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Tagesauszahlung

Veröffentlicht:
14.07.2025
Kanton:
Thurgau
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Guten Tag

In einem aktuellen Fall sehen wir uns mit der Situation konfrontiert, dass eine leistungsberechtigte Person wiederholt nicht oder nur unregelmässig am vorgesehenen Beschäftigungsprogramm teilnimmt. Da eine geregelte Tagesstruktur einen zentralen Bestandteil der angestrebten sozialen und beruflichen Integration bildet, beabsichtigen wir die Modalitäten der Ausrichtung der wirtschaftlichen Sozialhilfe entsprechend anzupassen.

Konkret ist vorgesehen, die finanzielle Unterstützung im Rahmen des Beschäftigungsprogramms in Form von täglichen Barauszahlungen vorzunehmen. Die Auszahlung soll jeweils persönlich abgeholt werden; für das Wochenende soll die Auszahlung am Freitag erfolgen. Dabei wollen wir ausdrücklich betonen , dass es sich bei dieser Massnahme nicht um eine Sanktion handeln soll, sondern um eine auf Integration und Strukturierung des Alltagslebens ausgerichtete Massnahme. Die Massnahme zielt primär darauf ab, durch regelmässige Alltagsstruktur eine Stabilisierung zu fördern. Sie erfolgt nicht als Reaktion auf Fehlverhalten, sondern präventiv im Sinne einer niederschwelligen, strukturfördernden Integrationshilfe.

In diesem Zusammenhang bitten wir um rechtliche Einschätzung zu den folgenden Fragen:

  1. Tagesauszahlung als Auszahlungsmodus:
    Handelt es sich bei der Tagesauszahlung um eine Auszahlungsmodalität (Modus Operandi), deren konkrete Ausgestaltung im Ermessen der zuständigen Behörde liegt? Gibt es hierzu ein Praxis, welche den Gestaltungsspielraum der Behörde näher umschreibt?
  2. Rechtsgrundlage und Anforderungen:
    a) Auf welche gesetzliche Grundlage kann eine Tagesauszahlung gestützt werden?
    b) Welche materiellen Anforderungen (insbesondere im Lichte des Verhältnismässigkeitsprinzips) sind bei einer solchen Modalität zu beachten? Wäre beispielsweise eine sachlich begrenzte Dauer (etwa bis zur regelmässigen Programmbeteiligung) erforderlich oder zumindest empfehlenswert?
  3. Verzicht bei Nichtabholung der Tagesauszahlung:
    Uns wurde zugetragen, dass im Fall von nicht abgeholten Tagesauszahlungen – unter der Voraussetzung, dass die Abholung zumutbar gewesen wäre – ein konkludenter Verzicht auf den Leistungsbezug angenommen werden kann. Die Überlegung dahinter lautet, dass eine bedürftige Person, welche auf existenzsichernde Mittel angewiesen ist, diese nicht grundlos ungenutzt lässt, weshalb vom Fehlen der Bedürftigkeit auszugehen sei.
    Unter welchem rechtlichen Aspekt lässt sich eine solche Praxis subsumieren (z.B. mutmasslicher Verzicht, Verwirkung)?
  4. Rechtskraft des Anordnungsentscheids und angekündigte Aufsichtsbeschwerde:
    Die Anordnung zur Tagesauszahlung ist unterdessen rechtskräftig geworden. Nun droht die betroffene Person mit einer Aufsichtsbeschwerde wegen angeblicher Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung.
    Gibt es in diesem Zusammenhang rechtliche Aspekte, die wir besonders beachten müssen?
  5. Auffälligkeiten bei Arztzeugnissen und Anordnung einer vertrauensärztlichen Untersuchung:
    Wiederholt wurden uns Arztzeugnisse vorgelegt, welche die Transportunfähigkeit der betroffenen Person bescheinigen. Diese wurden unsererseits jeweils berücksichtigt, sodass wir in der Folge die Unterstützung nachzahlten. Auffällig ist indes, dass die eingereichten Zeugnisse durchgehend von jeweils unterschiedlichen Ärztinnen und Ärzten ausgestellt wurden, was zumindest den Anfangsverdacht auf eine Umgehung aufkommen lässt.
    a) Besteht unter diesen Umständen die Möglichkeit, eine vertrauensärztliche Untersuchung anzuordnen?
    b) Ist für eine solche Untersuchung die vorgängige Entbindung des behandelnden Arztes von der ärztlichen Schweigepflicht erforderlich?
    c) Wie ist hierbei das Amtsgeheimnis zu beachten? Insbesondere stellt sich die Frage, inwieweit die Anordnung einer vertrauensärztlichen Untersuchung bzw. deren Durchführung ohne vorgängige Zustimmung der betroffenen Person mit dem Schutz des Amtsgeheimnisses sowie dem Datenschutzrecht vereinbar ist. Wie ist somit vorzugehen, ohne dass das Amtsgeheimnis verletzt wird?
    d) Gibt es rechtliche Vorgaben zum Vorgehen, insbesondere bezüglich Information, Anordnung und Mitwirkungspflicht der betroffenen Person?

Wir danken Ihnen im Voraus für Ihre Einschätzung.

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Tag.

