verlegt haben sollte, bleibt nach Art. 5 Abs. 1bis IVSE der Kanton Zug weiterhin für das Ausstellen der KÜG zuständig. Das ist der Kanton des letzten von der Mutter abgeleiteten zivilrechtlichen Wohnsitzes. In O m Kanton Solothurn hatte sie nie zivilrechtlichen Wohnsitz.
Dem Sachverhalt ist nicht zu entnehmen, wie die zwei involvierten IVSE-Verbindungsstellen der Kantone Zug und Thurgau der Zuständigkeitsfrage nachgegangen sind; unklar ist auch, ob die Verbindungsstelle Solothurn involviert war. Art. 35 IVSE sieht für solche Konflikte ein Streitbeilegungsverfahren vor. Das muss geklärt sein, damit das weitere Vorgehen geplant werden kann.
Unklar ist auch, ob seit Juli 2020 die Heimrechnungen offen sind und der Aufenthalt in der Einrichtung deshalb gefährdet ist. In diesem Falle wäre beim Unterstützungswohnsitz eine subsidiäre Kostengutsprache für die Platzierungskosten einzuholen, mit Hinweis auf die IVSE-Zuständigkeitsstreitigkeit.
Die Frage, wo der Wohnsitz der Tochter ist bzw. ob dieser immer noch im Kanton Zug ist, liesse sich m.E. bei der KESB klären, da ein Wohnsitzwechsel zu einem Zuständigkeitswechsel der KESB führen würde.
Für das weitere Vorgehen ist es wahrscheinlich angezeigt, eine interne oder externe juristische Unterstützung anzufordern, die Materie ist äusserst komplex und die Akten müssen beigezogen werden.
Ich hoffe, die Ausführungen helfen dir weiter und ich grüsse dich freundlich.
Luzern, 25.1.2021
Karin Anderer