Guten Tag
In folgendem Fall stellen sich uns aktuell einige Fragen:
Herr A. ist alleinstehend und 30 Jahre alt. Er zog vor einigen Monaten in unseren Zuständigkeitsbereich und wurde deshalb vom vorherigen Sozialdienst übertragen. Die Miete der neuen Wohnung ist zu CHF 550.- überhöht. Der Klient wurde vom vorherigen Sozialdienst mehrmals darauf hingewiesen, dass die Miete viel zu hoch sei. Er unterschrieb dann eine Erklärung, die besagte, dass er wisse, dass die Miete überhöht sei und er die Mehrmiete aus dem Grundbedarf bezahlen muss. Aus diesem Grund wurde die Mehrmiete von unserem Sozialdienst gleich zu Beginn der Unterstützung im Budget abgezogen. D.h. der Klient hat nach Abzug der Mehrmiete noch einen Grundbedarf von CHF 427.- zur Verfügung. In der Beratung wurde versucht daraufhin zu wirken, dass der Klient sich eine günstigere Wohnung sucht, bisher ohne Erfolg.
Es ist unklar, wie Herr A. seinen Lebensunterhalt finanziert. Er gibt an keine zusätzlichen Einnahmen zu haben. Die eingeforderten Kontoauszüge weisen auch keine Einnahmen aus. Jedoch ist nicht nachvollziehbar, wie Herr A. von CHF 427.- seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, zumal Herr A. nach eigenen Angaben noch für einen Hund sorgt und Cannabis konsumiert. Es zeigt sich jedoch auch, dass (unter anderem) aufgrund der prekären finanziellen Lage keine Integrationsbemühungen und keine Arbeit an Zielen möglich zu sein scheint.
Für uns stellt sich die Frage welche Möglichkeiten der Sozialdienst hat Herrn A. zu einem Wohnungswechsel zu verpflichten. Ist es möglich Herr A. anzuweisen in eine günstigere Wohnung zu ziehen? Was wäre die Konsequenz, wenn er dies nicht tun würde? Wäre eine Kürzung des Grundbedarfs überhaupt noch möglich?
Kann im beschriebenen Fall von einer zweckwidrigen Verwendung des Grundbedarfs gesprochen werden? Wie müsste da vorgegangen werden?
Müsste der Vermutung, dass Herr A. weitere Einnahmequellen hat, nachgegangen werden (Abklärungsplatz, Sozialinspektion)?
Herr A. wurde vom vorherigen Sozialdienst bereits einmal zu einem Abklärungsplatz zugewiesen und die Sozialhilfeleistung wurde eingestellt. Zudem wurde Herr A. vom vorherigen Sozialdienst auch schon mehrmals gekürzt, weswegen von uns bisher auf diese Massnahmen verzichtet wurde.
Ich bedanke mich für Ihre Unterstützung und Ihre Hinweise.
Freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Melanie Studer
Expert*in Sozialhilferecht
Guten Tag
Gerne beantworte ich Ihre facettenreiche Frage wie folgt:
Gem. Art. 8 der SHV/BE richtet sich die Ausrichtung und Bemessung der wirtschaftlichen Hilfe im Kanton Bern nach den SKOS-RL in der Ausgabe vom 1. Januar 2021, sofern die SHV nichts Abweichendes vorsieht und gem. Art. 31a SHG/BE legt die Sozialbehörde die Obergrenzen für Wohnkosten fest. Nach Ihrer Schilderung liegt der Mietzins bei Unterstützungsbeginn Ihres Klienten über diesen Richtlinien. Ansonsten sind dem SHG/BE und der SHV/BE keine weiteren relevanten Bestimmungen zu entnehmen.
Zur Verrechnung der überhöhten Miete mit dem Grundbedarf
Zunächst ist grundsätzlich festzuhalten, dass das korrekte Vorgehen bei einem überhöhten Mietzins gem. den SKOS-RL (C.4.1.) und auch dem entsprechenden Stichwort der BKSE («Mietzins») nicht das «Verrechnen» der zu hohen Miete mit dem GBL ist, sondern ist der volle GBL auszurichten, jedoch nur der Anteil der Miete, der den Mietzinsrichtlinien entspricht.
Das hat zwar zur Folge, dass der Klient einen Teil (in Ihrem Beispiel einen beträchtlichen Teil) des GBL für die Deckung der Miete einsetzen muss, aber dennoch ist es ein wesentlicher Unterschied zur Ausrichtung eines gekürzten GBL. Denn der GBL ist grundsätzlich nicht für Wohnkosten vorgesehen – diese sind in einem separaten Budget-Posten auszuweisen und durch die Sozialhilfe (im Rahmen der Mietzinsrichtlinie) separat zu tragen. Es steht dann dem Klienten grundsätzlich im Rahmen seiner Dispositionsfreiheit frei, einen Teil des GBL für die überhöhte Miete einzusetzen, resp. bleibt ihm nichts anderes übrig, falls er in der Wohnung bleiben will. Dieses Vorgehen ist selbst dann zu empfehlen, wenn der Klient sein Einverständnis gegeben hat. Andernfalls der Sozialhilfe unterstellt werden könnte, sie würde die überteuerte Wohnung noch unterstützen, indem sie dafür sorgt, dass diese bezahlt wird.
Zur sofortigen Anwendung der Mietzinsrichtlinie
Sie haben nun den Klienten wie einen «laufenden» Fall behandelt und von Beginn weg nur den Zins gem. RL übernommen und ihm somit die Suche nach einer günstigeren Wohnung nicht auferlegt, wie es i.d.R. bei einem neuen Fall zu machen wäre. Eine Kürzung der Miete auf die Höhe der Mietzins-RL ist dann nur möglich, wenn ein Wohnungswechsel möglich und zumutbar gewesen wäre (vgl. Verwaltungsgericht Aargau, Urteil WBE.2007.00327 v. 13.02.2008, E. 2.3; vgl. auch BKSE Stichwort «Mietzins» und SKOS-RL C.4.1. inkl. Erläuterung b); bemüht sich der Klient jedoch nachweislich, aber erfolglos, ist die überhöhte Miete zu übernehmen. Das SHG/BE, die SHV/BE, SKOS-RL und BKSE äussern sich nicht über diese Handhabung bei einem Gemeindewechsel, wenn der Klient schon darauf hingewiesen wurde, dass die ins Auge gefasste Wohnung über den RL liegt.
In dieser Konstellation darf ausnahmsweise sofort (ab Unterstützungsbeginn) der Mietgrenzwert nach den RL angewendet werden, wenn von einem Verstoss gegen Treu und Glauben ausgegangen werden muss. Dies ist dann der Fall, wenn sich der Klient nicht um eine günstigere Wohnung bemüht hat und ohne Not und in Kenntnis der Tatsache, dass die Wohnung zu teuer ist, in diese zu teure Wohnung zog (vgl. Schnyder Ruth, Wohnen und Sozialhilfe – eine rechtliche Auslegordnung, Jusletter vom 25. März 2019, Rz 79 mit Hinweis auf Urteil BGer 8C 216/2018 v. 3.10.2018, E. 3). Jedoch ist auch dann eine Herabsetzung der Miete nicht zulässig, wenn der Klient nicht in der Lage gewesen ist, sich korrekt zu verhalten und keine Unterstützung der ehemaligen Gemeinde erhalten hat. Diese Punkte sind in Ihrem Fall noch nachträglich zu klären: hat er sich nicht bemüht und ist ohne Not in die zu teure Wohnung gezogen? War es ihm möglich, sich korrekt zu verhalten und wurde er dabei unterstützt?
Jedenfalls darf dieses Vorgehen nicht dazu führen, dass der Wohnungswechsel nicht thematisiert wird und der Klient bei der Wohnungssuche nötigenfalls auch aktiv unterstützt wird. Die Unterstützung bei der Wohnungssuche ist eine Pflicht des Sozialdienstes (siehe auch Urteil d. Verwaltungsgerichts des Kantons Bern VGE 100.2018.292U v. 19.02.2019, E.4.1); dies scheint gerade auch im Fall Ihres Klienten, der gem. Ihrer Schilderung nur wenig Handlungsspielraum zur Arbeit an Zielen hat, notwendig.
Wenn sich bei erneuter Prüfung die sofortige Anwendung der Mietzinsrichtlinie als rechtlich korrekt erweist, dann stellen sich noch weitere Fragen, die Sie angesprochen haben. Dazu nachstehend.
Bei sofortiger Anwendung Mietzinsrichtlinie: Weitergehende Kürzung oder Auflage?
Wenn wie oben beschrieben vorgegangen wird (Ausrichtung voller GBL; Übernahme lediglich der Mietzinsrichtlinien-konformen Miete) fällt eine weitergehende Kürzung für dieselbe Pflichtverletzung (Wohnen in einer überteuerten Wohnung) grundsätzlich ausser Betracht, ansonsten kommt es zu einer Doppelbestrafung (siehe dazu Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, 100.2018.292U vom 19.02.2019, E. 5). Umstritten ist zudem, ob eine weitergehende Kürzung hier auch bei anderen Pflichtverletzungen noch möglich wäre, da mit der Ausrichtung der gekürzten Miete und dem Wissen, dass ein beträchtlicher Teil des GBL für die Miete eingesetzt werden muss, ein Eingriff ins absolute Existenzminimum verbunden wäre (siehe zur Diskussion Schnyder, a.a.O., Rz. 77). Auf der anderen Seite steht das Argument, dass bei einem Ausschluss weitergehender Sanktionen, andere Pflichtverletzungen ungeahndet bleiben. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern geht grundsätzlich davon aus, dass eine Sanktion mit einer herabgesetzten Miete kombiniert werden kann (Urteil 100.2018.292U vom 19.02.2019, E. 5.3.1.); in diesem Fall war jedoch die Miete deutlich weniger über den Richtlinien als in Ihrem Fall.
