Zum Inhalt oder zum Footer

Zeitpunkt Anmeldung ALV/IV bei 100% AUF

Veröffentlicht:
23.12.2021
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht

Guten Tag

Ich begleite einen Mann mit folgender Ausgangslage:

  • Herr B. ist während rund 10 Jahren in einem Arbeitsverhältnis und kündigt dies per 31.7.2020 (80%, Nettolohn CHF 4200.-).
  • Per 13.7.2020 (überschneidendes Arbeitsverhältnis) tritt er eine neue Stelle an. Diese ist bis zum 30.06.2021 befristet (60%, Nettolohn CHF 2400.-).
  • Von Juni bis Oktober 2021 ist er auf einer Reise im Ausland.
  • Im Oktober kehrt er aus familiären Gründen vorzeitig zurück. Durch mehrere Schicksalsschläge ist er seit dem 10. November 2021 krankgeschrieben (100% AUF).
  • Herr B. lebt aktuell von seinem Ersparten, welches noch für ca. 10 Monate ausreichen würde.
  • Es besteht keine Krankentaggeldversicherung. KVG und UVG sind versichert. ALV und IV noch nicht angemeldet.

Prognose: Es ist davon auszugehen, dass Herr B. bis mind. Mitte Februar 2022 100% AUF sein wird, danach reduzierte AF. Je nach Behandlung könnte die 100% AUF aber auch bis Mai 2022 bestehen bleiben.

  • Welches Vorgehen würden Sie bzgl. ALV-Anmeldung empfehlen (Zeitpunkt, Krankentage, Wartetage, Fristen?)
  • Welche Leistungen sind von der ALV zu erwarten?
  • Welche Konsequenz hätte eine IV-Anmeldung (bei 100% AUF und bei 80% AUF) auf die ALV-Leistungen?
  • Was gilt es sonst zu beachten?

Ich danke Ihnen für Ihre Rückmeldung.

Mit besten Grüssen

D.G.

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Guten Tag

a) Bei einer Anmeldung bei der ALV ist vor allem zu beachten, dass die Person im Prinzip die Beitragspflicht erfüllen muss. Das ist nach den Sachverhaltsangaben bei einer Anmeldung während der nächsten Monate der Fall, da er ja bis Juni 2021 immer gearbeitet hat, und somit während der zwei Jahre vor der Anmeldung ein Jahr Beiträge geleistet hat.

Zusätzlich muss die/der Versicherte vermittlungsfähig sein.

Bei einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit (AUF) ist die Vermittlungsfähigkeit aber nicht ohen Weiteres abzulehnen. Vielmehr werden 30 Taggelder seit Beginn der AUF (insg. aber höchstens 44 Taggelder) gewährt.  Ob die Arbeitsunfähigkeit vorübergehend ist ist eine Frage der ärztlichen Prognose. Beweismässig wird die Annahme erleichtert, wenn das Arztzeugnis diese schon enthält. 

Im Weiteren ist die Vorleistungspflicht der ALV gemäss Art. 15 AVIG und Art. 15 AVIV zu beachten: Daraus ergibt sich praxisgemäss, dass unter folgendne Voraussetzungen die Arbeitslosenversicherung die Vermittlungsfähigkeit annehmen muss:

aa) bei einer Arbeitsfähigkeit von mindestens 20%, wie sie gemäss Fallbeschrieb hier ab ca. Mitte Februar oder später möglich erscheint und kumulativ

bb) wenn die/der Versicherte gleichzeitig bei der IV angemeldet ist.

In dieser Konstellation muss die ALV ein volles Taggeld gewähren, aber gleichzeitig allfällige Kontrollvorschriften etc. an die tatsächliche Situation gemäss dem Arztzeugnis anpassen.

b) Bei der IV führt eine Anmeldung dazu, dass eine genaue Abklärung des Gesundheitszustandes und der entsprechenden Folgen auf die Erwerbsfähigkeit erfolgen. Primär wird die Notwendigkeit von Eingliederungsmassnahmen geprüft wird zur Vermeidung der Invalidisierung. Bestünden keine Eingliederungsmöglichkeiten, so muss eine IV-Rente geprüft werden. Dafür ist gemäss Art. 29 IVG Voraussetzung, dass die Person ein Jahr arbeitsunfähig war. Auch wird die Rente frühestens sechs Monate nach der Anmeldung zur IV gewährt. Nötig für eine Rente ist bei Erwerbstätigen eine Erwerbseinbusse von mindenstens 40% für eine 25%-Rente.

