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Verwandtenunterstützung

Veröffentlicht:
06.03.2019
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Liebes Expertenteam
ich gelange mit folgender Anfrage an Sie:
Wir betreuen seit 2013 einen Klienten, wo Verwandtenunterstützung ausgerichtet wird. Die Adoptivmutter hat folgende Vermögenswerte:

  • Steuerbares Einkommen Fr. 129‘300
  • Steuerbares Vermögen: Fr. 4098
  • Grundeigentum Amtlicher Wert: 1‘615‘300
    Im 2013 wurde eine Vereinbarung aufgesetzt. Darin steht, dass die Adoptivmutter das finanzielle Existenzminimum an uns zurückbezahlt, und wir ihr alle 3 Monate Rechnung stellen.
    Die Adoptivmutter ist mit der Regelung nicht einverstanden nun jahrelang bezahlen zu müssen. Sie hat keinen Kontakt zum Adoptivsohn. Es gab immer wieder Phasen, wo sie nicht bezahlte und juristische Beratung in Anspruch nahm. Sie ist zu keinem Gespräch mit dem zuständigen Sozialarbeiter bereit.
    Die Sozialberatung mit dem Klient geht auch nicht gut. Es werden keine Fortschritte erzielt punkto Wohnen, Arbeit, persönliche Hygiene, Drogenkonsum. Eine IV-Ablehnung liegt vor. Eine Neuanmeldung macht momentan keinen Sinn.
    Der Klient bezieht im klassischen Sinne keine Sozialhilfe. Sondern wir fordern die Verwandtenunterstützung ein und leiten sie weiter. Hat der Sozialdienst in diesem Rahmen überhaupt Sanktionsmöglichkeiten?
    Erneut hat die Adoptivmutter an den Sozialdienst geschrieben die Verwandtenunterstützung aufzuheben mit Verweis auf Art. 329 Abs. 2 ZGB. Unter welchen Voraussetzungen wäre dies möglich? Im Gesetzestext steht „Verletzung familienrechtlicher Pflichten“. Wäre dies aufgrund des Lebenswandels des Klienten zutreffend?
    Unter welchen Voraussetzungen müsste der Sozialdienst an der vollen Verwandtenunterstützungspflicht festhalten? Zur Durchsetzung der Ansprüche müsste der Klageweg bestritten werden.
    Besten Dank für Ihre Bemühungen.
    Mit freundlichen Grüssen
    Sabine Bauer

