Ich habe eine Klientin, die zusammen mit ihrem Sohn (ca. 2jährig) durch die wirtschaftliche Sozialhilfe unterstützt wird. Ihr Ex-Partner und Vater des gemeinsamen Sohnes lebt jeweils die halbe Woche bei ihnen, damit sie Zeit als Familie verbringen können.
Kann hier eine normale Unterhaltsvereinbarung, welche von der KESB genehmigt wird, erstellt werden, obschon der Vater die Hälfte der Zeit bei ihnen wohnt? Auf was müsste geachtet werden?
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Grüezi
Ein alternierendes Betreuungsmodell liegt vor, wenn ein Elternteil das Kind in einem wesentlich grösseren Ausmass als bei einem sog. üblichen Wochenend- und Ferienbesuchsrecht betreut (vgl. Philipp Maier/Andrea Waldner-Vontobel, Gedanken zur neuen Praxis des Bundesgerichtes zum Unterhaltsrecht aus der Perspektive des erstinstanzlichen Gerichts, in: FamPra.ch 2021, 871 ff., 886 f.)
Es geht vorliegend wahrscheinlich um die Unterhaltsberechnung bei einem alternierenden Betreuungsmodell. Hier wird das Kind, im Haushalt der Mutter lebend, vom Vater anteilmässig betreut (sog. Nestmodell).
Die Unterhaltsbestimmung in alternierenden Betreuungsmodellen ist komplex und sie wird in der Praxis unterschiedlich gelöst (vgl. dazu Aeschlimann Sabine, Bähler Daniel, Schweighauser Jonas, Stoll Diego, Berechnung des Kindesunterhalts – Einige Überlegungen zum Urteil des Bundesgerichts vom 11. November 2020 i.S. A. gegen B. 5A_311/2019, in: Fampra.ch 2021, S. 251).
Maier und Vecchiè beschäftigen sich in ihrem Aufsatz über die Zulässigkeit alternierender Obhut bei angespannten finanziellen Verhältnissen; solche liegen hier vor. Die Autoren kommen zu folgendem Schluss: „Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung widerspricht es dem Kindeswohl, wenn die Eltern eine Betreuungslösung wählen, welche dazu führt, dass ein Kind dauerhaft in Sozialhilfeabhängigkeit oder am Rand des Existenzminimums aufwachsen muss, sofern andere Betreuungslösungen zu wirtschaftlich spürbaren Verbesserungen führen. Muss das Gericht in Bezug auf Betreuungsanteile und/oder Unterhalt einen Sachentscheid fällen, darf es in der Regel nur dann eine Lösung mit geteilter Obhut anordnen, wenn das betreibungsrechtliche Existenzminimum aller Familienmitglieder in beiden Haushalten gedeckt ist. Nur ausnahmsweise darf davon abgewichen werden, wenn eine andere Lösung mit höheren Arbeitspensen der Eltern zu keiner spürbaren wirtschaftlichen Besserstellung der Familienmitglieder führen würde. Damit steht fest, dass der finanzielle Aspekt des Kindeswohls ein zu berücksichtigendes Kriterium bei der Wahl des Betreuungsmodells darstellt. Die dargestellten Grundsätze gelten auch für Eltern, die sich einig sind und dem Gericht oder der Kindesschutzbehörde eine Vereinbarung mit Wechselmodell zur Genehmigung vorlegen oder zusammen mit der Genehmigungsbehörde eine Vereinbarung mit einem solchen Inhalt erarbeiten möchten. Aus unserer Sicht ist es stossend, wenn diesen Eltern in absoluter Form vermittelt wird, ihr Betreuungsmodell sei aufgrund der finanziellen Verhältnisse nicht genehmigungsfähig. Dies gilt vor allem dann, wenn das Modell von den Eltern bereits praktiziert wird.“ (Maier Philipp, Vecchiè Massimo, Geteilte Obhut um jeden Preis?, in: AJP 2022, 696, 713 f.). Am Schluss ihres Beitrags zeigen die Autoren auf, welche Lösungen die Gerichte und die Kindesschutzbehörden den Eltern in einem solchen Fall anbieten können.
Interessant kann für Sie der Entscheid des Kindes- und Erwachsenenschutzgerichts des Kantons Bern vom 16. Juli 2020, KES 20 546, sein. In E. 8.3. tönt das Gericht sinngemäss an, dass sich Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter einer KESB oder eines Sozialdienstes in komplexen Unterhaltssituation möglichst bald Rechenschaft darüber ablegen sollen, ob Beratungen noch im Rahmen ihrer Möglichkeiten liegen oder ob die Beteiligten an Fachpersonen verwiesen werden sollten. Die Beantwortung von schwierigen juristischen Wertungsfragen verlangt nach einer entsprechenden Ausbildung und einem Überblick über das Rechtssystem, und selbst das schützt nicht vor Überlegungs- und Berechnungsfehlern, so das Gericht.
Ich empfehle Ihnen, dem Ratschlag des Gericht zu folgen und die internen Möglichkeiten für die anspruchsvolle Beratung zu prüfen. Möglicherweise sind die Eltern betreffend die Unterhaltsberechnung an eine in Unterhaltsangelegenheiten versierte Anwaltsperson zu verweisen.
Zur Berechnung mit den berechnungsblättern.ch, sofern Sie diese verwenden, vgl. die Ausführungen über die alternierende Obhut in Ziffer 3.7 des online abrufbaren Kommentars Unterhaltsberechnung.
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 13.8.2022
Karin Anderer