c) Zum Vorgehen: Wegen  der bereits mehrmonatigen  Arbeitsunfähigkeit sollte mit einer Anmeldung bei der IV nicht mehr allzu lange gewartet werden. Vor allem wenn im vorliegenden Fall eine bleibende Teil-Beeinträchtigung, die zu einer Erwerbseinbusse führt, wahrscheinlich ist. Oder auch, wenn ein Bedarf an beruflichen Massnahmen und Integrationsmassnahmen der IV bestehen kann, um eine Wiedereingliederung zu ermöglichen. Die Anmeldung ist am besten mit dem Arzt rückzubesprechen. Eventuell kann ein detailiertes Arztzeugnis oder gar ein Facharztbericht der Anmeldung angefügt werden.  

Eine Anmeldung bei der ALV (schon vor der IV-Anmeldung und auch bei 100% AUF) ist dann sinnvoll, wenn ärztlich prognostiziert wird, dass die AUF vorübergehend ist. Allerdings können nur 30 Taggelder gewährt werden.

Wenn die Anmeldung bei der IV erfolgt ist so ist bei einer Rest-AUF von 20% auch eine Anmeldung bei der ALV sinnvoll, weil diese dann vorleistungspflichtig ist, und zwar im Rahmen der Höchstzahl von Taggeldern in der Rahmenfrist für die Zeit bis zu einem Vorbescheid der IV hinsichtlich der medizinischen Erwerbsfähigkeit.

d) Im Weiteren ist zu beachten, ob eine allfällige Invalidiät auch zu Ansprüchen gegenüber der Pensionskasse berechtigen würde. Das wäre dann der Fall, wenn im Sinne von Art. 23 BVG eine Arbeitsunfähigkeit begann als die Person noch versichert war bei der Pensionskasse, und wenn später die gleiche Ursache auch zur Invalidiät führt.

In Ihrem Fall wäre also insoweit zu prüfen, welche Gesundheitsbeeinträchtigungen die aktuelle AUF bewirkten, und ob diese innert einer Zeit begannen, als noch ein Versicherungsschutz bestand. Da das Arbeitsverhältnis bereits Ende Juni 2021 endet ist dies eher unwahrscheinlich. Es besteht aber im Regelfall ein Versicherungsschutz auch für Ereignisse, die innert einem Monat nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstanden (Art. 10 Abs. 3 BVG). Eventuell ist dies hier der Fall. 

Ich hoffe, das dient Ihnen. Ich wünsche Ihnen schöne Festtage!

Peter Mösch Payot

Sehr geehrter Herr Mösch

Herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung.  Ich erlaube mir noch folgende Nachfragen: 

  • Einstelltage: Die befristete Anstellung endete am 30.06.2021. Danach folgte eine längere Reise. Vor der Krankschreibung ab 10. November 2021 wurde eine Bewerbung versandt. Mit wie vielen Einstelltagen ist zu rechnen und ab wann beginnen diese?
  • Hat die AUF eine Auswirkung auf die Einstelltage, bzw. können während den Einstelltagen Krankentaggelder gesprochen werden?
  • Wie verhält es sich mit den Einstelltagen, wenn eine IV-Anmeldung gemacht wurde? - Muss die ALV auch während den Einstelltagen in Vorleistung gehen und Taggelder bezahlen?
  • Vorleistung ALV/IV: bei mind. 20%  AF geht die ALV mit dem vollen Taggeld in Vorleistung. Wie verhält es sich mit den Krankentaggeldern, wenn die Person erneut 100% AUF wird - gelten weiterhin die 30, bzw. 44 Krankentaggelder?

Vielen Dank für Ihre Antwort. Mit besten Grüssen

D.G.

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Gerne beantworte ich die Nachfragen. Pardon für die Wartezeit.

  • Einstelltage: Die befristete Anstellung endete am 30.06.2021. Danach folgte eine längere Reise. Vor der Krankschreibung ab 10. November 2021 wurde eine Bewerbung versandt. Mit wie vielen Einstelltagen ist zu rechnen und ab wann beginnen diese?

Grundsätzlich geht es hier um Einstelltage wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit (vgl. dazu Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG und Art. 44 und 45 AVIV.

Die konkrete Anzahl der Einstelltage ist abhängig vom Verschulden (leichtes Verschulden ergibt 1 bis 15 Tage, mittelschweres Verschulden 16-30 Tage und schweres Verschulden 31 bis 60 Tage, vgl. Art. 45 AVIV).

Siehe dazu auch die AVIG-Praxis als Weisung an die Arbeitslosenkassen bzw. RAV in dieser Sache. Unter D1 fortfolgende sind die konkreten Regeln abgelegt. Unter D 75 und D 79  finden sich die Einstellraster, die als grober Orientierungsrahmen gelten  (https://www.arbeit.swiss/secoalv/de/home/service/publikationen/kreisschreiben---avig-praxis.html)

Die hier vorliegenden Konstellation ist dort nicht abgebildet.  Nach meiner Einschätzung ist wohl mit leichtem bis mittlerem Verschulden zu rechnen. Es ist aber davon auszugehen, dass sich insb. auch die Frage stellt, wie gross die Chance gewesen wäre eine Stelle zu suchen bei adäquaten Suchbemühungen.

Das Verschulden bemisst sich aber nach den gesamten Umständen. Wichtig ist es also, gegenüber den ALV-Instanzen die Gründe und allfällige entlastende Umstände (z.B. familiäre Gründe für die Reise) geltend zu machen. 

Klar ist, dass die Einstelltage wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit erst in Frage kommen und wirksam werden, wenn die Voraussetzungen für einen Anspruch auf ALV-Taggelder im Prinzip bestehen. Also nachdem eine Anmeldung erfolgte, die Voraussetzungen (Beitragszeit, Vermittelbarkeit, Kontrollvorschriften  etc.) gegeben sind und die Wartetage erstanden sind. Danach bestehende Ansprüche werden wegen der Einstelltage nicht gewährt,

 

  • Hat die AUF eine Auswirkung auf die Einstelltage, bzw. können während den Einstelltagen Krankentaggelder gesprochen werden?

Während der Einstelltage wird der Anspruch auf ALE nicht gewährt, auch nicht, wenn sie begründet werden wegen einer bestehenden vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit. Der Anspruch auf insg. 30 bzw. 44 Krankentaggelder während der Rahmenfrist im Sinne von Art. 28 AVIG wird aber nicht geschmälert, wenn man während der Erstehung von Einstelltagen vorübergehend krank und deswegen arbeitsunfähig ist. 

  • Wie verhält es sich mit den Einstelltagen, wenn eine IV-Anmeldung gemacht wurde? - Muss die ALV auch während den Einstelltagen in Vorleistung gehen und Taggelder bezahlen?

Nein, bei bestehendem Taggeldanspruch, auch wenn er durch die Vorleistungspflicht begründet wird, werden dann diese Taggelder, die eigentlich geschuldet wären, sanktionsweise eingestellt.

  • Vorleistung ALV/IV: bei mind. 20%  AF geht die ALV mit dem vollen Taggeld in Vorleistung. Wie verhält es sich mit den Krankentaggeldern, wenn die Person erneut 100% AUF wird - gelten weiterhin die 30, bzw. 44 Krankentaggelder?

Ja, wenn die Voraussetzungen nach Art. 28 AVIG erfüllt sind. Dafür muss es sich um eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit handeln. Und der Rahmen darf noch nicht ausgeschöpft sein. Insgesamt ist der Anspruchin einer Rahmenfrist nur 44 Taggelder bei voller AUF beschränkt (Art. 28 Abs. 1 AVIG). Danach kann bei einer AUF von mindestens 50% ein weiterer Teil-Anspruch bestehen (vgl. Art. 28 Abs. 4 AVIG).

Ich hoffe, das dient Ihnen.

Prof. Peter Mösch Payot