Liebes Expertenteam
uns liegt folgender Sachverhalt vor:
Ein Ehepaar, welches schon lange getrennt, aber nicht geschieden ist, haben ein Hotel betrieben. Sie war bei ihm angestellt. Das Hotel befand sich in seinem Eigentum, welches er verkaufte und über seine AG wieder neu gepachtet wurde. Die Vertragsbedingungen der Pacht waren nicht korrekt, so dass er über ein Schlichtungsverfahren rund Fr. 130.000 zurück bekommt. Die Frau bezieht zusammen mit ihrem Sohn seit rund sechs Monaten wegen der Corona Krise von uns Sozialhilfe. Die Alimente sind nicht geregelt. Die Alimente werde jetzt aufgrund der neuen Vermögenslage geregelt. Ist es möglich rückwirkend den Unterhaltsanspruch geltend zu machen, bzw. hat die Sozialhilfe Anspruch auf das Geld, da es von der AG des getrennten Ehemannes kommt?
Besten Dank für Ihre Bemühunen.
Freundliche Grüsse
Sabine Bauer
Frage beantwortet am
Anja Loosli
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Bauer
Vielen Dank für Ihre Frage. Ich beantworte diese gerne wie folgt:
Art. 9 des Sozialhilfegesetzes des Kantons Bern (SHG BE, BG 860.1) hält fest, dass in der Sozialhilfe der Grundsatz der Subsidiarität gilt. Hilfe wird nur gewährt, soweit eine bedürftige Person sich nicht selbst helfen kann oder wenn Hilfe von Dritter Seite nicht oder nicht rechtzeitig erhältlich ist. Ausfluss dieses Prinzips ist Art. 37 Abs. 1 SHG BE, gemäss dem familienrechtliche Ansprüche vom Gemeinwesen geltend zu machen sind, soweit sie auf dieses übergehen. Vorliegend geht es um Kindesunterhalt und um ehelichen Unterhalt.
In Art. 276ff. des Zivilgesetzbuches (ZGB, SR 210) ist das Kindesunterhaltsrecht geregelt. Es besteht eine Unterhaltspflicht der Eltern bis zur Volljährigkeit bzw. bis eine ordentliche Ausbildung abgeschlossen ist. Der Unterhalt kann vom Kind für die Zukunft und rückwirkend bis zu einem Jahr vor Klageerhebung geltend gemacht werden (Art. 279 ZGB). Der Unterhaltsanspruch geht auf das Gemeinwesen über, soweit es für den Unterhalt des Kindes aufkommt (Art. 289 Abs. 2 ZGB). Im Handbuch der Berner Konferenz wird dazu unter dem Titel «Kindesunterhalt» festgehalten, dass nur noch der Sozialdienst diejenigen Unterhaltsbeiträge geltend machen kann, für die er bereits aufgekommen ist. Alle zukünftigen Unterhaltsansprüche kann das Kind geltend machen. Dies lässt sich auch aus Art. 37 Abs. 1 SHG BE lesen, in dem steht, dass die SH familienrechtliche Ansprüche geltend machen muss, die auf das Gemeinwesen übergehen. Ist Unterhalt noch nicht vertraglich oder gerichtlich festgesetzt, trifft die Sozialhilfe nach Möglichkeit eine Vereinbarung mit der pflichtigen Person oder macht den rückwirkenden Anspruch beim zuständigen Gericht geltend (Art. 38 SHG BE). Bezüglich des künftigen und des nicht von der Sozialhilfe bevorschussten rückwirkenden Unterhalts empfiehlt das Handbuch der Berner Konferenz, das unterstützte Elternteil zu verpflichten, Kindesunterhalt einzufordern (Handbuch Sozialhilfe Berner Konferenz Titel «Kindesunterhalt») und allenfalls zu sanktionieren, wenn die verpflichtete unterstützte Person dies nicht tut.
Fazit betreffend Kindesunterhalt: Der Kindesunterhalt kann gegenüber dem Vater rückwirkend ab Klageeinreichung 1 Jahr lang geltend gemacht werden. Soweit die Sozialhilfe den Kindesunterhalt bevorschusst hat, muss sie ihn selbst geltend machen. Der zukünftige oder nicht bevorschusste Kindesunterhalt ist von der Mutter des Kindes (der Klientin) geltend zu machen. Ein Anspruch direkt gegenüber der AG besteht weder von der Sozialhilfe noch von der Mutter.
Thema ist weiter der Ehegattenunterhalt. Bei Getrenntleben der Ehegatten richtet sich der Unterhalt nach Art. 176ff. ZGB. Der Unterhalt kann rückwirkend für 1 Jahr ab Einreichen des Eheschutzgesuchs geltend gemacht werden. Der Anspruch des unterstützten Ehegatten gegenüber dem pflichtigen Ehegatten geht in diesem Fall nicht auf die Sozialhilfe über. Gemäss Handbuch der Berner Konferenz ist die unterstützungsbedürftige Person deshalb von der Sozialhilfe anzuweisen, innert 30 Tagen beim Gericht ein Begehren um Festlegung der Unterhaltsbeiträge zu stellen - möglichst ab Unterstützungsbeginn (Eheschutzverfahren). Kommt die betroffene Person der Weisung nicht nach, sind Sanktionen zu prüfen. Der Sozialdienst unterstützt die Klientel bei der Geltendmachung der Unterhaltsbeiträge in geeigneter Form (Beratung, Vermittlung von Fachpersonen wie Rechtsanwältinnen oder Rechtsanwälte bzw. Frauenberatungsstellen).
Fazit Ehegattenunterhalt: Die Klientin ist zu verpflichten, mittels Vereinbarung oder Klage einen Ehegattenunterhalt gegenüber ihrem Ehemann rückwirkend ab Unterstützungsbeginn geltend zu machen. Sie ist von der Sozialhilfe dabei zu unterstützen und kann sanktioniert werden, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommt. Ein direkter Anspruch gegenüber der AG besteht hingegen nicht.
Ob die Klientin und ihr Kind tatsächlich Anspruch auf Unterhalt haben, weil die AG Fr. 130'000.-- erhält, ist für mich aber nicht gesichert, weil diese Summe dem Ehemann nicht ohne Weiteres zugerechnet werden darf.
Ich hoffe, Ihnen mit dieser Antwort weiterhelfen zu können.
Freundliche Grüsse
Anja Loosli Brendebach