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Wie wird die Dauerhaftigkeit des Fremdaufenthalts der Tochter beurteilt und welche Gemeinde ist für die Kostenübernahme der Fremdplatzierung zuständig?

Veröffentlicht:
29.09.2020
Kanton:
Nidwalden
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Im Rahmen der wirtschaftlichen Sozialhilfe wird Frau X. und ihre Tochter seit Mai 2020 durch uns (Gemeinde D) finanziell unterstützt. Es folgt eine Übersicht, über die zuständigen Sozialdienste in den vergangenen Monaten.

01.04.2017 – 31.03.2020
Soziale Dienste der Gemeinde A im Kanton AA.

01.04.2020 – 30.04.2020
Soziale Dienste der Gemeinde C im Kanton CC. Der WSH-Antrag wurde jedoch abgelehnt.

01.05.2020 – 30.09.2020
Soziale Dienste der Gemeinde D im Kanton DD.

Ab 01.10.2020              
Soziale Dienste der Gemeinde E im Kanton EE.

Frau X. ist per März 2020 vorübergehend in die Gemeinde C im Kanton CC umgezogen. Die Gemeinde A war somit bis 31.03.2020 (Übergangsmonat) für sie zuständig. Die Gemeinde C ist auf den Antrag auf WSH ab 01.04.2020 nicht eingetreten, da Frau X. sich nicht bei der Gemeinde C angemeldet hat und die Absicht des dauernden Verbleibes nicht ersichtlich sei. 

Frau X. ist danach per Mai 2020 in die Gemeinde D im Kanton DD zur ihrer Familie vorübergehend umgezogen. Von dort aus hat sie sich eine neue Wohnung gesucht. Per September 2020 hat sie eine neue Wohnung in der Gemeinde E im Kanton EE gefunden. Die Gemeinde D wird somit bis und mit 30.09.2020 für sie zuständig sein.

 

Frau X. lebte mit ihrer Tochter (Jg. 2016) zusammen in der Gemeinde A im Kanton AA. Die Beiständin von Frau X. hat per 28.02.2020 die Tochter notfallmässig - in Absprache mit der Mutter - in ein Mutter-Kind-Haus im Kanton B platziert. Obwohl die Platzierung freiwillig erfolgte, wurde sie zum Schutz des Kindes vorgenommen, da sich Frau X. zu diesem Zeitpunkt nicht adäquat um ihre Tochter kümmern konnte. Frau X. verfügt über das alleinige Sorgerecht. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht ist Frau X. nicht entzogen worden. Gemäss Beiständin sei man zum Zeitpunkt der Platzierung von einer vorübergehenden Platzierung ausgegangen. Mittlerweile ist die Tochter über 6 Monate am selben Ort fremdplatziert. Ziel sei es, sobald Frau X. eine eigene Wohnung hat, schrittweise Frau X. zu unterstützen, damit die Tochter wieder bei ihr wohnen kann. Das Mutter-Kind-Haus ist seit 01.07.2020 IVSE anerkannt.

Für uns stellt sich die Frage, wie die Dauerhaftigkeit des Fremdaufenthalts beurteilt wird und welche Gemeinde für die Fremdplatzierungskosten der Tochter finanziell aufkommen müsste. Ist die Gemeinde A für die Kosten der Fremdplatzierung zuständig, weil zum Zeitpunkt der Fremdplatzierung Frau X. in der Gemeinde A wohnhaft war? Oder geht die Zuständigkeit der Kostenübernahme mit der WSH immer auf die nächste Gemeinde über?

 

Besten Dank im Voraus und freundliche Grüsse

Frage beantwortet am

Anja Loosli Brendebach

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Chandrapala

Vielen Dank für Ihre Frage. Ich beantworte diese gerne wie folgt:

1. Nach Art. 7 Abs. 2 des Sozialhilfegesetzes des Kantons Nidwalden (SHG NW, 761.1) obliegt die Durchführung der Sozialhilfe derjenigen politischen Gemeinde, in der die hilfesuchende Person den Unterstützungswohnsitz gemäss den Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG) hat. Gemäss Art. 7 Abs. 1 ZUG teilt das minderjährige Kind, unabhängig von seinem Aufenthaltsort, den Unterstützungswohnsitz der Eltern. Haben die Eltern keinen gemeinsamen zivilrechtlichen Wohnsitz, so hat das minderjährige Kind einen eigenständigen Unterstützungswohnsitz am Wohnsitz des Elternteils, bei dem es überwiegend wohnt (Abs. 2). Einen eigenen Unterstützungswohnsitz hat es am letzten Unterstützungswohnsitz nach Abs. 1 und 2, wenn es dauernd nicht bei den Eltern oder einem Elternteil wohnt (Art. 7 Abs. 3 LIt. c ZUG).

