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Wann ist eine Revision oder eine Wiedererwägung nach Art. 53 ATSG sinnvoll bzw. möglich?

Veröffentlicht:
27.05.2020
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht

Liebes Expertenteam 

Mein Klient hat im Oktober 19 einen IV-Entscheid erhalten. Es wurde keine Einsprache eingereicht. Der Klient hat rückwirkend eine ganze IV-Rente (100%) vom 01.01.19-31.05.19 und ab dem 01.06.2019 eine halbe Rente (51%) erhalten.

Ich habe nun nach Absprache mit dem Klienten die Akten gesichtet und festgestellt, dass die IV im Juni 19 von einer erneuten gesundheitlichen Verschlechterung Kenntnis hatte. Sie haben jedoch keine weiteren ärztliche Unterlagen angefordert bzw. keine weiteren Abklärungen diesbezüglich vorgenommen.

Der Klient hat der IV eine Kopie des AUF Zeugnisses mit der erneuten 100% AUF am 21.06.2019 zugestellt. Er war damals in der Eingliederungsberatung der IV, welche aufgrund der erneuten 100% AUF abgebrochen wurde. Gemäss Feststellungsblatt für den Beschluss der IV und dem Abschlussfazit des Fachexperten der IV steht: "Die …. Attestiert schon früher eine 100% AUF. Eine effektive Verschlechterung geben sie im AUF Zeugnis vom 04.06.2019 nicht an. Somit kann an der vom RAD beurteilten 50% AUF angepasst festgehalten werden."

Ich frage mich nun, ob die IV ihrer Abklärungspflicht nicht nachgekommen ist. Hätte die IV nicht einen aktuelle Arztberichte anfordern müssen, nachdem Sie von der erneuten 100% AUF Kenntnis hatte? Nach meinen Kenntnissen ist in einem Arbeitsunfähigkeitszeugnis nie eine detaillierte Begründung (ob nun aufgrund einer erneuten gesundheitlichen Verschlechterung oder ohne) pflicht.

Wäre in diesem Fall eine Revision oder eine Wiedererwägung nach Art. 53 ATSG sinnvoll bzw. möglich? Wie wäre das Vorgehen?

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialversicherungsrecht

 Sehr geehrte Frau Iten

 

1. Die Hürden für eine prozessuale Revision im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG sind ziemlich hoch.

Art. 53 Abs. 1 ATSG sieht vor, dass formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide, wie im vorliegenden Fall, nur dann in Revision gezogen werden müssen, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war.

Eine der Hürden ist, dass der damalige Entscheid vor dem Hintergrund der damaligen Sachlage geradezu unvertretbar war (vgl. Urteil 9C_816/2013 vom 20.02.2014 E. 1.1). Wichtig ist, dass die versicherte Person die «neuen» Tatsachen damals gar nicht beibringen konnte.  

Bei aus Sicht des Versicherten unterlassenen medizinischen Abklärungen wird dies nur sehr zurückhaltend bejaht (vgl. Urteil 8C_148/2018 vom 06.07.2018 E. 5.5.1).

Formal ist die relative Frist des Gesuches um Revision 90 Tagen, beginnend ab Entdeckung des Revisionsgrundes, die absolute Frist von 10 Jahren ab Eröffnung des Entscheides. Die relative 90-tägige Frist beginnt zu laufen, sobald die Partei sichere Kenntnis über die neue erhebliche Tatsache oder das entscheidende Beweismittel hat (Handbuch für die Anwaltspraxis, Recht der Sozialen Sicherheit, Flückiger, § 4 N 4.282).

 

2. Darüber hinaus kann die Versicherung gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist.

Das ist eine KANN-Bestimmung (also hat die Versicherung Ermessen). Und die Voraussetzung ist, dass die Entscheidung zweifellos unrichtig war (Urteil 8C_525/2017 vom 30.08.2018; BGE 140 V 77 E. 3.1)

 

3. Im Weiteren kann aber pro futuro eine Neubeurteilung erfolgen unter gewissen Vorassetzungen. Generell sind dabei entsprechend Art. 87 Abs. 3 IVV folgende Aspekte zu beachten, welche gemäss BGE 130 V 77 für Neuanmeldungen (wie hier) genau so gelten wie gemäss BGE 133 V 108 für Revisionen einer laufenden Rente.

Zeitlicher Ausgangspunkt für die Beurteilung einer anspruchserheblichen Änderung des Invaliditätsgrades ist dabei die letzte rechtskräftige Verfügung, welche auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Durchführung eines Einkommensvergleichs beruht (BGE 133 V 108).

Es ist nun möglichst darzustellen, dass die tatsächliche (im konkreten Fall insb. medizinische) Situation seit jenem Entscheid sich erheblich verändert hat. Also wesentlich von dem Zustand abweicht, welcher der damaligen Verfügung zu Grunde lag. Das kann möglichst mit ärztlichen oder noch besser fachärztlichen Zeugnissen/Berichten dargestellt werden. Notwendig ist eine eindeutige Darstellung der Veränderung.

Das Bundesgericht anerkennt keine entsprechenden Neubeurteilungen, wenn ein Arzt die selbe Situation einfach anders einschätzt (Urteil 9C_418/2010 vom 29.08.2011 E. 4.1). Eine Rentenrevision, bzw. eine Zusprache nach einem vormaligen abweichenden Entscheid setzt Tatsachenveränderungen im massgeblichen Vergleichszeitraum voraus. Das kann auch gegeben sein,  wenn sich ein Leiden bei gleicher Diagnose in seiner Intensität und in seinen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit verändert hat (vgl. Urteil 9C_771/2009 vom 10. September 2010 E. 2.3 mit Hinweisen).

4. Auf der Grundlagen der vorliegenden Informationen, würde ich in diesem Fall insb. Chancen sehen für eine Neuanmeldung bei einer gut ausgewiesenen Darstellung der Veränderung der medizinischen Situation im Vergleich zu dem, was für den damaligen IV-Entscheid an Tatsachen zu Grunde gelegt wurde. Generell ist aber in so einem Fall zu raten, die Neuanmeldung und die dabei dargebrachten Beweismittel und insb. danach ein allfälliger Einwand auf der Basis der Durchsicht der genauen Fallakten mit einem spezialisierten Rechtsdienst zu besprechen. Da kann auch das Thema der Wiedererwägung nochmals eingebracht werden.

Vgl.:

www.procap.ch/d/dl/rechtsdienst/index.html

www.integrationhandicap.ch/index/menuid/12

 

Beste Grüsse

Peter Mösch Payot