Gerne nehme ich Stellung zu Ihrer Anfrage:

a)     Die Art und Weise sowie die Etappierung der Auszahlung der Sozialhilfe ist eine Frage des Vollzuges der Sozialhilfe. Dabei besteht für die Behörde zwar ein gewisses Ermessen. Dieses ist aber mangels konkreter Rechtsnormen im kantonalen Recht im Rahmen der allgemeinen Rechtsprinzipien auszuüben. Bzgl. der Art (persönliches Erscheinen), des Umfanges und der Etappierung der Auszahlung ist dabei vor allem das Verhältnismässigkeitsprinzip beachtlich. Eine Abweichung von der Praxisnorm der Auszahlung auf ein Konto des gesamten Monatsbetreffs ist ein Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit.

In Anwendung von Art. 36 BV genügt es dafür nicht, dass ein öffentliches Interesse (wie etwa die Strukturierung und Sicherstellung des rechtmässigen Bezuges) besteht. Vielmehr bedarf es einer genügenden Rechtsgrundlage. Das Sozialhilfegesetz und die Sozialhilfeverordnung beinhalten keine hier einschlägigen Normen für die Art und Weise der Auszahlung als Teil des Soialhilfevollzuges. Im Kanton Thurgau liegt dafür nur die sehr offenen Rechtsnorm in § 84 VRG (RB 170.1) vor.

Gerade weil die gesetzliche Norm zum Sozialhilfevollzug im Kanton Thurgau sehr offen formuliert ist, kommt der Frage der Verhältnismässigkeit mit Blick auf die Grundrechtsrelevanz besondere Bedeutung zu. Die Regelung müsste mit Blick auf das angestrebte Ziel nicht nur geeignet sein, sondern vielmehr auch notwendig erscheinen. Es ist also mit Blick auf die Erschwernis und die Folgen für die Betroffenen die mildeste Massnahme zu wählen, welche die notwendige Struktur ermöglicht (die hier gemäss Sachverhalt angestrebt wird). Aus dem Sachverhalt zweifle ich daran, dass dies hier der Fall ist, zumal ja der Auszahlungsmodus gemäss Anfrage eben doch in einen Zusammenhang gestellt wird mit dem Verhalten im Eingliederungsprogramm. Soll es tatsächlich um die integrationsfördernde Strukturierung des Alltags gehen, müssten vor einer solchen invasiven Massnahmen andere weniger einschneidende Massnahmen geprüft werden.

Überdies müsste die Massnahme mit Blick auf die Folgen für die betroffene Person zumutbar sein.  Die Beurteilung dieser Frage hängt davon ab, welche konkrete Erschwernis der Eingriff hier zur Folge hätte. 

Eine Massnahme des tageweisen Bezuges dürfte eher in Fällen verhältnismässig sein, wo es Zweifel gibt an der Anwesenheit (also mit Blick auf die Prüfung der Zuständigkeit).

 

b)    Ob und inwieweit dann eine Nichtabholung als Indiz für eine fehlenden Wohnsitz oder Aufenthalt gewertet wird, ist eine Frage der gesamten Sachumstände. Wenn die Massnahme der Strukturierung des Alltages dienen soll, wie vorliegend, und wenn gerade von einer fehlenden Struktur im Alltag bei der betroffenen Person ausgegangen werden muss, so wäre eine Vermutung der Verwaltung, dass eine Nichtabholung ein eigentlicher Verzicht darstellt, wohl schnell eine willkürliche Würdigung des Sachverhalts. Sie dürfte in vielen Fällen keinen Rechtsschutz geniessen, sondern könnte in Rechtsmittelverfahren wegen Willkür zu Rückforderungen führen.

 

c)     Aufgrund des vorliegenden Falles sind erhebliche Zweifel angebracht, ob die Massnahme tatsächlich verhältnismässig ist. Ich rate dazu, den Entscheid in Wiedererwägung zu ziehen. Und vorab andere Massnahmen vorzusehen zur Strukturierung des Alltags.

Soweit die fehlende Mitwirkung im Beschäftigungsprogramm in Frage steht, so stehen Sanktionen zur Verfügung. Dabei sind die üblichen Verfahrensregeln zu beachten.

 

d)    Mit Blick auf die Arztzeugnisse können im vorliegenden Fall die verhältnismässigen Abklärungen zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen und der Subsidiarität vorgenommen werden. Falls, wie im Sachverhalt geschildert, gewisse Zweifel bestehen an der Echtheit der Zeugnisse, so müsste wohl vorab vom Betroffenen eine Entbindung vom Medizinalgeheimnis verlangt werden, um bei den betroffenen Arztpersonen die Echtheit der Zeugnisse nachzufragen.

 

e)     Eine vertrauensärztliche Untersuchung dürfte mit Blick auf vergangene Arbeits- oder Transportfähigkeiten wenig geeignet sind. Sie kann, falls andere Zeugnisse nicht eingeholt oder konkretisiert werden können, aber ev. notwendig erscheinen (und verhältnismässig sein) mit Blick auf aktuelle Transport- oder Beschäftigungsprogrammfähigkeiten.

Falls aber eine Notwendigkeit zur Prüfung der aktuellen Massnahmefähigkeit mit Blick auf die Subsidiarität besteht, könnte es Teil der Mitwirkungpflicht der sozialhilfebeziehenden Person sein, sich dieser Untersuchung zu unterziehen, soweit diese nach den gesamten Umständen zumutbar erscheint von der Art und Weise der Durchführung her.

 

f)     Verfahrensmässig wäre eine entsprechende Auflage notwendig und ist das rechtliche Gehör zu gewähren mit Blick auf die Verhältnismässigkeit. Ratsam ist es auch, ein Rechtsmittelweg zu eröffnen, da und soweit die Massnahme doch relativ erheblich in die persönliche Freiheit des Betroffenen eingreift.


Ich hoffe, das dient Ihnen. 

Peter Mösch Payot