Weiter ist zu klären, ob der Klient weiter verpflichtet werden kann, eine günstigere Wohnung zu suchen bzw. in eine günstigere Wohnung zu ziehen. Dies kann mit unterschiedlichen Begründungen bejaht werden: Einerseits kann dies unter dem Blickwinkel der Zweckentfremdung geprüft werden. Insbesondere wenn wie bei Ihrem Fall ein erheblicher Teil des GBL für die Miete eingesetzt werden muss, kann dies als Zweckentfremdung angesehen werden (vgl. Schnyder a.a.O., RZ 79 sowie Urteil d. Verwaltungsgerichts St. Gallen B.2015/134 v. 27.09.2016).
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat jedoch in einem Urteil (100.2018.292U vom 19.02.2019, E. 5.3.1.) leicht anders argumentiert: es besteht für den Sozialdienst dann ein Interesse mittels zusätzlichen Auflagen (und Sanktionen) einen Wohnungswechsel herbeizuführen, wenn besonders bei stark überhöhter Miete ein Risiko von Folgekosten durch eine Verwahrlosung besteht, wenn die unterstützte Person nicht (mehr) in der Lage sei, ihre Mittel verantwortungsvoll einzuteilen und die wichtigsten Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Körperpflege sowie andere finanzielle Verpflichtungen vernachlässige. Ich würde Ihnen also empfehlen, das unter diesem Blickwinkel zu prüfen: kann er seine Grundbedürfnisse noch decken oder droht eine Verwahrlosung? Sie erwähnen ja zumindest, er scheine unter der finanziell angespannten Situation zu leiden. Gehen Sie also dem noch näher nach. Bei einer zusätzlichen Auflage nach Wohnungssuche wäre der Sozialdienst ebenfalls verpflichtet, dem Klienten bei der Wohnungssuche zu helfen, falls nötig.
Zweifel an der Bedürftigkeit und Abklärung durch Sozialinspektion
Auch darüber hinaus sind weitere Bestrebungen, um mehr über die finanzielle Situation des Klienten herauszufinden jedenfalls ins Auge zu fassen. Eine Sozialinspektion kommt gem. Art. 50a SHG/BE nur als Möglichkeit in Betracht, wenn ein begründeter Verdacht auf unrechtmässigen Bezug von Sozialhilfe besteht und der Sozialdienst die eigenen Möglichkeiten (Gespräche, einfordern von Unterlagen, etc.) zur Sachverhaltsabklärung ausgeschöpft hat. Jedenfalls ist der Klient im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht verpflichtet darzulegen, wie er mit einem derart tiefen Betrag zu Recht kommt und hat dies soweit möglich zu belegen. Letztlich geht es darum festzustellen, ob der Klient über nicht deklarierte Dritteinnahmen verfügen muss, so dass Zweifel an der Bedürftigkeit angebracht sind. Zweifel an der Bedürftigkeit nach Art. 23 Abs. 2 SHG/BE sind aber nicht leichthin anzunehmen, gerade vorliegend, wo es Ihren Schilderungen zufolge Hinweise gibt, dass der Klient unter der angespannten Finanzlage leidet, was eher gegen nicht deklarierte Dritteinnahmen spricht. Sollten Sie Ihre Möglichkeiten ausgeschöpft haben und bestehen nach wie vor Zweifel an der Bedürftigkeit bzw. dem Umfang von Dritteinnahmen, ist die Sozialinspektion in Ihrem Fall angezeigt.
Teilnahme Abklärungsplatz
Schliesslich werfen Sie auch die Frage auf, ob ein Abklärungsplatz angebracht wäre. Sie gehen davon aus, dass u.a. aufgrund der angespannten finanziellen Situation keine Integrationsbemühungen möglich sind. Aus diesem Grund wäre auch die Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der Auflage zur Teilnahme an einem Abklärungsplatz besonders sorgfältig abzuklären – insbesondere in Anbetracht der Folgen einer Nichtteilnahme. Es wäre m.E. prioritär abzuklären, ob andere und welche Integrationsbemühungen vom Klienten verlangt werden können, was für ihn gesundheitlich und persönlich zumutbar ist, bzw. inwiefern ihm im Rahmen der persönlichen Hilfe, zu mehr Selbständigkeit zu verhelfen wäre. Ebenso sind unter diesen noch nicht geklärten Aspekten (v.a. gesundheitliche Situation) andere Abklärungen über seine finanzielle Situation einem Abklärungsplatz vorzuziehen.
Ich hoffe Ihnen mit diesen Hinweisen weiterzuhelfen.
Beste Grüsse
Melanie Studer