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Vertretungsrecht bei getrennt lebendem Ehepaar

Veröffentlicht:
01.03.2017
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Meine Klientin Frau X. lebt seit 15 Jahren von ihrem Mann getrennt. Die Kinder sind inzwischen volljährig. Herr und Frau X. haben bei der Trennung mit Unterstützung eines Anwalts eine Vereinbarung ausgearbeitet, sich jedoch nicht gerichtlich trennen oder scheiden lassen.
Nun ist Herr X. schwer erkrankt. Nachdem das Ehepaar während vieler Jahren kaum Kontakt hatte, lebt Herr X. nun seit rund 2 Wochen wieder im Haushalt mit seiner Frau und den Kindern, da er nicht alleine gelassen werden kann und nicht in ein Pflegeheim ziehen will.
Es stellen sich folgende Fragen:

  • Inwiefern kommt das Vertretungsrecht bei einem getrennt lebenden Ehepaar zum Zuge?
  • Falls Herr X. nicht mehr urteilsfähig wäre, müsste Frau X. Entscheide (z.B. medizinisches) treffen oder Herr X.s finanziellen/administrativen Angelegenheiten regeln?
  • Welche Möglichkeiten hat Frau X um diese Aufgaben/ Verantwortung nicht übernehmen zu müssen., wenn Herr X. keinen Vorsorgeauftrag/ Patientenverfügung erlässt?
  • Ist es relevant, dass Herr X. aktuell wieder bei der Familie lebt? (Leisten von Beistand)

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrte Frau Kayser
Wer als Ehegatte mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht (vgl. Art. 374 ZGB).
Vorausgesetzt für das Vertretungsrecht wird 1. die Urteilsunfähigkeit des Ehepartners, 2. das Führen eines gemeinsamen Haushaltes oder 3. regelmässiger und persönlicher Beistand.
Das Vertretungsrecht umfasst alle Rechtshandlungen, die zur Deckung des Unterhaltsbedarfs üblicherweise erforderlich sind, die ordentliche Verwaltung des Einkommens und der übrigen Vermögenswerte und nötigenfalls die Befugnis, die Post zu öffnen und zu erledigen (vgl. Art. 374 Abs. 2 ZGB).
Hingegen ist die Vertretung im Rahmen der ausserordentlichen Vermögensverwaltung ausgeschlossen, der Ehegatte muss für solche Geschäfte die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde einholen (vgl. Art. 374 Abs. 3 ZGB; zum Begriff Ausserordentliche Vermögensverwaltung: Christiana Fountoulakis, in: FHB Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, N 6.55.f.).
Für die Vertretung in medizinischen Massnahmen kommt die Kaskade nach Art. 378 ZGB zum Zuge. Wurde keine Person in einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag bezeichnet und besteht keine Beistandschaft mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen, kommt dem Ehegatten das Vertretungsrecht zur, sofern ein gemeinsamer Haushalt mit der urteilsunfähigen Person geführt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet wird.
Das Ehepaar hat den gemeinsamen Haushalt wieder aufgenommen. Dieser gemeinsame Haushalt, auch Zusammenleben genannt, setzt eine häusliche Nutzungs- und Verbrauchsgemeinschaft voraus. Bei einem gemeinsamen Haushalt wird davon ausgegangen, dass die Ehegatten eine echte Solidargemeinschaft bilden (vgl. Christiana Fountoulakis, in: FHB Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, N 6.14 f.).
Dem Gesetz ist nicht zu entnehmen, innerhalb welchem Zeitraum es auf den gemeinsamen Haushalt ankommen soll. Anzunehmen ist, dass der gemeinsame Haushalt zum Zeitpunkt des Verlustes der Urteilsunfähigkeit vorliegen und über den Moment des Eintritts der Urteilsunfähigkeit hinaus andauern muss. Ein erst auf den Zeitpunkt des Verlustes der Urteilsfähigkeit hin begründeter gemeinsamer Haushalt dürfte das Vertretungsrecht nicht begründen lassen (vgl. dazu eingehend Christiana Fountoulakis, in: FHB Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, N 6.21 f.).
Obwohl das Vertretungsrecht von Gesetzes wegen gilt, benötigt es für die Ausübung, vor allem für den Rechtsverkehr mit Dritten, eine Urkunde der KESB (vgl. dazu, KOKES-Praxisanleitung Erwachsenenschutzrecht, Rz. 3.1 ff.). In diesem Zusammenhang wir die KESB prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Vertretung erfüllt sind. Ist das der Fall, händigt sie dem Ehegatten eine Urkunde aus, welche die Befugnisse wiedergibt (vgl. Art. 376 ZGB).
Sollte die Ehefrau das Vertretungsrecht nicht ausüben wollen oder können, so hat sie die KESB darüber zu informieren, damit diese die notwendigen Massnahmen errichten kann (vgl. Christiana Fountoulakis, in: FHB Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, N 6.40 f.).
Sollte das gesetzliche Vertretungsrecht aus einem der vorgenannten Gründe nicht bestehen, wird die KESB die Eignung der Ehefrau als Beiständin prüfen und sie ggf. einsetzen.
Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 2.3.2017
Karin Anderer