Sehr geehrte Frau Anderer
Wir sind eine vom kantonalen Jugendamt bewilligte Institution für bis zu 15 Kinder und Jugendliche die stationär bei uns platziert sind. Die Kindsschutzmassnahmen sind sehr unterschiedlich, von freiwillig bis dem Entzug des Sorgerechts. Einen Beistand haben alle Klienten.
Meine Frage ist Folgende: In der Nacht gibt es einen Pikettdienst der im Bedarfsfall für Klienten zur Verfügung steht. Nun können Notfälle eintreten, die einen zusätzlichen Mitarbeiter erforderliche machen würden. Beispielsweise ein Suizidversuch bei dem der Notfall gerufen wird und ein Mitarbeiter den Klienten mit ins Spital begleiten würde. Die Betreuung der restlichen Klienten müsste gleichzeitig sichergestellt sein. Natürlich könnte der Klient auch ohne Betreuer mit dem Notfallarzt ins Spital. Für die psychologische Betreuung wäre eine Begleitung allerdings sicher wichtig. Das kantonale Jugendamt stellt, unserem Kenntnisstand entsprechend, keine Forderung nach einem zusätzlichen Pikettdienst. Im Notfalldispositiv, welcher dem KJA vorliegt, ist dieser Fall nicht vorgesehen.
Bisher wurde im Bedarfsfall die Leitung informiert. Von dieser kann aus meiner Sicht jedoch nicht erwartet werden, permanent abrufbereit zu sein. Zudem kann ein längerer Anfahrtsweg für Schwierigkeiten sorgen.
Welche gesetzlichen Bestimmungen gibt es? Was wird von uns als Institution erwartet? Benötigt es einen zusätzlichen Pikettdienst der telefonisch erreichbar ist? Spielt der Arbeitsweg eine Rolle? Muss die Leitung auch in der Nacht erreichbar sein?
Vielen Dank.
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Guten Tag
Die Voraussetzungen für die Heimbewilligung, wozu auch das Notfallkonzept gehört (siehe Richtlinien für die Bewilligung von Kinder- und Jugendheimen mit privatrechtlicher Trägerschaft des Kantons Bern vom 24.8.2016, Ziffern 4.2.3.; 4.8.1. und 4.8.2.), sind vom KJA zu prüfen. Wenn die Bewilligung erteilt wurde, dürfen Sie davon ausgehen, dass das Betriebs- und Organisationskonzept passt.
Die Institution bietet eine umfassende Betreuung und Erziehung für Kinder und Jugendliche an, die aufgrund destabilisierender und traumatisierender Vorerfahrungen nach Orientierung, Stabilität und Verlässlichkeit verlangen (Quelle Website). Es ist Aufgabe der Institution beim Aufnahmeverfahren, aber auch während der laufenden Betreuung und Erziehung, sich zu vergewissern, dass der Auftrag erfüllt werden kann (Passung, geeignete Institution). Wird beispielsweise festgestellt, dass ein Kind einen enger betreuten Rahmen benötig, der nicht angeboten werden kann, ist die Institution nicht, oder vorübergehend nicht, die geeignete Einrichtung. Aus Gründen der Verantwortlichkeit ist in solchen Situationen umgehend zu reagieren, sei es mit einer Einweisung (Fürsorgerische Unterbringung Art. 314b ZGB; Aufhebung Aufenthaltsbestimmungsrecht Art.310 ZGB), Umplatzierung (Eltern oder KESB) oder (sofortigen) Vertragskündigung.
Wie intern in der ausserordentlichen Situation reagiert werden soll, das ist eine organisations- und arbeitrechtliche Frage. Dass in ausserordentlichen Situationen die Leitung (idealerweise gibt es eine oder zwei Stellvertretungspersonen) aufgeboten wird, scheint mir nicht nur vernünftig, das gehört in eine Pflichtenheft von Leitungspersonen (ebd. 4.6.7.). Die Betreiberin, hier eine AG, ist gut beraten, die arbeitsrechtlichen Fragen, wie Kosten des Anfahrtswegs, Zeit- und Nachtentschädigung zu regeln.
Kommen ausserordentlichen Situationen öfters vor, wäre zu überlegen, ob ein Hintergrunddienst, bestehend aus Leitungspersonen wie Heim- und Gruppenleitungen, eingerichtet würde; auch dessen Modalitäten und Entschädigung wäre zu regeln. Das Betriebs- und Organisationskonzept wäre entsprechend anzupassen.
Ihren Schilderungen zufolge ist nicht unbedingt von einer ausserordentlichen Situationen die Rede. Institutionell ist es aber aus fachlichen Gründen wünschenswert, eine Begleitung, und somit punktuell einen zusätzlichen Dienst anzubieten. Auch hier wäre das Betriebs- und Organisationskonzept entsprechend anzupassen und die Modalitäten und Entschädigungsfragen wären zu regeln.
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 16.9.2021
Karin Anderer