Frage beantwortet am

Anja Loosli

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Bauer
Vielen Dank für Ihre Frage, die ich gerne wie folgt beantworte:
Ich verstehe den Sachverhalt so, dass es eine Vereinbarung zwischen der Sozialhilfe und der (Adoptiv)-Mutter des Klienten gibt, in der sich die Mutter unterschriftlich verpflichtet, monatlich einen bestimmten Betrag zu bezahlen. Eine solche Vereinbarung stellt eine schriftliche Schuldanerkennung der Schuldnerin dar und kann deshalb als provisorischer Rechtsöffnungstitel nach Art. 82 des Gesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) genutzt werden (BGE 106 III 98 E. 3). Dies bedeutet konkret, dass die Sozialhilfe - habe ich die Vereinbarung richtig verstanden - die Mutter für die bis zum heutigen Datum ausstehenden Zahlungen betreiben kann. Erhebt die Mutter Rechtsvorschlag, so kann die Sozialhilfe unter Vorlage der Vereinbarung die provisorische Rechtsöffnung nach Art. 82 SchKG verlangen und muss keine Klage bei Zivilgericht einreichen. Es können vielmehr bereits Sicherungsmassnahmen verlangt werden (Art. 83 Abs. 1 SchKG). Die Schuldnerin - also die Mutter - kann in diesem Zeitpunkt dann aber eine Aberkennungsklage einreichen (Art. 83 Abs. 2 SchKG). In diesem Verfahren würde dann entschieden werden müssen, ob die Forderung besteht und wenn ja in welchem Umfang.
Sie bzw. die Sozialhilfe könnte sich nach meiner Meinung deshalb aktuell darauf beschränken, die Mutter zu betreiben, wenn sie nicht bezahlt.
Nun werfen Sie aber zu Recht die Frage auf, ob die Geltendmachung von Verwandtenunterstützung im vorliegenden Fall tatsächlich nach Art. 329 Abs. 2 des Zivilgesetzbuches (ZGB) billig ist. Diese Frage gilt es sich tatsächlich zu stellen, denn das Einverlangen von Verwandtenunterstützung kann immer auch das Verhältnis zwischen den Eltern und den Kindern trüben, weshalb hier Vorsicht geboten ist (siehe auch Kapitel F.4 der SKOS-Richtlinien). Kommen Sie bzw. die Sozialhilfe zum Schluss, dass es bei genauerem Hinsehen nicht billig ist, von der Mutter eine Verwandtenunterstützung zu verlangen, wäre darauf zukünftig zu verzichten und die Mutter nicht zu betreiben, sondern ihr mitzuteilen, dass verzichtet wird. Ob ein Geltendmachung unbillig ist, ist in jedem Fall aufgrund der besonderen Umstände zu entscheiden. Unbillig ist der Beizug etwa dann, wenn der Berechtigte dem Pflichtigen nach dem Leben trachtet bzw. getrachtet hat oder die Pflichtigen bestohlen hat (Thomas Geiser/Christiana Fountoulakis, Zivilgesetzbuch I, Basel 2018, S. 2015, RN 19) oder wenn jegliche persönliche Beziehungen fehlen (BGE vom 21.02.2001, 5C.298/2001). Nicht unbillig ist dagegen die Geltendmachung, wenn das Kind aufgrund der Trunksucht des Vaters eine sehr schwere Kindheit gehabt hat und auf Abwege geraten ist (BGE 106 II 287 E. 3c).
Es macht meiner Ansicht nach deshalb Sinn, wenn Sie allenfalls vor der Einleitung einer Betreibung nochmals mit der Mutter Kontakt aufnehmen und sich von ihr schildern (und allenfalls mit Unterlagen belegen) lassen, weshalb ihrer Ansicht nach die Geltendmachung des Anspruchs unbillig ist. Kommen Sie zum Schluss, dass die Geltendmachung tatsächlich klar unbillig ist, macht es Sinn, keine Betreibung einzuleiten. Sind Sie unsicher, macht meiner Ansicht nach eine Betreibung dennoch Sinn. Dann kann im allfälligen Aberkennungsklageverfahren der Anspruch geklärt werden.
Schliesslich werfen Sie die Frage auf, ob Ihr Klient überhaupt bedürftig nach den Sozialhilfegesetz ist und Sie ihn allenfalls sanktionieren dürfen, wenn doch die Mutter grundsätzlich den ganzen Unterstützungsbetrag mittels Verwandtenunterstützung finanziert. Diese Frage ist sehr berechtigt.
Nach Art. 23 Abs. 1 des Sozialhilfegesetzes des Kantons Bern (SHG BE) hat Anspruch auf Unterstützungsleistungen der Sozialhilfe, wer bedürftig ist. Als bedürftig gilt, wer für seinen Lebensunterhalt nicht hinreichend oder rechtzeitig aus eigenen Mitteln aufkommen kann.
Ihr Klient kann aufgrund der Verwandtenunterstützung grundsätzlich für seinen Lebensunterhalt aufkommen, weshalb es auf den ersten Blick den Anschein macht, als sei er nicht bedürftig. Nur besteht die Vereinbarung auf Bezahlung von Verwandtenunterstützung nicht zwischen ihm und der Mutter, wenn ich den Sachverhalt richtig verstanden habe, sondern zwischen der Sozialhilfe und der Mutter. Der Klient hat deshalb noch keinen eigenen Rechtstitel gegenüber seiner Mutter. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Mutter die Zahlungen einstellen wird, so bald die Sozialhilfe den Klienten aufgrund der Verwandtenunterstützung ablöst. Daraus folgt nach meiner Meinung, dass der Klient seinen Lebensunterhalt eben nicht selbst aus eigenen Mitteln zu finanzieren mag und bedürftig ist. Man kann aber auch die Ansicht vertreten, dass der Klient nicht bedürftig ist und ihn dann ablösen. Wenn die Mutter daraufhin nicht mehr bezahlt, wird er sich wohl wieder melden. Dann ist prüfenswert zu überlegen, ob er selbst seinen (in die Zukunft gerichteten ) Anspruch gegenüber seiner Mutter auf dem Klageweg geltend machen soll, damit er ebenfalls einen durchsetzbaren Rechtstitel hat (dies macht - wie oben ausgeführt - aber nur dann Sinn, wenn die Geltendmachung billig erscheint). Wenn man den Klienten als bedürftig definiert, dann hat er auch Pflichten gegenüber der Sozialhilfe und ihm können Auflagen und Weisungen mit entsprechenden Sanktionen erteilt werden (Art. 28 SHG BE), wenn er in der Lage ist, diese zu erfüllen.
Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen zu können.
Freundliche Grüsse
Anja Loosli Brendebach

Guten Morgen Frau Loosli
besten Dank für Ihre ausführliche Antwort, welche uns sehr nützt.
Wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Beste Grüsse
Sabine Bauer

Guten Tag Frau Loosli
ich beziehe mich auf den unten aufgeführten Sachverhalt. Gemäss Ihrer Rückmeldung wurde die Mutter schriftlich aufgefordert eine Stellungnahme einzureichen aus welchen Gründen keine Verwandtenunterstützung eingefordert werden kann. Es folgte ein Schreiben einer Kanzlei. Es wurde uns mitgeteilt, dass es nicht darum gehen würde, dass die Mutter nicht bezahlen möchte, sondern der Sozialdienst habe sich an die Vereinbarung aus dem Jahr 2013 zu halten. Darin wurde vereinbart, dass der Sozialdienst alle drei Monate eine Abrechnung mit sämtlichen Belegen vorlegen würde. Der Anwalt bemängelte, dass die Abrechnungen verspätetet eingetroffen sind. Zusätzliche Leistungen wie das Ausrichten einer Integrationszulage oder sonstigem müssten vorher mit der Mutter rückbesprochen werden.
Des Weiteren wurden Fragen an uns gestellt, was der Sozialdienst bezüglich Integration überhaupt unternehme.
Wir haben nun folgende Fragen:

  • Der Klient leidet sehr darunter, dass seine Adoptivmutter seinen Lebensunterhalt bezahlen muss. Das Verhältnis war und ist nachhaltig zerrüttet. Eine autonome Lebensführung ist so unmöglich. Aufgrund der Ausgangslage tendieren wir die Mutter nicht um Verwandtenunterstützung zu bitten. Wie verhält sich dies sozialhilferechtlich?
  • Muss der Mutter eine detaillierte Abrechnung vorgelegt werden? Inwieweit kann sie auf den Inhalt Einfluss nehmen?
  • Inwieweit muss der Sozialdienst der Mutter überhaupt Auskunft geben, welche Integrationsmassnahmen aufgegleist wurden?
    Besten Dank für Ihre Unterstützung.
    Freundliche Grüsse
    Sabine Bauer

Frage beantwortet am

Anja Loosli

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Bauer
Vielen Dank für Ihre Rückfrage, die ich gerne wie folgt beantworte:

  1. Keine Verwandtenunterstützung mehr?
    Das Institut der Verwandtenunterstützung ist sehr heikel. Die Verwandtenunterstützung ist aber im Gesetz (Art. 328 ff ZGB) festgehalten und geregelt und kann deshalb nicht ohne Weiteres ausser Acht gelassen werden, zumal Art. 37 Abs. 1 SHG BE ausdrücklich festhält, dass der Anspruch auf Verwandtenunterstützung von der Sozialhilfe geltend zu machen ist. Wie ich aber auch in meiner ersten Antwort ausgeführt habe, ist auf die Geltendmachung zu verzichten, wenn die Einforderung aufgrund besonderer Umstände unbillig wäre. Unbillig ist die Heranziehung etwa dann, wenn eine Beziehung fehlt, wobei nicht die pflichtige Person alleine den Abbruch der Beziehungen verschuldet haben darf. Die Adoptivmutter selbst scheint nicht der Meinung zu sein, dass der Verwandtenunterstützungsbeitrag unbillig ist, hat sie Ihre entsprechende Frage doch offenbar nicht bejaht, sondern das Problem auf die verspätete Abrechnungen geschoben. Ich bin deshalb der Meinung, dass die Voraussetzungen gegeben sind, um die Verwandtenunterstützung erhältlich zu machen. Sie kennen die Verhältnisse aber besser als ich. Wenn Sie bei genauer Betrachtung zum Schluss kommen, dass es die Situation nicht zulässt, dass die Mutter weiter Unterstützungsbeiträge bezahlt, dann verzichten Sie gegenüber der Mutter schriftlich und mit Angabe der Gründe für die Zukunft darauf. Anderenfalls fordern Sie die Beiträge weiterhin ein.
  2. Höhe Verwandtenunterstützungsbeitrag
    Wenn Sie am Verwandtenunterstützungsbeitrag festhalten, so gilt grundsätzlich der 2013 vereinbarte Betrag (ich verstehe den Sachverhalt so, dass Sie vereinbart haben, dass die Mutter monatlich jeweils den aus der Abrechnung ersichtliche Betrag bezahlt). Bei der Verwandtenunterstützung handelt es sich um ein zivilrechtliches Institut (Art. 328 ff. ZGB). Von der Mutter geschuldet ist deshalb der vereinbarte oder vom Zivilgericht festgelegte Betrag. Haben Sie 2013 einen fixen monatlichen Betrag vereinbart, so hat die Mutter diesen zu bezahlen, haben Sie vereinbart, dass die Mutter jeweils nach Erhalt der Abrechnung den daraus ersichtlichen Betrag bezahlt (so verstehe ich den Sachverhalt), hat sie diesen zu bezahlen. Nicht bestimmen kann sie, welche Leistungen der Sohn erhält, da diese Leistungen gestützt auf das Sozialhilferecht und nicht auf das Privatrecht festgelegt werden, insbesondere wenn in der Vereinbarung nichts derartiges festgehalten ist.
    Gerne können Sie mir den Inhalt der Vereinbarung von 2013 detaillierter schildern, dann werde ich Ihnen eine genauere Antwort geben können.
    Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen zu können.
    Freundliche Grüsse
    Anja Loosli Brendebach