Guten Tag
Welche Kindesschutzmassnahmen sind vorgeburtlich möglich? Ist es insbesondere möglich, den Eltern bereits vor der Geburt das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu entziehen und die Unterbringung in einer Pflegefamilie zu verfügen?
Vielen Dank.
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Grüezi
Der pränatale Kindesschutz ist mit dogmatischen und praktischen Schwierigkeiten verbunden (BK-Affolter/Vogel, Vorbem. Art. 307-327c ZGB N 116; Büchler/Clausen, Pränataler Kindesschutz, in: FamPra.ch 2018, S. 652-676; OFK/ZGB-Maranta, Art. 307 N 6). So ist es in der Lehre umstritten, ob sich aus Art. 31 Abs. 2 ZGB, der das Kind unter Vorbehalt der Lebendgeburt in beschränktem Mass rechtsfähig erklärt, der Schutz des ungeborenen Lebens ableiten lässt (Büchler/Clausen, 658). Umstritten ist auch, ob es eine vorgeburtliche Elternsorge oder eine vorgeburtliche elterliche Fürsorgepflicht gibt (Büchler/Clausen, 672 ff.; BSK ZGB I-Schwenzer/Cottier, Art. 296 N 12).
In der Praxis werden im Kontext pränataler Gefährdungslagen im beschränkten Mass Kindesschutzmassnahmen als zulässig anerkannt, wenn nach den Umständen die ernste Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls vorauszusehen ist. So ist die Vertretung in erbrechtlichen Ansprüchen (Art. 544 Abs. 1bis ZGB) und die Klärung der Vaterschaft (Art. 308 Abs. 2 ZGB) unproblematisch (BK-Affolter/Vogel, Art. 296 N 54). Nach Art. 311 Abs. 3 ZGB ist ein gesetzlicher pränataler Kindesschutz vorgesehen, der die Entziehung der elterlichen Sorge bezüglich den später geborenen Kindern antizipiert, wenn nicht ausdrücklich das Gegenteil angeordnet wird. Nach Art. 327a ZGB stehen Kinder minderjähriger oder unter umfassender Beistandschaft stehender Eltern unter Vormundschaft. In diesen Fällen kann vorgeburtlich die Vormundschaft errichtet werden (BK-Affolter/Vogel, Art. 296 N 54).
Geht es um die Wahrung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes, ist eine besondere Interessenabwägung zwischen dem Schutz des Kindes und den Persönlichkeits- und Grundrechten der Mutter erforderlich (BK-Affolter/Vogel, Vorbem. Art. 307-327c ZGB N 116 und Art. 307 ZGB N 9; Patrik Fassbind, Systematik der elterlichen Sorge in der Schweiz, Diss Basel 2006, S. 93 f.). In der Praxis kommen Massnahmen nach Art. 307 Abs. 3 ZGB oder Beistandschaften nach 308 ZGB in Frage, weitergehende Massnahmen werden abgelehnt (Fassbind, 93 f.). Die Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts gegenüber der Mutter oder gegenüber den Eltern kann keine pränatale Wirkung entfalten, d.h. sie würde frühestens mit der Geburt des Kindes wirksam (Fassbind, S.93). Sollte die Mutter durch ihr Verhalten das ungeborene Leben gefährden, wären andere Massnahmen, wie Beratungs- und Unterstützungsangebote oder Erwachsenenschutzmassnahmen notwendig. Die Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung wäre wohl nur ausnahmsweise zulässig, etwa wenn die Mutter psychisch erkrankt oder suchtmittelabhängig ist, und sie selbst einer Behandlung oder Betreuung bedarf; der Schutz des ungeborenen Kindes kann berücksichtigt werden, er ist aber nicht für sich alleine ausschlaggebend (Büchler/Clausen, 670 ff.).
In Fällen, wo sich bereits vorgeburtlich eine Kindeswohlgefährdung abzeichnet, die eine Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts erfordert, kann die Behörde die Massnahme auf den Zeitpunkt der Geburt vorbereiten oder bereits anordnen; beide Varianten kommen in der Praxis vor. Auch eine Familienplatzierung kann rechtzeitig geplant oder vorgeburtlich angeordnet werden. Allerdings erfolgen diese Anordnungen unter der Bedingung, dass das Kind geboren wird und dass die Pflegefamilie für das konkret zu platzierende Kind geeignet ist. Die Eignung der Pflegefamilie für das Kind, das sogenannte «Matching» oder die «Passgenauigkeit» (vgl. KOKES Praxisanleitung Kindeschutzrecht, N 17.7 ff.), ist im Anschluss an die Geburt zu prüfen. Es könnten sich Umstände ergeben haben, die einen besonderen behinderungs- oder krankheitsbedingten Betreuungsbedarf erfordern und besondere Anforderungen an die Pflegeeltern stellen würden.
Die Pflegeeltern müssen, nach Art. 8 PAVO, die Bewilligung vor der Aufnahme des Kindes einholen und die Bewilligung wird ihnen nur für ein bestimmtes Kind erteilt. Mit der bewilligungserteilenden Behörde ist deshalb das Vorgehen im pränatalen Kindesschutz zu koordinieren.
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich
Luzern, 24.10.2023
Karin Anderer