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Umstellung auf elektronische Dossierführung und Aufbewahrungsfristen IV-Massnahmen

Veröffentlicht:
04.08.2022
Kanton:
Bern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Datenschutz, Persönlichkeitsschutz und Haftung

Ausgangslage:

  • Wir führen berufliche Eingliederungsmassnahmen im Auftrag von IV-Stellen (und anderer Kostenträger) durch.
  • Wir wollen (soweit möglich) auf Papierdossiers verzichten und vollständig auf eine rechtssichere elektronische Dossierführung und Archivierung umstellen (rechtlich anerkannte und massgebliche, beweis- und revisionssichere Form).

Kategorien Papierunterlagen:

  • Dokumente mit Originalunterschrift: Lehrvertrag, Praktikumsvereinbarung, Verhaltenskodex und Selbstverpflichtung, IT-Richtlinien, Regeln zur Arbeitssicherheit, Zielvereinbarungen, Entbindung Schweigepflicht, massnahmenspzifische Vereinbarungen, Arztzeugnisse, etc.
  • Dokumente vom Zuweiser: Verfügungen / Kostengutsprachen, Zumutbarkeitsprofil, Arztberichte, Zuständigkeitswechsel, Assessment, Informationen zur versicherten Person, Datenträger (CD mit medizinischen Informationen), etc.
  • Dokumente von Externen: neuropsychologische Untersuchungen, Arztzeugnisse, Schulzeugnisse, Notenausweise, Beurteilungen Arbeitseinsätze, Abrechnungen Taggelder der IV von den Ausgleichskassen, etc.
  • Dokumente intern: Ergebnisse von Tests / Arbeitsproben / Leistungsmessungen, Kompetenzbeurteilungen, Zwischen- und Schlussberichte, Taggeldbescheinigungen an Ausgleichskassen, etc.

Fragen zur Verwaltung und Aufbewahrung:

  • Verwaltung und Aufbewahrung: welche gesetzlichen Vorschriften bestehen für welche E-Dokumente?
  • Gibt es rechtssichere elektronische Unterschriften? Falls nein: gibt es einzelne juristisch relevante Dokumente, die wir ergänzend in Papierform (mit Originalunterschrift) aufbewahren müssen? Wenn ja: welche?
  • Bei welchen Dokumenten sind welche Aufbewahrungsfristen einzuhalten? Detailfrage: wie lange müssen wir die Dossiers bei kurzen IV-Massnahmen aufbewahren (z.B. Abklärung 3 Monate > Vernichtung nach 6 Monaten)?

Frage beantwortet am

Kurt Pärli

Expert*in Datenschutz, Persönlichkeitsschutz und Haftung

Guten Tag

Vielen Dank für diese spannende Anfrage. Da die Frage viele Themen berührt (Aktenaufbewahrungspflicht),  e-Unterschrift, Datenschutz usw. und diese Fragen je nach Organisation in unterschiedlichen Rechtsquellen verankert sind, muss ich wissen, ob es sich bei der Institution um eine privatrechtliche Institution handelt (Stiftung, Verein, AG, GmBH) oder aber um eine staatliche Institution und falls in ja, in welchem Kanton diese sich befindet.

Sobald ich diese Informationen habe, kann ich die Frage beantworten.

Mit Dank für die - vorläufige - Kenntnsinahme und freundlichen Grüssen

Kurt Pärli

Sehr geehrter Herr Pärli

Vielen Dank für Ihre Nachfrage. Wir sind ein privatwirtschaftlich organisiertes Unternehmen (Genossenschaft) mit Sitz im Kanton Bern.

Ich bin gespannt auf Ihre Antwort und bedanke mich herzlich für Ihre Bemühungen.

Mit besten Grüssen

Frage beantwortet am

Kurt Pärli

Expert*in Datenschutz, Persönlichkeitsschutz und Haftung

Guten Tag

Vielen Dank für die Klarstellung. Erlauben Sie mir ein paar Vorbemerkungen.

I) Datenschutzrechtliche "Basics"

Das Datenschutzrecht in der Schweiz basiert zum einen auf dem Bundesgesetz über den Datenschutz (DSG), das revidiert wurde, die Änderungen treten am 1.9.2022 in Kraft. Das DSG enthält Datenschutzvorschriften für die Bundesverwaltung und andere Bundesbetriebe zum einen und zum anderen für sämtliche privatrechtlich tätigen Akteure und somit grundsätzlich auch für Ihre Institution.

Neben dem DSG gibt es in jedem Kanton Datenschutzerlasse, diese bestimmen die datenschutzrechtlichen Spielregeln für die kantonale Verwaltung und für weitere kantonale Institutionen.

DSG und kantonale Datenschutzgesetze werden gemeinhin als "formelles" oder "allgemeines Datenschutzrecht" bezeichnet. Dabei gilt: Staatliche Institutionen - auf Bundesebene oder in den Kantonen - brauchen für jede Datenbearbeitung eine gesetzliche Grundlage. Anders verhält es sich bei den privaten Akteuren, diese müssen die Datenschutzregeln des DSG einhalten und benötigen je nach Datenbearbeitung eine Einwilligung der betroffenen Person oder einen anderweitigen Rechtfertigungsgrund.

Datenschutzregeln finden sich überdies in zahlreichen weiteren Gesetzen, die auch als "besonderes", "materielles" oder "bereichsspezifisches Datenschutzrecht" bezeichnet werden. So finden sich z.B. im IVG Vorschriften darüber, unter welchen Voraussetzungen die IV-Behörden mit anderen Stellen Personendaten der IV-Versicherten austauschen dürfen.

Wenden wir das gerade Gesagte auf den vorliegenden Sachverhalt hat, so ist vorab zu klären, welche datenschutzrechtlichen Erlasse bei der Zusammenarbeit IV-Stellen und Ihrer Institution anwendbar sind.

1. Anwendbares Datenschutzrecht für die IV

Die IV-Stellen sind kantonale Institutionen, das spricht für die Anwendung des kantonalen Datenschutzrecht. Andererseits wenden die IV-Stellen Bundesrecht an, was für die Anwendung des DSG spricht. Nach Lehre und Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass auf IV-Stellen das kantonale Datenschutzrecht anwendbar ist, vorliegend also das Kantonale Datenschutzgesetz KDSG BE. Zudem finden selbstverständlich sämtliche Datenschutzbestimmungen (Schweigepflicht, Ausnahmen davon usw.) des ATSG und IVG auf die IV-Stellen Anwendung.

2. Anwendbares Datenschutzrecht für Ihre Institution (Genossenschaft X. mit Sitz im Kanton Bern).

Das KDSG ist anwendbar auf alle Behörden des Kantons Bern (Art. 1 KDSG).  

Zu prüfen ist nun, ob gemäss KDSG BE die X-Genossenschaft als "Behörde" im Sinne des KDSG gilt.

Dazu relevant ist Art. 2 Abs. 6 KDSG: 6:

Behörden im Sinne dieses Gesetzes sind

a            Amtsstellen des Staates und der Gemeinden mit ihren Mitarbeitern;

b            Organe von Körperschaften und Anstalten sowie Private, soweit ihnen öffentliche Aufgaben übertragen sind.

Ihre Institution führt im Auftrag der IV-Stellen und anderer Kostenträger Eingliederungsmassnahmen durch. Es fragt sich jetzt, ob dies dazu führt, dass auf die Genossenschaft X. das KDSG anwendbar ist. Nach der hier vertretenen Auffassung ist dies nicht der Fall, denn der Genossenschaft X. wird die Aufgabe der beruflichen Eingliederung nicht "übertragen", dafür wäre eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage notwendig. Das kantonale Einführungsgesetz zur IV (https://www.belex.sites.be.ch/app/de/texts_of_law/841.21) sieht nichts dergleichen vor. 

Die Zusammenarbeit zwischen der IV-Stelle BE und der Genossenschaft X. basiert – wenn ich das richtig verstanden habe- auf vertraglicher Basis. Dies führt also nicht zur Anwendung des KDSG.

Für die Genossenschaft X. ist demnach das Bundesdatenschutzgesetz DSG (Teil Regeln für Private) anwendbar. An dieser Stelle wird nicht weiter geprüft, welche Auswirkungen die Revision des DSG auf die Aktivitäten der Genossenschaft X. hat. Es wird aber empfohlen, diese Auswirkungen sorgfältig zu prüfen (Kleiner Werbespot: am 21. April 2023 findet an der Universität Basel die erste Basler Datenschutzrechttagung zum revidierten DSG statt, nähere Informationen finden sich demnächst hier: https://ius.unibas.ch/de/aktuelles/recht-aktuell/ra-details/recht-aktuell-tagung-zum-datenschutz/

3. Bedeutung des anwendbaren Datenschutzrechts für den Datenfluss

Vorliegend gibt die IV-Stellen besonders schützenswertes Personendaten an die Genossenschaft X bekannt. Diese Datenbekanntgabe muss den Anforderungen des KDSG sowie ATSG/IVG entsprechen (ich erspare Ihnen hier die Details).

Die Genossenschaft X. ihrerseits nimmt diese Daten in Empfang, bearbeitet sie und gibt wiederum besonders schützenswerte Personendaten an die IV-Stelle weiter. Anwendbare Datenschutzregelungen sind einerseits das DSG und weiter das IVG (Wenn die betroffene Person bei der IV—Anmeldung die Genossenschaft X. bereits erwähnt, stellt dies eine Einwilligung der Person für den Datenaustausch IV-Genossenschaft X dar).

II) Gesetzliche Bestimmungen für die Archivierung

Da die Genossenschaft X. ihren Sitz in Bern hat, stellt sich die Frage, ob das Archivgesetz des Kantons (ArchG BE) Bern anwendbar ist. Das ist nicht der Fall, denn das Gesetz gilt für Behörden und Behörden sind nach Art. 3 Abs. 4 ArchG BE: 

Als Behörden im Sinne dieses Gesetzes gelten

a            Organe des Kantons, seiner Anstalten und seiner Körperschaften,

b            Organe der Gemeinden, ihrer Anstalten und von Körperschaften, die dem Gemeindegesetz vom 16. März 1998 unterstellt sind,

c            Private, soweit sie ihnen übertragene öffentlich-rechtliche Aufgaben erfüllen.

 

Allein der Umstand, dass die Genossenschaft X. im Auftrag der IV Eingliederungsmassnahmen durchführt, bedeutet gerade nicht, dass die Genossenschaft eine öffentlich-rechtliche Aufgabe erfüllt.

Ist das Archivgesetz nicht anwendbar, gelten die privatrechtlichen Grundlagen der Archivierung. Einschlägig sind hier die gesetzlichen Aufbewahrungspflichten des OR. Als Grundregel gilt, dass die Unterlagen zehn Jahre aufzubewahren sind (ich verzichte hier auf die Details, siehe als Anregung: https://cms.weka.ch/fileadmin/USERDATA/Bilder/Finanzen/Aufbewarungsfristen.JPG ).

III) Digitalisierung der Ablagen

Wie dargestellt wurde, ist die Genossenschaft X. gestützt auf die OR-Grundlagen verpflichtet, ihre geschäftlichen Unterlagen zehn Jahre lang aufzubewahren (wie erwähnt, ich verzichte auf Details). Spezifische Aufbewahrungspflichten können sich auch aus dem Zusammenarbeitsvertrag mit den IV-Stellen (und anderen Kostenträgern) ergeben, diese sind selbstverständlich ebenfalls zu beachten.

Bis auf im Gesetz vorgesehene Ausnahmen spielt es keine Rolle, ob die Ablage in Papierform oder digital erfolgt, massgebend ist indes, ob die digitalen Dokumente im Bedarfsfall gelesen werden können.

Zu diesen Themen existieren zahlreiche Informationen aus der Treuhandbranche, auf die hier exemplarisch verwiesen werden: https://revisia.ch/buchhaltung-gesetzliche-anforderungen-an-die-papierlose-belegfuhrung/  oder https://www.bdo.ch/getmedia/3d4cfa59-527b-4e93-91d2-7bb54d308858/44_Archivierung-von-Geschaftsunterlagen_1.pdf.aspx

Wichtig ist, dass bei der Ablage und Aufbewahrung von Dokumenten das anwendbare Datenschutzrecht (also vorliegend das DSG und ggf. ATSG/IVG) eingehalten werden. Abgelegte Personendaten, egal ob digital oder gedruckt, müssen richtig sein und sicher aufbewahrt werden. Zudem haben die betroffenen Personen ein Auskunftsrecht, d.h. die bearbeiteten Daten müssen den Auskunftsstellern nach Massgabe von Art. 8 DSG bekanntgegeben werden.

Weiterer Hinweis: https://insos.ch/assets/Dateien/Merkblatt-Aktenaufbewahrung.pdf

IV) Elektronische Unterschrift

Die elektronische Signatur ist ein technisches Verfahren zur Überprüfung der Echtheit eines Dokuments, einer elektronischen Nachricht oder anderer elektronischer Daten sowie der Identität der oder des Unterzeichnenden.

Nach Art. 14 Abs. 2bis OR ist die mit einem qualifizierten Zeitstempel verbundene qualifizierte elektronische Signatur gemäss Bundesgesetz vom 18. März 2016 über die elektronische Signatur (ZertES) der eigenhändigen Unterschrift gleichgestellt.

Auch hierzu finden sich zahlreiche weiterführende Informationen im Internet, z.B. hier: https://www.epartners.ch/pub/e-2-21-elektronische-signaturen

 

V) Zusammenfassende Beantwortung der Fragen

1. Verwaltung und Aufbewahrung: welche gesetzlichen Vorschriften bestehen für welche E-Dokumente?

Es gelten die OR-Regelungen, siehe ausführliche Ausführungen oben. Zusätzlich ist zu beachten, welche Vorschriften ggf. der Vertrag zwischen X. und IV-Stelle vorsieht. Einzuhalten sind ferner die Bestimmungen des DSG  

    Gibt es rechtssichere elektronische Unterschriften? Falls nein: gibt es einzelne juristisch relevante Dokumente, die wir ergänzend in Papierform (mit Originalunterschrift) aufbewahren müssen? Wenn ja: welche?

Ja, rechtsichere elektronische Unterschriften sind möglich, siehe die obigen Ausführungen. Wenn es sich um eine e-Unterschrift mit Zertifikat handelt, ist diese der vom Gesetz in bestimmten Fällen forderten Form der eigenhändigen Unterschrift gleichgestellt, Details oben.

 

    Bei welchen Dokumenten sind welche Aufbewahrungsfristen einzuhalten? Detailfrage: wie lange müssen wir die Dossiers bei kurzen IV-Massnahmen aufbewahren (z.B. Abklärung 3 Monate > Vernichtung nach 6 Monaten)?

Grundsätzlich wie erwähnt alle geschäftlichen Unterlagen zehn Jahre. Ohne dies (auch noch) detailliert prüfen zu können: Die Vernichtung der Akten zu IV-Massnahmen durch die Genossenschaft X. bedarf sorgfältiger Klärung, ganz sicher auch das Einverständnis der betroffenen Personen. Diese Frage müsste aber vertieft werden (sprengt den Rahmen des Forums).

 

V) Abschliessende Bemerkungen

Die vorliegenden Antworten zeigen auf, dass Sonderfragen wie etwa diejenige der Aktenvernichtung einer ausführlicheren Analyse bedürfen, die im Rahmen des Forums nicht geleistet werden kann.

Soweit nicht ohnehin bereits geschehen oder geplant empfehle ich eine Überprüfung der Datenbearbeitungsflüsse in der Genossenschaft X. im Hinblick auf den 1.9.2023 (inkraftreten des revidierten DSG).

 

Mit Dank für die Kenntnisnahme und freundlichen Grüssen

Kurt Pärli