Das Bundesgericht führt dazu in BGE 139 V 433 E. 3.2.2 aus, dass von Art. 7 Abs. 3 Lit. c ZUG die freiwillige und behördliche Fremdplatzierung erfasst werde ohne Entzug der elterlichen Gewalt. Als eigener Unterstützungswohnsitz des minderjährigen Kindes nach Art. 7 Abs. 3 Lit. c ZUG gelte der Ort, an dem das Kind unmittelbar vor der Fremdplatzierung gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil gelebt bzw. Wohnsitz gehabt habe. Der derart definierte Unterstützungswohnsitz bleibt künftig für die gesamte Dauer der Fremdplatzierung der gleiche, auch wenn die Eltern oder der sorgeberechtigte Elternteil den Wohnsitz wechseln. Als lediglich vorübergehend – und damit keinen eigenen Unterstützungswohnsitz des minderjährigen Kindes nach Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG begründend - gelten nach BGE 8C_701/2013 E. 3.2.2.2. Fremdaufenthalte in auswärtigen Institutionen, die entweder nur von kurzer Dauer sind oder bei denen ein enger Kontakt zwischen Kindern und Eltern aufrecht erhalten wird und die Absicht besteht, dass die Kinder nach einer bestimmten Zeit wieder zu den Eltern ziehen. Kümmern sich die Eltern hingegen nicht ernstlich um ihre Kinder bzw. nehmen sie ihre elterliche Sorge nicht wahr und erfolgt die Fremdplatzierung auf unbestimmte Zeit oder für mehr als 6 Monate, sprich dies in der Regel für die Dauerhaftigkeit des Fremdaufenthalts. Ob dabei die elterliche Sorge entzogen wird oder entsprechende Bestrebungen bestehen, ist nicht massgeblich. Genauso wenig kommt es au die tatsächliche Dauer des Fremdaufenthalts an. Entscheidend ist einzig, ob bei Beginn der Fremdplatzierung von Dauerhaftigkeit auszugehen oder nur eine vorübergehende Lösung beabsichtigt war. Andernfalls könnte immer erst nach einer bestimmten Dauer des Fremdaufenthalts darüber entschieden werden, welcher Kanton letztlich die Kosten zu tragen hat, was nicht dem Sinn des Gesetzes entsprechen kann, will dieses doch gerade für klare Verhältnisse bei der interkantonalen Zuständigkeitsausscheidung sorgen. Vorübergehend nicht bei den Eltern lebe ein Kind, beispielsweise im Rahmen von Ferien, Spital- oder Kuraufenthalten, Abklärungen der Invalidenversicherung, für die Dauer der Unpässlichkeit eines Elternteils oder bei auswärtiger Schul- oder Berufsausbildung. Zudem ist der Zweck der des Aufenthalts massgebend: Therapeutische und der Abklärung dienende Massnahmen sprechen gegen und Kindesschutzmassnahmen tendenziell für eine dauernde Fremdplatzierung. So sei eine vorsorgliche Fremdplatzierung, die später zu einer definitiven werde, eben nicht im Zeitpunkt der Anordnung der vorsorglichen Fremdplatzierung ein «dauerhaft nicht bei den Eltern Wohnen». Erst die definitive Anordnung mache die Fremdplatzierung zu einem «dauerhaft nicht bei den Eltern Wohnen».

Schlussfolgerung: Aufgrund des von Ihnen geschilderten Sachverhalts gehe ich davon aus, dass es sich vorliegend nicht um ein «dauerhaft nicht bei den Eltern Wohnen» nach Art. 7 Abs. 3 Lit. c ZUG handelt, da die Tochter notfallmässig platziert wurde, die Platzierung im Zeitpunkt der Platzierung als vorübergehend geplant war und offenbar das Ziel darin besteht, dass die Tochter wieder bei ihrer Mutter wohnen kann.

Damit hat die Tochter keinen eigenständigen Unterstützungswohnsitz nach Art. 7 Abs. 3 Lit. c ZUG sondern nach wie vor denselben Unterstützungswohnsitz der Mutter Art. 7 Abs. 2 ZUG. Damit hat sie ihren Unterstützungswohnsitz am 01.05.2020 ebenfalls in die Gemeinde D im Kanton DD verlegt und nun ab 01.10.2020 in die Gemeinde E im Kanton EE.

Sollte die Tochter doch nicht zu ihrer Mutter zurückziehen können und die Fremdplatzierung zu einer dauernden Massnahme werden, würde die Tochter in diesem Zeitpunkt allenfalls einen eigenen Unterstützungswohnsitz nach Art. 7 Abs. 3 Lit. c ZUG gründen.

2. Abschliessend möchte ich noch ausführen, was die Anerkennung als IVSE-Heim ab 01.07.2020 für Auswirkungen hat.

In IVSE-Fällen ist stets zu prüfen, ob der Unterstützungswohnsitz und der zivilrechtliche Wohnsitz einer Person in einer IVSE-anerkannten Institution identisch sind oder auseinanderfallen. Sind sie identisch, ist für alle Kosten derselbe Kanton zuständig, wobei die Sozialhilfe nur für die Finanzierung des Beitrags der Unterhaltspflichtigen (falls diese dazu finanziell nicht in der Lage sind) und der individuellen Nebenkosten zuständig ist. Die Kostenübernahmegarantie nach Art. 19 Abs. 1 IVSE ist dagegen an die dafür zuständige innerkantonale Behörde zu stellen.

Schlussfolgerung: Vorliegend teilt das unmündige Kind nach meiner oben ausgeführten Einschätzung den Unterstützungswohnsitz und damit auch den zivilrechtlichen Wohnsitz der Mutter. Die beiden Wohnsitze fallen deshalb nicht auseinander, weshalb auch ab 01.07.2020 die Sozialhilfe der Gemeinde D im Kanton DD bis 20.09.2020 für die Bezahlung der individuellen Nebenkosen und des Beitrags der Unterhaltspflichtigen zuständig ist.