Sehr geehrte Frau Anderer
Ich arbeite in einer stationären Reha-Klinik. Eine Arbeitsgruppe der Sozialberatung erneuert im Moment das betriebliche Gesamtkonzept "Vorgehen bei einer schutzbedürftigen Person im stationären Rahmen". Nun sind wir bei der Frage der "Einweisung in eine geeignete Institution" unsicher geworden.
Konkret geht es um die Frage, wie vorgegangen werden soll, wenn eine Person nicht nach Hause zurückkehren kann, sie dies aber möchte. Wenn das interprofessionelle Team der Meinung ist, eine Person kann aus verschieden Gründen (z.B. zu hoher Pflegedarf in Kombination mit mangelndem sozialem Umfeld welches mithilft und nicht vorhandenen Assistenzpersonen) nicht nach Hause, sondern es braucht eine Einweisung in ein Pflegeheim. Ein FU kann aber nur gemacht werden, wenn entweder eine psychische Störung, geistige Behinderung oder eine schwere Verwahrlosung vorliegt. Bei unseren Patienten ist es häufig so, dass eine psych. Störung nicht oder noch nicht diagnostiziert wurde. Und eine Verwahrlosung zu Hause nach dem Austritt zwar Folge sein könnte, aber noch nicht gegeben ist. Wir gehen deshalb davon aus, dass wir ohne ärztliche oder psychiatrische Berichte, welche Stellung zu einer möglichen Verwahrlosung bzw. psych. Diagnose Stellung nehmen, einen FU nicht verantworten können. Dann bleibt nur ein Antrag um eine Begleitbeistandschaft, mit der Einschränkung der Handlungsfähigkeit im Bezug auf das Thema Wohnen. Ist das korrekt?
Weiter haben wir die Erfahrung gemacht, dass die KESB sehr verhalten überhaupt auf solche Anträge eingeht, sondern dann darauf besteht, dass die Klinikärzte einen FU aussprechen. Mit der Begründung, es müsse zuerst ein ärztlicher FU ausgesprochen werden, bevor die Behörde einsteigt. Wie sieht Ihre Erfahrung diesbezüglich aus? Ausserdem geht dieses Vorgehen viel länger, so dass ein möglicher Heimplatz dann oftmals vergeben ist.
Besten Dank für ihre Rückmeldung,
Freundliche Grüsse
Fabienne Sigrist
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Sehr geehrte Frau Sigrist,
die Voraussetzungen einer FU sind in Art. 426 ZGB geregelt: Eine Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, darf in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. Bei der FU handelt es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in die persönliche Freiheit, der nur als ultima ratio infrage kommt (Gassmann/Bridler in: FHB Kindes- und Erwachsenenschutz, N. 9.3.).
Die Behandlung- oder Betreuungsbedürftigkeit muss sich auf einen im Gesetz genannten Schwächezustand beziehen: auf eine psychische Störung, eine geistige Behinderung oder eine schwere Verwahrlosung. Aus dem Prinzip der Verhältnismässigkeit ergibt sich, dass eine Unterbringung nur dann zulässig ist, wenn eine Selbst- oder Drittgefährdung von einem bestimmten Ausmass besteht (Gassmann/Bridler in: FHB Kindes- und Erwachsenenschutz, N 9.76). Das Ausmass der Gefährdung muss also konkret und erheblich sein, für die Gesundheit oder das Leben der betroffenen Person oder von Dritten. Die Gefahr muss gegenwärtig sein, d.h. das schadensstiftende Ereignis hat begonnen, steht unmittelbar bevor oder ist aufgrund besonderer Umstände jederzeit zu erwarten (Gassmann/Bridler in: FHB Kindes- und Erwachsenenschutz, N 9.77).
Ambulante Betreuungsformen setzten oft voraus, dass die Angehörigen bei der Betreuungsarbeit mitwirken. Sind Angehörige nicht in der Lage, die betroffene Person zu betreuen, oder sind keine Angehörigen vorhanden, so kann ein ambulantes Setting zum Scheitern verurteilt sei (Gassmann/Bridler in: FHB Kindes- und Erwachsenenschutz, N 9.84) Das könnten ein Grund sein, warum eine behördliche Massnahme auszusprechen wäre.
Fehlt die Einsicht in eine notwendige medizinische Behandlung oder können die Konsequenzen einer mangelhaften ambulanten Versorgung nicht erkannt werden, ist in jedem Einzelfall abzuklären, ob ein Schwächezustand nach Art. 426 ZGB vorliegt.
Gassmann/Bridler beschreiben den Begriff der schweren Verwahrlosung folgendermassen: «Eine schwere Verwahrlosung ist auf einen Zustand der Verkommenheit zugeschnitten, der mit der Menschenwürde schlechterdings nicht mehr vereinbar ist. bezeichnet das anhaltende Abweichen einer Person von den Erwartungen ihrer Umwelt. Sie besteht in einer äusseren Verwahrlosung im Sinne einer ungenügenden Körperpflege und ist gekennzeichnet durch hygienisch inakzeptable Wohnbedingungen. Zudem wird sie begleitet von massiver Selbstvernachlässigung mit der Folge extremer körperlicher Verschmutzung, zunehmender Malnutrition (Mangelernährung) und Exazerbation (Verschlimmerung) behandelbarer Erkrankungen (Infektionen etc.). Im Gegensatz zu den anderen Schwächezuständen können bei der Verwahrlosung auch somatische Erkrankungen zu einer fürsorgerischen Unterbringung führen.
Eine schwere Verwahrlosung liegt nur in Extremfällen von Selbstvernachlässigung vor, in denen die hilfsbedürftige Person nicht mehr in der Lage ist, die minimalsten Bedürfnisse in Bezug auf Hygiene und Ernährung nachzukommen. Nicht erforderlich ist eine völlige Verwahrlosung. Umgekehrt soll die Behörde mit dem Eingreifen auch nicht solange zuwarten, bis ein nicht mehr behebbarer Zustand von völliger Verwahrlosung eingetreten ist.» (Gassmann/Bridler in: FHB Kindes- und Erwachsenenschutz, N 9.62 f.)
Wenn das interdisziplinär zusammengesetzte Team zu Ansicht gelangt, dass eine Entlassung nach Hause unverantwortbar erscheint, kann eine Gefährdungsmeldung an die zuständige KESB am zivilrechtlichem Wohnsitz der betroffenen Person gemacht werden (Art 442 ZGB; Entbindung vom Berufsgeheimnis beachten). In der Gefährdungsmeldung haben Sie die konkrete oder zu erwartende Gefahrensituation darzulegen und den Behandlungs- und Betreuungsbedarf zu skizzieren. Konkrete Massnahme müssen Sie nicht beantragen, ebenso wenig haben Sie die Voraussetzungen der FU beweismässig zu erstellen. Sie können aber Ihre Empfehlungen abgeben und auf eine Dringlichkeit hinweisen, das ist für die Entscheidfindung hilfreich. Die KESB hat den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären (Art. 446 Abs. 1 ZGB) und über die Anordnung einer Schutzmassnahme zu entscheiden. Sie ist auch berechtigt, vorsorgliche Massnahmen auszusprechen (Art. 445 ZGB). An Anträge ist sie zudem nicht gebunden (Art. 446 Abs. 3 ZGB). Die KESB kann ärztliche Abklärungen oder Gutachten einholen, und sie kann auch eine stationäre (psychiatrische) Begutachtung anordnen. (Art. 446 Abs. 2 und 449 ZGB).
Eine Begleitbeistandschaft kann nicht mit einem Entzug der Handlungsfähigkeit angeordnet werden (Art. 393 Abs. 2 ZGB), das geht nur bei einer Vertretungsbeistandschaft (Art. 394 Abs. 2 ZGB). Bei einer umfassenden Beistandschaft fällt die Handlungsfähigkeit von Gesetztes wegen weg (Art. 398 Abs. 3 ZGB). Allerdings würde eine Beistandschaft, egal welcher Art, vorliegend nichts nützen, da ein Beistand eine Person nie gegen ihren Willen und Widerstand platzieren kann; er muss einen Antrag auf eine FU stellen.
Was die von Ihnen geschilderte Praxis der KESB anbelangt, auf Anträge nicht einzugehen und die Sache an Klinikärzte zu verweisen, halte ich für nicht statthaft. Im Kanton Luzern kann gestützt auf § 41 lit. b EG ZGB ein ärztlicher FU nur erfolgen, wenn Gefahr im Verzug ist. Das ist in der von Ihnen beschrieben Situation nicht unbedingt der Fall. Hier benötigt es allenfalls einen Austausch auf der Ebene Zusammenarbeit KESB-Ärzteschaft.
Ob die Gefährdungsmeldung der richtige Weg ist, kann überlegt werden. Sie haben es allenfalls mit einem Klienten zu tun, der uneinsichtig und unkooperativ ist. Methoden wie shared oder assisted decision making könnten auch zu einer Lösung führen. So könnte mit dem Klienten und seinem Umfeld, wie bspw. dem Hausarzt und der Spitex, eine Vereinbarung getroffen werden, welche Bedingungen festhält, die für ein Leben zu Hause erfüllt sein müssen, und wie vorzugehen ist, wenn sie nicht eingehalten werden.
Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Karin Anderer
Luzern, 20.3.2018