Beistandschaft gemäss Art. 394 Abs. /1 und 395 Abs. 1 und 2 ZGB
Klientin lebt in Pflegeheim und erhält neben AHV Zusatzleistungen
Für die Geltendmachung von Zusatzleistungen (ungerechtfertigter Vermögensverzehr) hat die KESB X. einen Beistand (Rechtsanwalt) eingesetzt:
Der Vertretungsbeistand erhält gestützt auf Art. 394 ASs. 1 ZGB folgende Aufträge und Befugnisse:
a) (..)
b) Prüfung und Durchsetzung der sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche von Frau X:
c) Prüfung und Beantragung der unentgeltlichen Rechtspflege für Frau X im Rahmen der Beschreitung des Prozessweges;
Laut rechtskräftigem Urteil des Sozialversicherungsgerichts vom 20. April 2017 wurde der Vermögensverzicht ab 2009 bejaht, da das Strafverfahren gegen M.D. noch hängig war. (Unterlagen vorhanden).
Mit rechtskräftigem Urteil des Sozialversicherungsgerichts vom 14. Mai 2018 wurde das Gerichtsurteil vom 20. April 2017 wegen erheblichen neuen Tatsachen (rechtskräftige Verurteilung von M.D.) aufgehoben und die Neubeurteilung der Zusatzleistungen verfügt.
Mit meinem Schreiben vom 26. Juli 2018 habe ich als Beistand von Frau X die Neubeurteilung des Vermögensverzehrs ab 31. März 2011 beantragt.
Die Zusatzleistungen M. stellen sich auf den Standpunkt, dass erst ab meiner ersten Beschwerde ab 1. November 2014 die Zusatzleistungen neu zu beurteilen sind.
Gemäss meinen Unterlagen (Sozialversicherung-Gerichtsurteil vom 20. April 2017 wurde der erste Antrag bereits im Jahr 2009 wegen Vermögensverzehr gestellt.
Mit Verfügung der Zusatzleistungen vom 16. August 2018 stellt sich diese auf den Standpunkt, dass lediglich die Zusatzleistungen ab 1. November 2014.
Fragen:
- Ist die Einschätzung der Zusatzleistungen korrekt, dass diese erst ab 1. November 2014 die Neubeurteilung vornehmen muss, oder müsste man nicht eher auf die erste Beanspruchung für Zusatzleistungen (2009) abstellen?
- Sofern die Zusatzleistungen bereits ab 2009 berücksichtigt werden müssten, wie kann ich als Beistand die Geltendmachung vornehmen, nachdem die Zusatzleistungen erneut meine Beschwerde ablehnen? Ist dann erneut das Sozialversicherungsgericht aufzurufen?
Sollten Unterlagen für Ihre Beurteilung nötig sein, kann ich diese sofort nachreichen.
Besten Dank.
Freundliche Grüsse
Ronald Sutter
SDBU
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrter Herr Sutter
Die Antwort folgt über meine Kollegin, Karin Anderer, bis anfangs nächster Woche. Beste Grüsse Peter Mösch
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrter Herr Sutter
Gerne gebe ich Ihnen meine Einschätzung ab, die auf den von Ihnen geschilderten Sachverhalt beruht.
Am 5. November 2014 hat die Klientin einen Antrag auf Zusatzleistungen gestellt. Mit Verfügung vom 20. Januar 2015 wurde dieses Gesuch unter Anrechnung eines Vermögensverzichts abgewiesen. Die dagegen am 13. Februar 2015 erhobene Einsprache wies die Gemeinde M., Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur AHV/IV (nachfolgend ZL-Durchführungsstelle), mit Einspracheentscheid vom 8. April 2015 ab. Am 8. Mai 2015 hat die Klientin die Verfügung beim Sozialversicherungsgericht angefochten. Auf Antrag der Klientin wurde das Verfahren bis zur rechtskräftigen Erledigung der gegen M.D. hängigen Straf- und Betreibungsverfahren sistiert, und auf ihren Antrag wurde die Sistierung am 30. November 2016 wieder aufgehoben. Die Beschwerde wurde mit Urteil vom 29. März 2017 abgewiesen. Das Urteil erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
Mit Eingabe vom 18. Januar 2018 stellte die Klientin beim Sozialversicherungsgericht ein Revisionsgesuch. Sie beantragte, das Urteil vom 29. März 2017 sei in Revision zu ziehen, die Sache sei zur Neubeurteilung an die ZL-Durchführungsstelle, zurückzuweisen. Die ZL-Durchführungsstelle erklärte sich mit der Revision des Urteils und der Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung einverstanden. Dementsprechend wurde mit Urteil vom 14. Mai 2018 das Urteil vom 29. März 2017 wegen erheblichen neuen Tatsachen aufgehoben und die Neubeurteilung der Zusatzleistungen verfügt. Anlass dazu gab die am 6. November 2017 vom Tribunal d’arrondissement de Lausanne gefällte rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung von M.D. M.D. wurde wegen Betrugs im Sinne von Art. 146 Abs. 1 StGB rechtskräftig verurteilt. Die strafbaren Handlungen fanden im Zeitraum vom 20. August 2006 bis 20. Juli 2007 statt.
Mit Schreiben vom 26. Juli 2018 haben Sie die Neubeurteilung der Zusatzleistungen ab 31. März 2011 beantragt (wie Sie auf dieses Datum kommen, kann ich nicht ganz nachvollziehen). Die ZL-Durchführungsstelle stellt sich mit Verfügung vom 16. August 2018 auf den Standpunkt, dass die Zusatzleistungen lediglich ab 1. November 2014 zu überprüfen seien.
Dem Urteil des Sozialversicherungsgerichts vom 29. März 2017 ist in Ziffer 1.1. und 1.2 zu entnehmen, dass sich die Frau bereits am 24.November 2009 und am 3. September 2014 zum Leistungsbezug für Zusatzleistungen anmeldete. Die beiden Gesuche wurden wegen dem anrechenbaren Vermögensverzicht am 31.3.2011 bzw. am 17.11.2014 abgewiesen.
Bei der Neubeurteilung handelt es sich um eine Revision nach Art. 53 Abs. 1 ATSG. Formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide müssen in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war (vgl. dazu Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 53 ATSG m.w.H.). Das ist vorliegend der Fall, die Frau konnte den ihr nicht anrechenbaren Vermögensverzicht erst nach Abschluss des Strafverfahrens beweisen.
Folgende Informationen lassen sich zur Revision in der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (WEL), Gültig ab 1. April 2011, Stand 1. Januar 2018, finden. Sie ist abrufbar auf https://www.bsvlive.admin.ch/vollzug/documents/view/1638/lang:deu/category:59
„4.7.5 Prozessuale Revision
4750.01 Werden neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auf-gefunden, die zum Zeitpunkt des Verfügungserlasses nicht bekannt waren oder die nicht erbracht werden konnten und führen sie voraussichtlich zu einer anderen erheblichen rechtlichen Beurteilung, müssen bereits rechtskräftige Verfügungen von Amtes wegen neu geprüft und beurteilt werden.
4750.02 Für die Feststellung der Erheblichkeit vergleiche Rz 3641.03.
(3641.03 Macht die Änderung der jährlichen EL weniger als 120 Franken im Jahr aus, so kann auf eine Anpassung verzichtet werden.)
4750.03 Sind die Voraussetzungen einer prozessualen Revision erfüllt, ist die EL-Stelle im Gegensatz zur Wiedererwägung (vgl. Kap. 4.7.6) verpflichtet, die bereits rechtskräftige Verfügung neu zu beurteilen.
4750.04 Liegt ein Revisionsgrund vor, ist das Verfahren von Amtes wegen einzuleiten und es bedarf keines Gesuches.
4750.05 Wird ein Revisionsverfahren eingeleitet, so ist der Entscheid der versicherten Person durch Verfügung – welche eine Rechtsmittelbelehrung enthalten muss – zu eröffnen.“
Das Urteil vom 14. Mai 2018 bezieht sich einzig auf die angefochtene Verfügung der ZL-Durchführungsstelle vom 5. November 2014. Dem Dispositiv können Sie entnehmen, dass der angefochtene Einspracheentscheid vom 8. April 2015 aufgehoben, und die Sache an ZL- Durchführungsstelle zurückgewiesen wurde, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre und anschliessend über den Anspruch auf Zusatzleistungen neu befinde. Es erscheint mir deshalb korrekt, dass die ZL-Durchführungsstelle die Zusatzleistungen ab 1. November 2014 neu beurteilen wird.
Betreffend der Verfügungen vom 31.3.2011 und 17.11.2014 müssen Sie unbedingt und sofort die Revision bei der der ZL-Durchführungsstelle beantragen. Nach Art. 67 VwVG besteht dafür eine relative Frist von 90 Tagen ab Entdeckung des Revisionsgrundes und eine absolute Frist von 10 Jahren ab Eröffnung des Entscheides (Handbuch für die Anwaltspraxis, recht der Sozialen Sicherheit, Flückiger, § 4 N 4.282). Die Frist für das Revisionsbegehren läuft ab Folgetag der Zustellung (angenommen, das Urteil wurde am 14.5.2018 zugestellt, dann läuft die Frist am 13. September 2018 ab - unter Berücksichtigung des Fristenstillstand vom 15. Juli bis 15. August).
Die Entdeckung des Revisionsgrund dürfte sich auf das Urteil des Sozialversicherungsgericht vom 14. Mai 2018 beziehen. Das Sozialbersicherungsgericht hat in E. 3 festgehalten, dass eine bewusste oder fahrlässige Vermögenshingabe – und damit die Anrechnung eines Vermögensverzichts – unter anderem dann ausgeschlossen ist, wenn die Darlehensgabe oder die anderweitige Übertragung von Vermögenswerten durch strafrechtliche Handlungen bewirkt wurden. Von einer Anrechnung eines Verzichtsvermögens ist damit in Übereinstimmung mit den Parteianträgen abzusehen. Erwähnen Sie beim Revisionsgesuch, dass erst mit dem Urteil vom vom 14. Mai 2018 der Revisionsgrund entdeckt wurde, eine strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich alleine noch nicht, um die Anrechnung eines Vermögensverzichts ausschliessen zu können.
Wird auf das Strafurteil abgestellt, so dürften die Frist verpasst sein und ein Schadensfall nach Art. 454 ZGB ist zu prüfen. Ob das Revisionsgesuch zu den Aufgaben des mandatierten Anwalts oder in Ihren Aufgabenbereich gehört, wäre abzuklären, das kann ich vorliegend nicht beurteilen.
Ob die prozessuale Revision auf die zwei Verfügungen zulässig ist, kann ich somit nicht abschliessend beuteilen. Die Materie ist komplex, auch stellen sich Fristenfragen, die ich ohne vertiefte Recherche und einem Aktenstudium nicht beurteilen kann.
Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen hilfreich und ich grüsse Sie freundlich
Luzern, 10.9.2018
Karin Anderer
Sehr geehrte Frau Anderer
Besten Dank für Ihre Beurteilung des Falles.
In der Tat ist die Angelegenheit sehr komplex, insbesondere und unter juristischen Standpunkten.
Gerne schicke ich Ihnen die Revisionsverfügungen der Zusatzleistungen, sofern gewünscht.
Der Eingang beim RA für das Sozialversicherungsurteils, der für die ZL etc. zuständig war, ist am 28.5.18.
Aus meiner Sicht ist klar auf die Rechtskraft abzustellen (11.7.2018 ).
Auch bin ich der Ansicht, dass das Gerichtsurteil über die Verurteilung des Betrugs nur insofern eine Auswirkung hat,
indem erst dadurch das Sozialversicherungsgericht aufgerufen werden konnte und ein Revisionsgrund kreiert war.
Sofern Sie Unterlagen benötigen, schicke ich Ihnen diese zur Begutachtung gerne zu.
Freundliche Grüsse
Ronald Sutter
SDBU
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrter Herr Sutter
Dankeschön für die Antwort.
Die relative Frist der Revision von 90 Tagen beginnt ab Entdeckung des Revisionsgrundes, die absolute Frist von 10 Jahren ab Eröffnung des Entscheides. Die relative 90-tägige Frist beginnt zu laufen, sobald die Partei sichere Kenntnis über die neue erhebliche Tatsache oder das entscheidende Beweismittel hat (Handbuch für die Anwaltspraxis, Recht der Sozialen Sicherheit, Flückiger, § 4 N 4.282). Ich würde es also nicht darauf ankommen lassen, und die 90-tägige Frist nicht ab Rechtskraft, sondern ab Zustellungsdatum beachten.
Bei Zustellung am 28.5.2018 läuft die 90-tägige Frist am 27. September 2018 ab - unter Berücksichtigung des Fristenstillstand vom 15. Juli bis 15. August.
Der am 28.5.2018 zugestellte Entscheid erwuchs m.E. am 27.06.2018 in Rechtskraft. Gemäss Ziffer 6 des Dispositivs beträgt die Beschwerdefrist ans Bundesgericht 30 Tag seit der Zustellung.
Im Rahmen der hier angebotenen Kurzberatungen können wir kein Aktenstudium anbieten und vertiefte Sachverhaltsbaklärungen durchführen. Unterlagen müssen Sie uns keine Zustellen.
Freundliche Grüsse
Karin Anderer
Sehr geehrte Frau Anderer
Gerne bedanke ich mich nochmals für Ihre hilfreichen Ausführungen und Erklärungen.
Ich werde Ihre Vorschläge umsetzen.
Freundliche Grüsse
Ronald Sutter
SDBU