Eine Strafanstalt kommt mit einem Kostenübernahmegesuch auf unsere Gemeinde zu und möchte, dass wir die Prämien KVG sowie die Kosten im Rahmen der Franchise und des Selbstbehaltes für einen Insassen, welcher in unserer Gemeinde wohnhaft war, übernehmen. Wir haben diese Kostengutsprache als zivilrechtlicher Wohnsitz entsprechend geleistet.
Nun kommt die Strafanstalt telefonisch erneut auf uns zu und teilt mit, dass der Klient bei ihnen wöchentlich vom Psychiater behandelt, zum Röntgen geschickt und mit weiteren Behandlungen «versorgt» wurde. Nun haben sie bemerkt, dass der Klient einen Leistungsstop (Art. 64a KVG) bei der Krankenversicherung hat und von unserer Gemeinde erwarten, dass Kosten der ärztlichen Behandlungen übernommen werden. Wir haben ihnen mitgeteilt, dass keinen Antrag auf Sozialhilfe in Haft habe und deshalb auch Nichts bezahlen kann. Diesen Antrag hat man nun gestern per Email nachgereicht. Es fehlen noch die Bankkontoauszüge.
Der Klient befindet sich noch bis 13.07.2023 in Haft und wird danach für 8 Jahre aus der Schweiz ausgewiesen. Er hat einen obligatorischen Wegweisungsentscheid, welcher ihm mit Eintreten der Rechtskraft die Niederlassung C entzogen hat.
Unserer Erachtens hat dieser Klient mit Erlöschen der Aufenthaltsbewilligung im Januar 2023 keinen regulären Anspruch auf Sozialhilfe mehr, sondern nur noch Hilfe in Notlagen gem. BV Art. 12. Sein Pekulium auf dem Freikonto beträgt ca. CHF 300.00. Einen Anspruch auf materielle Hilfe für den Grundbedarf scheint deshalb nicht nötig. Er hat ein Dach über dem Kopf und wenn er notfallmässig medizinische behandelt werden muss, dann kann die Strafanstalt die Behandlungen so der Krankenkasse deklarieren.
Für die Übernahme der KVG Prämien ist grundsätzlich der Zivilwohnsitz (unsere Gemeinde) zuständig. Für Franchisen und Selbstbehalt ist das Sozialamt am Unterstützungswohnsitz zuständig (auch unsere Gemeinde). Müssen die Leistungen, welche aufgrund des bestehenden Leistungsaufschubes nicht über die Krankenversicherung abgerechnet werden, von den Sozialen Diensten bezahlt werden? Auch wenn diese von den Ärzten nicht als Notfall subsumiert werden können?
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Guten Tag
Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Bei der beschriebenen Person in Haft ohne geregelten Aufenthalt seit Januar 2023 und Landesverweis nach Haftende am 13. Juli 2023 kommen verschiedene rechtliche Aspekte zum Tragen. Im Zentrum steht die Frage der Übernahme von Psychotherapie- und weiteren Behandlungskosten, da bemerkt wurde, dass der Haftinsasse einem Leistungsstopp aufgrund eines Vermerks auf der schwarzen Liste vorliegt.
Zunächst stellt sich die Frage der Ausscheidung der Kostentragung Justizvollzug und Sozialhilfe. Dazu enthält das Merkblatt Schnittstelle Justizvollzug – Sozialhilfe der SKOS hilfreich Hinweise. Es wäre zunächst mit Ziffer 4.2 (S. 40 f.) zu prüfen, ob es sich grundsätzlich um Kosten handelt, die tatsächlich von der Sozialhilfe und nicht etwa vom Justizvollzug zu tragen sind. In den Folgeziffern des Merkblatts lassen sich weitere hilfreiche Hinweise entnehmen, so die Finanzierung durch Eigenmittel des betroffenen Insassen, wobei dies vorliegend aufgrund des tiefen Betrages auf dem Freikonto kein Ansatz bildet.
Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips wäre zudem die Kostenübernahme durch die Krankenkasse vorrangig zur Sozialhilfe zu prüfen. Wenn das Verfahren nach Art. 64a KVG korrekt eingehalten wurde, haben betroffene säumige Versicherte lediglich Anspruch auf medizinische Notfallbehandlungen (Art. 64a Abs. 7 KVG), wenn der Kanton sie auf einer Liste erfasst (sog. Schwarze Liste). Was unter medizinische Notfallbehandlungen zu verstehen ist, wird vom KVG nicht definiert. Aus der Rechtsprechung der Kantone ergeben sich Hinweise darauf, dass einerseits die dringliche Behandlung gemeint ist, welche eine Beistandspflicht der Medizinalpersonen auslöst (Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 26.4.2018, KSchG 2017/5). Andererseits wird die Auffassung vertreten, dass vom Sinn und Zweck her zahlungsunwillige Prämienschuldner erfasst werden sollen, nicht hingegen zahlungsunfähige (Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 27. Juni 2016, VSBES.2015.276, E. 6.3; Urteil des Kantonsgerichts Luzern, 3. Abteilung vom 13.06.2016 (5V 16 103), insb. E. 5.3). Soweit ersichtlich, hat sich weder das Bundesgericht noch das Versicherungsgericht des Kantons Thurgau zu dieser Frage geäussert. Jedenfalls muss über die Frage der Kostenübernahme ein leistungsablehnender Entscheid der zuständigen Krankenkasse vorliegen, wobei es angesichts der zitierten kantonalen Gerichtsentscheide es sinnvoll wäre, diesen auf seine Richtigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls anzufechten.
Die Leistungspflicht der Sozialhilfe stellt sich vorliegend auch dann, wenn der Entscheid der Krankenkasse überprüft wird. Das SHG / TG enthält keine Regelung zu dieser Frage. Der SHV / TG ist zu dieser Gruppe von Bedürftigen (Verlust C-Bewilligung/Landesverweis) keine Regelung im Sinne von § 2i und 2l zu entnehmen, auch findet sich keine Konkretisierung, wie die Nothilfe gemäss § 2l Abs. 2 SHV / TG auszugestalten ist, ausser ein Hinweis auf die Bundesverfassung. Ebensowenig lässt sich dazu etwas den «Leitsätzen Sozialhilfe» entnehmen, welche sich aus der Rechtsprechung ableiten und auf der Webseite publiziert sind. Erfasst wird diese Gruppe von Bedürftigen aber von SKOS-RL A.5. Die SKOS-RL finden nach § 2a SHV / TG in der Regel Anwendung, wobei Konkretisierungen in der SHV / TG für die Bemessung massgebend sind. Letzteres ist vorliegend wie erwähnt nicht der Fall. Nach SKOS-RL A.5 Abs. 2 haben Personen ohne Recht auf Verbleib in der Schweiz keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Gelangen sie in der Schweiz in eine Notlage, haben sie Anspruch auf Hilfe in Notlagen, welch u.a. die medizinische Grundversorgung umfasst, solange die Rückreise nicht möglich oder zumutbar ist (lit. b). Die medizinische Grundversorgung ist in SKOS-RL C.5 geregelt und gewährleistet die Grundversorgung im Rahmen der obligatorischen Grundversicherung gemäss KVG. Dasselbe Niveau ist gegebenenfalls auch zu gewährleisten, wenn Nothilfeberechtigte ausnahmweise keinen Versicherungsschutz aufweisen. Andererseits wird in den Erläuterungen zu SKOS-RL A.5 auf die Empfehlungen SODK zur Nothilfe für ausreisepflichtige Personen des Asylrechts verwiesen, welche sich ebenfalls am KVG orientieren (Ziff. 4.3.3). Auch nach Bundesgericht sind Nothilfeberechtigte grundsätzlich krankenversichert (BGE 138 V 310 E.4).
Insoweit ziehe ich das Fazit, dass im Rahmen der Nothilfe die medizinische Grundversorgung zu gewährleisten ist, solange die Rückkehr nicht möglich oder zumutbar ist. Die medizinische Grundversorgung entspricht dem KVG-Standard und ist nicht auf medizinische Notfallbehandlungen beschränkt.
Es stellt sich nun aber die Frage, ob sich die Sozialhilfe im vorliegenden Fall statt am KVG-Standard an der medizinischen Notfallbehandlung nach Art. 64a Abs. 7 KVG orientieren muss. Aus meiner Sicht ist dies wohl eher zu bejahen, da die medizinische Notfallbehandlung für den betreffenden Insassen eine vorgesehene Abweichung im KVG darstellt. Insoweit ist sein Grundversorgungsanspruch an seinem individuellen Anspruch gemäss KVG zu orientieren. Anders wäre es, wenn man die SKOS-RL A.5 Abs. 2 lit. b losgelöst vom individuellen Anspruch gemäss KVG betrachten würde, dann würde sein Anspruch unabhängig der schwarzen Liste einfach dem KVG-Standard entsprechen. Aus meiner Sicht sind beide Lösungen denkbar, wobei ich zur ersten tendiere. Denn die zweite Lösung hat zum Nachteil, dass eine Ungleichbehandlung zu Personen entsteht, welche in knappen Verhältnissen leben, jedoch keine wirtschaftliche Hilfe oder Nothilfe beziehen. Diese könnten nicht auf kommunale Hilfe zählen, um trotz schwarzer Liste auf den KVG-Standard zu kommen.
Demnach ist mein zweites Fazit, dass der Insasse grundsätzlich einen Anspruch auf medizinische Grundversorgung gemäss KVG hätte, dieser jedoch aufgrund von Art. 64a Abs. 7 KVG auf die medizinische Notfallbehandlung beschränkt ist. Was die medizinische Notfallbehandlung bedeutet, ist weiter oben zu entnehmen. Diese sollte wie beschrieben nicht einfach auf Notfälle zu beschränkt werden, sondern weiter ausgelegt werden (Urteil St. Gallen) bzw. es könnten gewisse Gruppen (Zahlungsunfähige) ausgenommen werden. Falls der Kanton Thurgau die Sanierung kennt, wäre ein Ansatz, die dortige Praxis zu erfragen, welche unter Umständen sinngemäss auf den vorliegenden Fall angewendet werden könnte.
Ich hoffe, Ihnen damit Ihre Frage beantwortet zu haben.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder