Herr X. hat sich bei der Gemeinde am 3.5.21 für den Bezug von wirtschaftlicher Sozialhilfe angemeldet. Er hält sich seit dem Jahr 2010 in der Schweiz auf. Er ist im Jahr 2019 nach Ungarn ausgereist zu seinen Pflegeeltern und aufgrund Corona konnte er erst im September 2020 wieder in die Schweiz zurückkehren. Er ist seit November 2020 in der Gemeinde gemeldet und hat bis seit seiner Rückkehr keinen Job gefunden. Vor seiner Ausreise nach Ungarn habe Herr X. gemäss seinen Angaben 7-8 Jahre als (Hilfs)Koch in der Schweiz gearbeitet. Ob er seine letzte Stelle freiwillig aufgegeben hat oder ob ihm gekündigt wurde, weiss ich leider nicht. Er ist aktuell krankgeschrieben. Herr X. hat per 18.5.21 für 11 Tage einen Vollzugsbefehl für eine Ersatzfreiheitsstrafe erhalten. Es liegt mir eine Bestätigung vom Amt für Migration vom 29.04.2021 vor, dass das Verlängerungsverfahren betreffend Ausländerausweis B (EU /EFTA) hängig sei und dass Herr X. während des laufenden Verlängerungsverfahrens den bisherigen Aufenthaltsstatus beibehält.
-Hat der Klient Anspruch auf ordentliche Sozialhilfe bis zum definitiven Entscheid vom Amt für Migration?
-Wie wird der GBL für den Monat Mai 2021 unter Berücksichtigung der 11-tätigen Ersatzfreiheitsstrafe berechnet?
Besten Dank für die prompte Rückmeldung.
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Bucher
Gerne beantworte ich Ihre Anfrage, welche einen EU/EFTA-Staatsangehörigen mit B-Bewilligung betrifft, der seinen Angaben zufolge von 2010 bis ca. 2018 in der Schweiz gearbeitet habe - von ca. 2019 bis August 2020 war er in Ungarn. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz meldete er sich im November bei seiner Gemeinde an und ist seither auf Jobsuche, aktuell ist er krankgeschrieben. Seit 18. Mai 2021 verbüsst er während 11 Tagen eine Ersatzfreiheitsstrafe. Das Migrationsamt bestätigt, dass das Verlängerungsverfahren hängig sei und während des Verfahrens der bisherige Aufenthaltsstatus nicht aufgehoben ist.
Ich treffe zwei Annahmen, falls diese nicht korrekt wären, lassen Sie es mich wissen:
- Die Gemeinde befindet sich im Kanton Luzern (abgeleitet von Ihrer Kantonsangabe).
- Der Klient hat Bewilligung B EU/EFTA als unselbständig Erwerbender
Seit 1. Juli 2018 gilt Art. 63a AIG. Dies Bestimmung stellt für die Sozialhilfe direkt anwendbare Regelungen auf. In Ihrem Fall handelt es sich um eine Person, die offenbar seit 2010 in der Schweiz lebt mit Ausnahme der ca. 1.5 Jahren in Ungarn. Vermutlich handelt es sich nun um die zweite Verlängerung der B-Bewilligung EU/EFTA (sie schreiben vom Verlängerungsverfahren). Insofern ist trotz der Umstände nicht klar, ob im vorliegenden Fall Art. 63a Abs. 4 AIG zur Anwendung gelangt, zumal der Klient bereits eine erstmalige automatische Verlängerung nach Art. 6 Abs. 1 AIG erhielt. Im Handbuch von Marc Spescha et al. steht dazu, dass Art. 63a Abs. 4 AIG bei Personen, deren 5-jähriges Aufenthaltsrecht bereits einmal verlängert wurde, nicht anwendbar sei (vgl. Spescha Marc, Bolzli Peter, de Weck Fanny, Priuli Valerio, Handbuch zum Migrationsrecht, 2020, S. 319). Ich tendiere dazu, dass Sie sich beim Migrationsamt informieren, inwieweit das Anwesenheitsrecht in Frage gestellt bzw. ob Gründe vorhanden sind, die für ein Verbleiben bzw. eine Verlängerung sprechen (insb. Art. 63a Abs. 3 AIG). Einstweilen wäre meiner Meinung nach ordentliche wirtschaftliche Hilfe zu leisten, längstens natürlich bis zur rechtskräftigen Nichtverlängerung. Falls klar keine Aussicht auf Verlängerung und insoweit nicht mehr von einer Arbeitnehmereigenschaft auszugehen wäre, wäre zu prüfen, ob bereits ab diesem Zeitpunkt Nothilfe anstelle der ordentlichen Sozialhilfe zulässig wäre. Ich habe diesbezüglich Zweifel, da dieser Umstand nicht explizit geregelt ist wie z.B. in Art. 61a Abs. 3 AIG und § 31 Abs. 2 Satz 2 SHG LU sowie § 7 Abs. 1 lit. b SHV LU. Allenfalls lohnt sich in dieser Frage das DISG einzubeziehen, vergleiche auch das Luzerner Handbuch A.5.1.2.
Ihre zweite Frage betrifft die Regelung des Grundbedarfs für den Monat Mai. Ich habe diesbezüglich keine Empfehlungen im Luzerner Handbuch gefunden, auch nicht im Kap. C.3.2.3.1, das den Grundbedarf im Strafvollzug regelt. Bei den Praxishilfen zu den SKOS-RL C.3.2 (Grundbedarf im Besonderen) findet sich ein Artikel aus der Zeso 2/12 zu (vorübergehenden) Spitalaufenthalten, der jedoch auch nicht auf den vorliegenden Kontext zutrifft, da bei Strafvollzug kein Beitrag geschuldet ist.
Rechtlich ist es meiner Meinung nach vertretbar, dass eine Reduktion des Grundbedarfs vorgenommen wird, da der Klient doch während 11 Tagen Einsparungen hat, mehr als 1/3 des Monats. Dies sollte angemessen sein und könnte allenfalls dadurch geschehen, indem ein Teil des Bedarfs nach dem ordentlichen GB-Ansatz bemessen wird und der andere Teil nach dem Ansatz bei Strafvollzug (siehe dazu o.e. Kap. C.3.2.3.1 des Luzerner Handbuchs) entsprechend der Dauer des Aufenthalts. Zu beachten wäre dabei, dass allfällige monatliche Fixkosten dennoch anfallen, z.B. Abos für Verkehr, Telefonie usw., auch während des Strafvollzugs, so dass hierfür gewisse Beträge zugestanden werden sollten.
Immerhin kann beim Strafvollzug in der Regel ein Arbeitsentgelt erwirtschaftet werden (vgl. dazu das Schnittstellenpapier Justizvollzug und Sozialhilfe). Ein solches wäre jedenfalls anzurechnen.
Ich hoffe, Ihnen damit Ihre Frage beantwortet zu haben.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder