Zum Inhalt oder zum Footer

Sozialhilferecht: Rückerstattung Arbeitsweg

Veröffentlicht:
24.08.2021
Kanton:
Luzern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Sehr geehrte Damen und Herren

Für Frau A. existiert seit 2006 (neues KESR 2013) eine Vertretungsbeistandschaft nach Art. 394 Abs. 1 ZGB i.V.m. Art. 395 Abs. 1 ZGB für die Bereiche Finanzen/Admin.

Frau A. bezieht seit 04.2013 WSH im Kanton LU. Sie geht mehreren Mini-Jobs nach, die sich ausserhalb der Zone 10 (welche im Kanton LU doppelt zählt und somit im GBL inkludiert ist) nach. Bei einer Kontrolle ist mir leider erst heute aufgefallen, dass das zuständige SoA seit 1.10.2014 noch nie die Zone 28 bei den verschiedenen AG im WSH-Budgetg angerechnet hat. Ich habe das zuständige SoA darauf angesprochen, und die Antwort ist wie folgt ausgefallen:

Es ist in der Tat so, dass Frau A. nie Verkehrsauslagen gezahlt wurden. Sie wäre in der Verantwortung, diese geltend zu machen. Da die WSH jedoch nach dem Gegenwartsprinzip arbeitet, kann ich lediglich für das laufende Jahr rückwirkende Verkehrsauslagen nachzahlen. Zudem sind die Tarife der vergangenen Jahre nicht mehr sichtbar.

Ein Passepartout 1 Zone kostet Fr. 79.- für 2 Zonen Fr. 116 = Differenz Fr. 37.-/Mt.

Januar –August 2021 = 8 Monate x Fr. 37.- = Fr. 333.-

Es stellen sich für mich folgende Fragen:

a) Ist die Haltung des SoA mit der aktuellen Rechtsprechung kongruent? Inwiefern müsste das SoA per 1.10.2014 rückwirkend die Differenz des Passepartout-Tarifs bezahlen? Welches wäre die entsprechende Gesetzesgrundlage hierfür?

b) Wenn sich die WSH auf dem Gegenwartsprinzip beruht, warum verrechnet das SoA dann dennoch rückwirkend per 01.2021?

Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass es sich hierbei um einen Schaden handelt, der durch einen Fehler in der Mandatsführung entstanden ist. Würde das Sozialamt nicht bezahlen müssen, so würde ich den Schaden bei unserer HR-Versicherung angeben.

Es entstanden für die Klientin keine Schulden bei Dritten durch die Nichtbezahlung der Differenz durch das Sozialamt. Jedoch habe ich ihr zu wenig Unterhalt ausbezahlt.

Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen.

Mit freundlichen Grüssen

Leonore Häfliger

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Häfliger

Gerne beantworte ich Ihre Frage. Es geht dabei um eine Nachforderung einer situationsbedingten Leistung (SIL), welche in C.6.3 der SKOS-Richtlinien geregelt ist. Die SKOS-Richtlinien sind für den Kanton Luzern wegleitend sind (§ 31/SHG LU), wobei abweichende Bestimmungen in Gesetz und Verordnung Vorrang haben. In der Frage der Verkehrsauslagen als SIL haben weder das SHG LU noch die SHV LU eigenständige Bestimmungen, so dass alleine C.6.3 SKOS-RL und die Grundsätze dazu in C.6.1 SKOS-RL zur Anwendung gelangen. Gestützt darauf hat der Sozialdienst den Anspruch anerkannt, jedoch ist er nicht bereit, die Verkehrsauslagen vor 2021 zu vergüten. Sie stellen sich nun die Frage, ob der Sozialdienst die Nachforderung für die Jahre 2014 (ab Oktober) bis und mit 2020 ablehnen darf.

Zum Thema Nachforderung von wirtschaftlicher Hilfe, die nicht ausgerichtet wurde, obschon Anspruch darauf bestanden hätte, gibt es keine Regelung. Weder das SHG LU, die SHV LU noch die SKOS-RL regeln diese Frage explizit. Bei kurzer Durchsicht der Rechtsprechung im Bereich Sozialhilfe bin ich auf ältere Urteile anderer Kantone (siehe Beilage) gestossen, die das Bedarfsdeckungsprinzip, wonach mit Sozialhilfe eine aktuelle Notlage behoben wird (SKOS-RL A.3 Abs. 4) und überwundene Notlagen keinen Anspruch auf wirtschaftliche Hilfe zu begründen vermögen, bei der Frage der Nachzahlung stark gewichten - es wird bei diesem Aspekt des Bedarfsdeckungsprinzips auch vom Gegenwärtigkeitsprinzip gesprochen. Beide Urteile lehnen eine Nachzahlung im konkreten Fall ab. Im Berner Verwaltungsgerichtsurteil 21117U vom 27. April 2001 (in der Beilage; Erw. 4.b) kam die unterstützte Person ihrer ihr bekannten Pflicht zur Meldung veränderter Verhältnisse nicht nach und im Bündner Verwaltungsgerichtsurteil U 01 132 vom 16. April 2002 unterliess die unterstützte Person, die fehlerhafte Verfügung anzufechten (Erw. 1), welche ihm zu Unrecht einen Teil des Selbstbehaltes übertrug.

In Ausnahmefällen soll aber eine Nachzahlung möglich sein, wenn z.B. ein Versäumnis der Behörde vorliegt, weswegen die unterstützte Person Schulden machen musste (vgl. das Berner Urteil Erw. 4). Dies muss nicht eine Anhäufung von Schulden bedeuten. So kann die betroffene Person ihren Bedarf beispielsweise von einer ihr nahestehenden Person à fonds perdu erhalten oder sich ihn in Verwendung ihres Schonvermögens verschaffen (Guido Wizent, Die sozialhilferechtliche Bedürftigkeit, Dike 2014, S. 263). Nach Wizent steht das Gegenwärtigkeitsprinzip rückwirkenden Leistungen nicht entgegen, wenn Versäumnisse der Behörde nachträglich festgestellt werden. Er nennt das Beispiel, wenn nachträglich festgestellt wird, dass wegen Versäumnissen der Behörde in der Vergangenheit zu Unrecht keine Integrationszulagen gewährt wurden (Guido Wizent, Sozialhilferecht, alphaius, Dike 2020, Rz. 430). Ein weiterer Ausnahmegrund vom Gegenwärtigkeitsprinzip bildet die Situation, wenn die Nachzahlung dazu beiträgt, einen aktuellen existenziellen Bedarf zu decken, z.B. die aktuelle Wohnung zu erhalten (vgl. das Berner Urteil Erw. 4; Wizent, Sozialhilferecht, Rz. 430). In diesem Fall kann die Nachzahlung auch den Zeitraum vor Unterstützungsbeginn betreffen. Besteht kein existenzieller Bedarf, besteht kein Anspruch auf rückwirkende Bedarfsdeckung vor Unterstützungsbeginn (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8C_75/2014 vom 16. Juli 2017 Erw. 4.2).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Bedarfsdeckungs- bzw. Gegenwärtigkeitsprinzip die Ausrichtung wirtschaftlicher Hilfe für die Vergangenheit grundsätzlich ausschliesst, sicher soweit es um Notlagen vor Unterstützungsbeginn handelt, welche sich aktuell nicht mehr existenziell auswirken. Handelt es sich um einen rückwirkenden Bedarf, der während der Unterstützung entstanden ist, können die kantonalen Gerichtsurteile dahin gehend verstanden werden, dass auch in diesem Fall eine rückwirkende Zahlung entfällt, dies insbesondere, wenn der unterstützten Person eine Mitwirkungsverletzung vorgeworfen oder sie die möglichen Rechtsmittel nicht ausgeschöpft hat.

Im vorliegenden Fall scheint mir die Sachlage nicht so klar zu sein, um eine rückwirkende Vergütung der Verkehrsauslagen als SIL zu verneinen. Zum Einen stellt sich die Frage, inwieweit die Behörde den Bedarf hätte von Amtes wegen feststellen können, da sie wahrscheinlich den Arbeitsort und damit den Arbeitsweg kannte. Zum Anderen stellt sich die Frage, inwieweit der Klientin ein Anteil zukommt. Ihr wäre aus meiner Sicht gut zu halten, dass der Grundbedarf zu einem gewissen Teil Verkehrsauslagen abdeckt und nur in Ausnahmefällen, ein Mehrbedarf von der Sozialhilfe übernommen wird. Es stellt sich die Frage, ob dies für sie gut erkennbar war, auch wenn sie bereits in dieser Zeit verbeiständet war.

Eine andere Überlegung wäre noch diese: Falls die Behörde generell die Praxis pflegt, aufgrund eigener Versäumnisse zuviel ausgerichtete wirtschaftliche zurückzufordern, erscheint es auch sachgerecht, während der Unterstützung zu wenig ausgerichtete Leistungen nachzuzahlen.

Zu guter Letzt scheinen auch keine formellen Hindernisse gegen eine rückwirkende Übernahme zu sprechen, da zu früheren Zeiten diese Thematik nicht Gegenstand einer Verfügung war. Nicht so klar ist es aber, wenn die Behörde die monatliche Unterstützung jeweils abgerechnet hatte. In diesem Fall müssten für ein Zurückkommen unter Umständen die Voraussetzungen der Wiedererwägung erfüllt sein.

Ebenfalls Thema könnte die Frage der Verjährung sein, welche für die Frage der Nachzahlung ebenfalls nicht geregelt ist. Selbst wenn nicht geregelt, bildet die Verjährung im öffentlichen Recht ein ungeschriebener Rechtsgrundsatz und bei fehlender Regelung können die Verjährungsregeln des OR zur Anwendung gelangen, dabei sind 5 Jahre oder 10 Jahre (Art. 127 und 128 OR) vorgesehen. Die Sozialhilfe gilt generell als periodische Leistung, so dass grundsätzlich 5 Jahre massgebend sein könnten für Leistungsansprüche, die die Unterstützungsperiode betreffen.

Anstelle der Regelung im OR könnte ich mir auch vorstellen, die Verjährung zur Rückerstattung, § 42 SHG LU, analog auf einen Nachzahlungsanspruch anzuwenden.

Letztlich könnte im vorliegenden Fall ein Rechtsmittelverfahren Klarheit verschaffen.

Ihre Frage a) hoffe ich mit den vorstehenden Ausführungen beantwortet zu haben. Die Frage b) kann ich Ihnen nicht beantworten. Denn das Gegenwärtigkeitsprinzip stellt auf den aktuellen, laufenden Bedarf ab, und zwar im Zeitpunkt der Gesuchstellung.

Freundliche Grüsse, Ruth Schnyder

Dokument anschauen