Sehr geehrter Herr Mösch
Wir haben eine Frage welche die Invalidenversicherung betrifft:
Ein junger Mann, welcher im März 2021 volljährig geworden ist, hat den grössten Teil seiner Jugendzeit in spezialisierten Einrichtungen (zuletzt geschlossene Abteilung der UPK Basel) verbracht. Seine psychische Gesundheit ist stark beeinträchtigt und gemäss Gutachten wurde bei ihm u.a. die Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen und histrionischen Zügen (ICD-10 F61.0) gestellt. Im Zuge seiner sehr schlechten psychischen Verfassung war es ihm nicht möglich, einen ordentlichen Schulabschluss zu erreichen, obwohl seine kognitiven Fähigkeiten dies voraussichtlich zulassen würden. Vor drei Monaten konnte er in ein offeneres Betreuungssetting wechseln und wird seither von einer Fachperson beschult (Einzelbeschulung; CHF 5000.-/Monat), was bisher relativ gut verlief und auch der psychische Zustand hat sich deutlich stabilisiert. Der Klient verfolgt das Ziel, im beschriebenen Setting im Sommer 2022 den ordentlichen Schulabschluss nachzuholen. Die Beschulungskosten wurden bis zur Volljährigkeit im Rahmen des Kindesschutzes über die KESB finanziert. Aktuell ist die Finanzierung des Schulsettings ungeklärt.
Bereits seit längerer Zeit wurde eine IV-Anmeldung getätigt. Mit Schreiben vom 03.02.2021 teilt die IV des Kantons Bern mit, dass der Anspruch auf eine erstmalige Ausbildung geprüft wurde und die Voraussetzungen erfüllt seien. Ebenfalls ist dem Schreiben zu entnehmen, dass diese Mitteilung das Verfahren nicht abschliesse und allfällige weitere Leistungsansprüche noch geprüft werden.
Nun erhielten wir jedoch die Rückmeldung, dass die IV zum aktuellen Zeitpunkt doch noch nicht einsteigt. Als Grund schreibt der zuständige IV-Berater in seinem Mail vom 05.03.2021: «Wie vorhin telefonisch besprochen sende ich Ihnen die Begründung wieso die IV zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht einsteigt. Unter erstmaliger beruflicher Ausbildung ist eine nach abgeschlossener schulischer Ausbildung und getroffener Berufswahl durchgeführte, gezielte und planmässige Förderung in beruflicher Hinsicht zu verstehen, mit Aussicht auf ausreichende wirtschaftliche Verwertbarkeit. Die schulischen Vorkehrungen müssen abgeschlossen sein. Als abgeschlossen gilt die schulische Ausbildung, wenn die schulischen und persönlichen Grundvoraussetzungen für die Durchführung einer erstmaligen beruflichen Ausbildung eindeutig erfüllt sind. Dies ist bei Herrn XY nicht der Fall. Aus diesem Grund schliessen wir das Dossier. Eine Wiederanmeldung für Eingliederungsmassnahme kann erfolgen wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind.»
Nun stellt sich für uns als Sozialdienst die Frage nach dem weiteren Vorgehen. Welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen, nachdem die IV zuerst die Voraussetzungen für die erstmalige Ausbildung als erfüllt erachtet und diese nun kurze Zeit später widerruft? Ist es überhaupt zulässig, dass die IV das Dossier schliesst bis ggf. ein Schulabschluss nachgeholt werden könnte oder müsste die IV aufgrund der vorhandenen Diagnosen und der psychischen Verfassung des jungen Mannes nicht parallel eine Rentenprüfung durchführen, da ja überhaupt nicht klar ist, ob der junge Mann die schulische Ausbildung erfolgreich nachholen könnte? Wäre es aufgrund der Sachlage nicht Aufgabe der IV zu prüfen, ob dieser junge Mann überhaupt die Fähigkeiten besitzt, um einen Schulabschluss und damit einen schulischen Abschluss zu erreichen? Und wer müsste nun für all diese Kosten aufkommen, um einen allfälligen schulischen Abschluss nachzuholen (die individuellen Beschulungskosten würden sich auf CHF 5000.-/Monat belaufen)? Und auf welche rechtlichen Grundlagen können wir uns stützen resp. können wir im Gegenzug von der IV einfordern?
Wir danken herzlich für Ihre Rückmeldung.
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Liebe Frau Binggeli
Zunächst: Bei diesem ziemlich komplexen Fall lohnt es sich meines Erachtens auf jeden Fall, für die weiteren Schritte die Unterstützung einer spezialisierten Rechtsberatung in Anspruch zu nehmen (z.B. Procap, Inclusion Handicap etc.). Eine präzise möglichst gute Beratung hängt nämlich auch von einer genauen Durchsicht des Dossiers ab, insb. auch bezüglich der medizinischen Situation im Kindes- und Jugendalter und allfälliger Behandlungen, Diagnosestellungen etc. in dieser Zeit. Sowie der damaligen sonderschulischen Unterstützung.
a) Mit Blick auf das laufende IV-Verfahren wäre es auf der Basis der bestehenden Informationen sicherlich sinnvoll, in diesem Fall im Namen des Klienten (mit Vollmacht) zu beantragen, dass weitere Leistungen geprüft werden sollen und seitens der IV sofort Akteneinsicht zu verlangen. Weiter sollte verlangt werden, dass die IV, will sie tatsächlich das Dossier schliessen, wie offenbar per Email mitgeteilt, eine entsprechende Verfügung erlässt.
Ev. könnte es sinnvoll sein, diese Aspekte vorab mündlich mit der IV-Beraterin so zu besprechen.
b) Auf der Basis der konkreten schulischen Karriere und Lebensgeschichte wäre hier mit Blick auf die besondere Einzelbeschulung weiter zu prüfen, ob diese Kosten im Rahmen der kantonalen Sonderbeschulung ganz oder teilweies zu übernehmen sind. Grundlage dafür sind die kantonalen Schulgesetze und die Grundlagen für die Leistungen für Sonderbeschulung im kant. Recht. Hier wäre eine Abklärung beim GSI sinnvoll. Siehe https://www.gef.be.ch/gef/de/index/soziales/soziales/bildung_erziehung/unterricht_in_sonderschulen.html
Da der Betroffene unter 20 ist sind Leistungen nicht von Vornherein ausgeschlossen.
Ich hoffe, diese ersten Angaben helfen Ihnen. Wie oben dargestellt. Die Prüfung, Geltendmachung und Durchsetzung von Ansprüchen könnte hier so komplex sein, dass ich im Zweifel die Inanspruchnahme von Beratung einer spezialisierten Rechtsberatungs-Stelle empfehle.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot