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Umgang mit vertraulicher Information über grenzüberschreitendes Verhalten während der Ausbildung / Lehre

Veröffentlicht:
18.08.2020
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Arbeitsrecht

Guten Tag

ich erlaube mir, mit folgender Situation und Anfrage auf Sie zuzukommen:

Vergangene Woche hat uns die Berufsbildungsverantwortliche einer Unternehmung geschildert, dass ihr eine austretende Lernende (Lehrabschluss im Sommer 2020) beim Abschlussgespräch «im Vertrauen» mitteilte, dass sie Anfang 2020 mit einem (internen) Berufsbildner ein einvernehmliches sexuelles Verhältnis hatte und dass der Teamleiter (ihr Vorgesetzter) des letzten Teams, in dem sie arbeitete, ihr völlig unerwartet einen Kuss auf den Mund gab.
Die ehemalige Lernende äusserte sich offenbar, dass sie nicht will, dass die beiden Mitarbeiter auf diese Vorkommnisse angesprochen werden    (> «im Vertrauen»).
Wir haben diese Anfrage der Berufsbildungsverantwortlichen vergangene Woche in der Team-Supervision bearbeitet und sind dabei klar zum Schluss gekommen, dass der Betrieb so oder so nun im Wissen über diese Vorkommnisse eine Interventionspflicht hat und wahrnehmen muss.
Dies erfordert weitere Gespräche mit der ehemaligen Lernenden (sie ist bereits nicht mehr im Betrieb), welche auch zeitnah stattfinden werden.
Hierbei stellt sich uns nun eine arbeitsrechtliche Detailfrage:
Falls die ehemalige Lernende die oben geschilderten Vorkommnisse weiterhin vertraulich behandelt wissen und auf ihre Situation bezogen auf eine Intervention verzichten will, müsste sie – so unser Schluss im Rahmen der Supervision – eine «Verzichtserklärung» unterschreiben.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob sie dies als Lernende (und somit «Schutzbefohlene»), was sie zum Zeitpunkt der Ereignisse war, überhaupt darf / kann. Die Lernende wurde Ende 2019 18, beide Vorkommnisse fanden im 2020 statt.
Ihre Einschätzung(en) und Empfehlungen aus arbeitsrechtlicher Perspektive sind für uns sehr wertvoll und wir bedanken uns bereits bestens.

Für das Team der Movis AG Bern / Region Mitte
Carole Lauper
Beraterin
MSc in Sozialer Arbeit

Frage beantwortet am

Kurt Pärli

Expert*in Arbeitsrecht

Liebe Frau Lauper

Die von Ihnen aufgeworfene Frage ist sehr delikat, denn es gilt verschiedene Interessen miteinander abzuwägen.

Die einvernehmliche sexuelle Beziehung zwischen der Lernenden und einem Berufsbildner und der "Kuss auf den Mund" des Vorgesetzten sind auch im Lichte des Strafrechts und des Gleichstellungsgesetzes zu beurteilen.

Wenn die Lernende urteilsfähig war, konnte sie auch in eine sexuelle Beziehung einwilligen (ich gehe davon aus, dass sich keine Fragen des Schutzalters stellen). Strafrechtlich relevant wäre, wenn der Berufsbildner die Abhängigkeit der Lernenden von ihm ausgenützt hätte, um die sexuellen Handlungen vorzunehmen. Einschlägig ist Art. 188 StGB:

1. Wer mit einer minderjährigen Person von mehr als 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt, wer eine solche Person unter Ausnützung ihrer Abhängigkeit zu einer sexuellen Handlung verleitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

Gemäss Ihren Schilderungen liegen keine solche Anhaltspunkte vor. Es ist jedoch m.E. Aufgabe der Berufsbildungsverantwortlichen, im Gespräch mit der Lernenden herauszufinden, ob die sexuelle Beziehung tatsächlich freiwillig war. Fehlen konkrete Anhaltspunkte, dass dies nicht so ist, würde ich abraten, die strafrechtliche Schiene weiter zu verfolgen. Dies auch, weil ein Strafverfahren für die Lernende äusserst unangenehm wäre.

Die Frage des unfreiwillig empfangenen Kusses präsentiert sich etwas anderes. Hier liegt eine sexuelle Belästigung vor, die strafrechtlich relevant sein könnte, in Frage steht das Verbot sexueller Belästigung nach Art. 198 StGB. Allerdings handelt es sich hier um ein Antragsdelikt und wenn die Lernende, wie sie schreiben, den Vorfall nicht melden will, gibt es auch kein Strafverfahren. Auch hier würde ich der Lernenden nicht unbedingt raten, ein Strafverfahren anzustreben (Gründe wie oben).

Der unfreiwillige Kuss ist auch eine sexuelle Belästigung i.S. von Art. 4 Gleichstellungsgesetz. Hier würde sich die Möglichkeit einer Klage nach GLG (auf Entschädigung, Genugtuung) anbieten. Allerdings muss die Klägerin den Beweis des Vorgefallenen erbringen. Wie sie schildern, möchte die Lernende das Geschehene aber nicht thematisieren. Mit einer Klage müsste sie aber die Karten auf den Tisch legen und dabei käme ev. auch die einvernehmliche sexuelle Beziehung mit der anderen Person zur Sprache und das Verfahren könnte sich am Ende für die Lernende als Bumerang erweisen.

In rein arbeitsrechtlicher Hinsicht ist zu bedenken, dass Arbeitgebende gegenüber den Lernenden eine besondere Verantwortung haben. Diese Verantwortung gilt es aber abzuwägen mit der Autonomie der Lernenden. Dabei ist natürlich die besondere Abhängigkeit im Lernverhältnis zu berücksichtigen.

Aufgrund dieser Ausgangslage ist richtig (und arbeitsrechtlich notwendig), dass diejenige Person, die von der Lernenden diese Informationen erhalten hat, mit der Lernenden sehr sorgfältig klärt, was geschehen ist und ob die sexuelle Beziehung mit einem Berufsbildner wirklich einvernehmlich war und ob die Lernende die Sache mit dem unfreiwilligen Kuss auf den Mund wirklich auf sich beruhen lassen will. Wenn dem so ist und keine Anzeichen bestehen, dass die Lernende in ihrer Urteilsfähigkeit eingeschränkt ist oder sie eingeschüchtert wurde, kann die Stratagie, die Sache nicht weiter zu verfolgen, im Interesse der Lernenden Person sein.

Zu beachten ist auch, dass, wer ein Geheimnis, das er oder sie im Rahmen der beruflichen Tätigkeit ohne Einwilligung der betroffenen Person oder ohne gesetzliche Grundlage an Dritte weitergibt, gegen Art. 35 des Datenschutzgesetzes verstösst (Schutz des Berufsgeheimnisses). M.a.W.;  das Geheimnis, dass die Lernende ihrer Supervisorin anvertraut hat, ist ebenfalls rechtlich geschützt.

Was nun? Ich empfehle unbedingt, zu dieser Thematik eine Aktennotiz zu verfassen und diese ggf. von der Lernenden unterschreiben zu lassen. Inhalt müsste sein:

- was hat die Lernende erzählt, was ist vorgefallen?

- was will die Lerndende mit diesen Vorfällen bzw. was nicht?

- wie hat die verantwortlicher Supervisorin mit der Lernenden die Vorfälle thematisiert, wurde soweit möglich geklärt, ob hier die Lernende ausgenutzt wurde?

- was haben Supervisori und Lernende bezüglich Weitergabe oder eben Nichtweitergabe diser Information vereinbart?

Nun, Sie sehen, ich neige aufgrund der mir bekannten Informationen eher dazu, das Anliegen der Lernenden nach Nichtbekanntgabe der Vorfälle zu beachten (nur unter der Voraussetzung, dass man in guten Treuen zum Schluss kann, dies sei ihr freier Entscheid, wenn dem nicht so ist, verändert dies die Ausgangslage fundamental).

Das heisst nun aber nicht, dass für diese Arbeitgeberin nicht Handlungsbedarf besteht. M.E. könnte der Vorfall zum Anlass genommen werden, bestehende Konzepte zum Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu aktivieren, eine interne Weiterbildung zum Thema durchzuführen, Vorgesetztentrainings usw. o.ä.. . Denn offensichtlich haben in dieser Unternehmung nicht alle (Männer) begriffen, welches Vorhalten im 21. Jahrhundert gegenüber Lernenden opportun ist und welches nicht.

Soweit meine Überlegungen, die Ihnen hoffentlich für die weitere Bearbeitung der anspruchsvollen Thematik weiterhelfen.

 

Mit freundlichen Grüssen

Kurt Pärli

Guten Tag Herr Pärli

herzlichen Dank für die wertvollen Ausführungen, comme toujours.
Ich erlaube mir, gerade weil die Situation sehr heikel ist, eine Nachfrage.

Kurz noch zur Richtigstellung (sorry, ich hatte da ev. missverständlich formuliert):
Die Lernende war selbst nicht in Kontakt mit einer Supervisorin. Wir als Team der Movis Region Mitte haben den Fall in unserer internen Supervision besprochen.

Es stellt sich uns v.a. noch die Frage:
Darf die ehemalige Lernende dieses Betriebes eine solche Aktennotiz, die ja dann auch eine Verzichtserklärung (= Verzicht, Meldung über die Vorkommnisse, von denen sicherlich das eine (Kuss) als sexuelle Belästigung zu qualifizieren ist, zu machen) unterschreiben oder kann sie darauf nicht verzichten, da sie eben zum Zeitpunkt der Vorkommnisse in einem Ausbildungsverhältnis stand?

Ich bedanke mich bestens und grüsse freundlich.

Carole Lauper

Frage beantwortet am

Kurt Pärli

Expert*in Arbeitsrecht

liebe Frau Lauper

Sehr anregend ihre Frage, es geht um Kern um eine heikle juristische Frage, nämlich diejenige nach einer allfälligen Pflicht der belästigenden Person selbst, das Vorgefallene innerhalb des Betriebes den Vorgesetzen oder anderen Stellen zu melden.

Es ist interessant festzustellen, dass die durch Ihren Fall aufgeworfene Frage weder in der Rechtsprechung, noch in der Literatur und auch nicht in den zahlreichen Leitfäden und Brochüren zum Thema gemacht wird. 

Schon mehr Klarheit besteht in der Frage, ob allfällige Zeugen und Zeuginnen von sexueller Belästigung verpflichtet sind, diese Vorkommnisse den vorgesetzten Stellen zu melden. Das lässt sich gestützt auf die arbeitsrechtliche Treuepflicht rechtfertigen. In vielen Betrieben finden sich solche "Denuziationspflichten" in betriebs- oder konzerninternen Regelungen (wie code of ethic, codes of conducts). Aber auch solche Meldungen sind heikel, da die Meldenden nie wissen können, welche Dynamik diese Meldung enthaltet. Zudem sind solche, auch Whistleblower genannte Personen rechtlich in der Schweiz schlecht geschützt.

Die in den Fall involvierte Person (die Zuhörende) ist so gesehen auch eine Art Zeugin, deren Pflicht, den Fall zu melden steht aber der ausdrückliche Wunsch der Lernenden gegenüber, den Fall nicht zu melden.

Die arbeitsrechtliche Treuepflicht geht aber meines Erachtens nicht so weit, dass ich als belästigte Person selbst verpflichtet bin, der Arbeitgeberin ein belästigendes Verhalten eines Vorgesetzten zu melden.

Kern der Problematik bleibt, dass diejenige Person, die von der Lernenden die Geschichten erfahren hat, aufgrund ihrer Fachkompetenz und Lebenserfahrung einschätzen muss, ob die Lernende urteilsfähig war hinsichtlich der sexuellen Beziehung und urteilsfähig mit Blick auf ihren Wunsch, die Sache mit dem Vorgesetzten-Kuss nicht zu thematisieren. Wenn die Urteilsfähigkeit bejaht wird, ist die Autonomie der Lernenden meines Erachtens zu respektieren, anders zu entscheiden würde bedeuten, dass die arbeitsrechtliche Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber in einem solchen Fall höher gewichtet wird als der autonome und frei gebildete Wille dieser Auszubildenden.

 

Ich hoffe, auch diese zusätzlichen Informationen seien für Ihre Entscheidfindung nützlich.

Mit Dank für die Kenntnisnahme und freundlichen Grüssen

Kurt Pärli