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Sozialdienst betreibt Kindesschutzmassnahme mit unterzeichneter Vereinbarung ein

Veröffentlicht:
20.11.2021
Kanton:
Bern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich bin mir nicht ganz sicher in welchem Forum ich mein Anliegen anbringen soll, da es aus meiner Sicht verschiedene Rechtsgebiete betrifft. Sehen Sie es mir also nach, falls ich das falsche Forum erwischt habe.

Wir erhielten eine Anfrage (Herr A.) in der es um die Rückforderung von Kindesschutzmassnahmen geht.

Herr a. hat eine Vereinbarung unterzeichnet, in der er anerkennt vollumfänglich die Kosten für eine von der KESB angeordnete Kindesschutzmassnahme zurück zu erstatten. Die vereinbarten Raten hat er ausgestellt. Nun wird er vom Sozialdienst betrieben.

Nun stellt sich uns die Frage inwiefern der Sozialdienst diese Vereinbarung überhaupt vorlegen durfte, da aus unserer Sicht keine gesetztliche Grundlage dafür besteht.

Es waren gerichtlich Unterhaltsbeiträge festgelegt, die Herr A. auch bezahlt habt. Der Sozialdienst hat nur die Nebenkosten der Platzierung finanziert, die Platzierungskosten wurden/werden durch die KESB finanziert. Dann hätte die KESB den Sozialdienst beauftragen müssen die Elternbeiträge zu berechnen. Ob dieser Auftrag im Entscheid der KESB erteilt wurde, ist noch zu prüfen. Der Entscheid liegt uns derzeit nicht vor. Sollte das nicht der Fall sein, hat der Sozialdienst ohne Auftrag gehandelt. Sollte die KESB dem Sozialdienst den Auftrag erteilt haben, Elternbeiträge zu berechnen, hätte die KESB den Elternbeitrag noch in einem Entscheid festhalten müssen. Ob ein solcher vorliegt ist uns derzeit noch nicht bekannt. Grundsätzlich war der geschultete Beitrag von Herr A. im Rahmen der gerichtlich festgelegten Unterhaltsbeiträge abgegolten und es ist nicht üblich, zusätzlich Elternbeiträge festzulegen. Wenn der Sozialdienst den Unterhaltsbeitrag als zu gering empfunden hätte, hätte er via KESB oder Gericht tätig werden müssen und eine Anpassung verlangen.

Nun hat der Sozialdienst von Herrn A. ein Dokument ("Vereinbarung betreffend Beteiligung an den Massnahmekosten VATER", keine gesetzlichen Grundlagen oder Rechtsmittelbelehrung erwähnt) unterzeichnen lassen, in dem er anerkennen, diesen Betrag dem Sozialdienst zu schulden. Ist dies zulässig? Wir sind uns derzeit nicht sicher, ob Herr A. genügend aufgeklärt wurde. Herr A. wurde der Eindruck vermittelt er schulde dem Kanton die "restlichen" Kosten der Massnahme und hat deswegen diese Vereinbarung unterzeichnet.

Gibt es eine möglichkeit die Vereinbarung aufzulösen bzw. ist diese nichtig, wenn Herr A. sich nicht bewusst war, dass er nicht unterzeichnen muss?

Wir empfehlen Herr A. einen Rechtsvorschlag einzulegen. Wie sehen die Chancen im Betreibungsverfahren für Herr A. aus?

Besten Dank für Ihre Rückmeldung!

Freundlicher Gruss
 

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Tag

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Entschuldigen Sie vielmals die arbeitsbedingte Verzögerung meiner Antwort. Meine rechtliche Recherche zu Ihrer doch komplexen Anfrage nahm auch etwas Zeit in Anspruch.

Eine zentrale Rolle für die Sozialhilfe spielen Art. 37 und 38 SHG/BE. Nach Art. 38 SHG/BE trifft der Sozialdienst mit der pflichtigen Person nach Möglichkeit eine Vereinbarung über Art und Umfang der von ihr zu erbringenden Leistung, falls u.a. ein festgesetzter Betrag erhöht werden soll. Für den Fall, dass keine Vereinbarung zustande kommt, klagt der Sozialdienst den Anspruch beim zuständigen Gericht ein. Grundlage dieser Bestimmung bildet Art. 37 SHG/BE wonach der Sozialdienst verpflichtet ist, familienrechtliche Unterhalts- und Unterstützungsansprüche geltend zu machen, die auf das unterstützende Gemeinwesen übergehen.

Zunächst kann aus Art. 38 SHG/BE geschlossen werden, dass auch bei bereits festgesetzten Unterhaltsbeiträgen eine Vereinbarung über deren Erhöhung getroffen werden kann. Dies ist auch mit dem Zivilrecht stimmig, da auch dort die Anpassung des Unterhaltsbeitrags bei veränderten Verhältnissen oder die Festlegung eines besonderen Beitrags bei ausserordentlichen Bedürfnissen des Kindes möglich ist (vgl. Art. 286 ZGB).

Gleichzeitig bringt Art. 38 SHG/BE auch zum Ausdruck, dass es sich um einen zivilrechtlichen Anspruch handelt, der nur mit einer Klage ans (Zivil-)Gericht rechtsverbindlich festgelegt werden kann, wenn eine einvernehmliche Lösung nicht möglich ist. Daraus folgt, dass es sich bei der mit Ihrem Klienten getroffenen Vereinbarung um einen zivilrechtlichen Vertrag handeln muss. Wäre es ein verwaltungsrechtlicher Vertrag, dürfte der Sozialdienst nach gescheiterter Vereinbarung seine Forderung auf dem Weg der Verfügung rechtsverbindlich festlegen – was vom SHG/BE aber explizit nicht vorgesehen ist. Insoweit tendiere ich klarerweise zu einem zivilrechtlichen Vertrag, welcher Ihr Klient mit dem Sozialdienst abgeschlossen hat. 

Der Sozialdienst darf nur Verträge über familienrechtliche Unterhaltsansprüche abschliessen, soweit diese auf das unterstützende Gemeinwesen übergehen, so Art. 37 SHG/BE. An diesem Punkt stellt sich die Frage, wer mit dem «unterstützenden Gemeinwesen» gemeint sein kann: Die Sozialhilfe, oder auch die KESB? Da Art. 38 SHG/BE systematisch unter «3.3 Wirtschaftliche Hilfe» aufgeführt ist, bin ich der Meinung, dass mit dem «unterstützenden Gemeinwesen», jenes Gemeinwesen gemeint ist, das die betroffene Person mit wirtschaftlicher Hilfe unterstützt hat und in diesem Umfang nach Art. 289 Abs. 2 ZGB in die Unterhaltsansprüche eingetreten ist. Demnach ist der Sozialdienst, der die wirtschaftliche Hilfe vollzieht, berechtigt, Vereinbarungen im Sinne von Art. 38 SHG/BE zu treffen, jedoch nur im Umfang der erbrachten wirtschaftlichen Hilfe. Dieses Ergebnis entspricht auch Ihrer Auffassung.

Es stellt sich nun die Frage, ob der Sozialdienst auch für die von der KESB angeordneten und finanzierten Massnahmen eine Vereinbarung treffen durfte. Das hat er laut Ihren Angaben gemacht. Für diese Frage sind das KESG/BE und die KESV/BE massgebend. Zunächst gilt, dass die Kosten der Massnahmen gemäss Art. 40 KESG/BE (wozu auch Kindesschutzmassnahmen gehören), der betroffenen Person auferlegt werden, wenn nicht Dritte zahlungspflichtig sind oder besondere Umstände es rechtfertigen, von der Auferlegung der Kosten abzusehen. Als betroffene Person gelten bei Kindesschutzmassnahmen die Eltern bzw. die Inhaberin oder der Inhaber der elterlichen Sorge (Art. 41 Abs. 2 KESG/BE). Demnach sind die Kosten bei Kindesschutzmassnahmen den Eltern bzw. der Inhaberin oder der Inhaber der elterlichen Sorge aufzuerlegen, sofern keiner der genannten Ausnahmegründe vorliegen.

Nach Art. 41 Abs. 3 KESG/BE muss jedoch die KESB unterscheiden, ob die betroffene Person finanziell in der Lage ist, die Kosten des Massnahmenvollzugs zu finanzieren, oder ob das Gemeinwesen einspringen (vorfinanzieren) muss. Art. 41 Abs. 4 KESG/BE hält lediglich fest, dass der Kostenentscheid verfügt werden muss. Ich gehe mit Ihnen einig, dass der Kostenentscheid für beide Fälle von Art. 41 Abs. 3 KESG/BE verfügt werden muss, nämlich für den Fall, dass die betroffene Person sämtliche Kosten finanzieren kann als auch, wo das Gemeinwesen vorfinanzieren muss, weil die betroffene Person nicht (genug) leistungsfähig ist. Es stellt sich für mich die Frage, ob im Falle der Vorfinanzierung auch der Beitrag verfügt werden muss, welcher die betroffene Person zu zahlen hat. Das ergibt sich nicht eindeutig aus Art. 41 Abs. 4 KESG/BE. Insofern kann ich Ihnen nicht ohne weiteres beipflichten, dass im Fall der Vorfinanzierung auch konkret der finanziell zumutbare Beitrag der Eltern bzw. des Inhabers oder der Inhaberin der elterlichen Sorge verfügt werden muss. Inwieweit die fehlende Verfügung über den Kostenentscheid, den Anspruch der KESB in Frage zu stellen vermag, ist mir nicht so klar. Letztlich muss aber in einer Verfügung festgehalten sein, dass das Gemeinwesen für die in Frage stehenden Kosten aufgekommen ist.

Finanziert das Gemeinwesen vor – genannt werden der Kanton oder die für die Sozialhilfe zuständige Burgergemeinde -, hält Art. 42 Abs. 2 KESG/BE fest, dass allfällige Rechte der betroffenen Person gegenüber zahlungspflichtigen Dritten auf das vorläufig zahlungspflichtige Gemeinwesen übergehen. Welche zahlungspflichtigen Dritten gemeint sind, wenn es sich um die Eltern als betroffene Person handelt, ist für mich nicht klar. Das könnten allenfalls Kinderrenten der IV, der beruflichen Vorsorge, Ergänzungsleistungen (der Teil für das Kind) sein.

Auch hier gilt der oben erwähnte Art. 289 Abs. 2 ZGB, wonach der Unterhaltsanspruch mit allen Rechten auf das Gemeinwesen übergeht, wenn es für den Kindesunterhalt aufkommt. Wenn die KESB vorfinanziert, auch wenn in Art. 42 Abs. 1 KESG/BE nur der Kanton als Alternative zur Sozialhilfe erwähnt wird, kommt sie für den Unterhalt des Kindes auf, da auch Kindesschutzmassnahmen nach Art. 276 Abs. 2 ZGB zum Kindesunterhalt gehören. Insoweit tritt also die KESB in die Unterhaltsansprüche des Kindes ein.

Daraus folgt, dass die vorfinanzierende KESB das Recht zusteht, den Unterhaltsanspruch des Kindes gegenüber dem Vater geltend zu machen. Dies umfasst, wie oben erwähnt, auch das Recht bei veränderten Umständen einen höheren Unterhaltsbeitrag zu verlangen (Art. 286 ZGB). Damit die Sozialhilfe anstelle der KESB die Forderung geltend machen kann, gehe ich mit Ihnen einig, dass die KESB den Sozialdienst damit beauftragen muss im Sinne einer Delegation (so auch das BKSE-Handbuch Ziff. 3.2). Wie oben dargelegt, bin ich der Meinung, dass die Grundlage in Art. 38 SHG/BE nicht ausreichend ist. Ich sehe keinen Hinweis, dass eine Beauftragung gesetzlich ausgeschlossen ist, so dass ich diesen Vorgang als rechtlich zulässig erachte. Fehlt es an einem solchen Auftrag, fehlt dem Sozialdienst die Forderungszuständigkeit, um einen solchen Vertrag abzuschliessen.

Im BKSE-Handbuch Ziff. 3.2 wird darüber hinaus noch festgehalten, dass die KESB den Vertrag nach Unterzeichnung genehmigen muss. Sie erwähnen zu diesem Punkt nichts in Ihrer Anfrage. Fehlt diese Genehmigung, beschlägt dies womöglich die Gültigkeit des Vertrages. Es stellt sich dabei die Frage, ob die KESB die Genehmigung nicht aktuell nachholen könnte. Meiner Meinung dürfte dies zulässig sein, so dass der Mangel nachträglich behoben würde. Ohnehin stellt sich die Frage, woraus sich die Genehmigungspflicht ergibt. Dies könnte sich aus dem Auftrag der KESB an die Sozialhilfe ergeben, oder letztlich aus Art. 287 Abs. 1 ZGB.

Welchen Folgen hat das Gesagte nun?

Da der Vater den Vertrag unterschrieben hat, liegt dennoch ein Rechtstitel vor und, wie oben dargelegt, handelt es sich um einen zivilrechtlichen Vertrag. Der Sozialdienst könnte den Vater betreiben. Der Vater könnte dann Rechtsvorschlag erheben (Art. 79 SchKG). Der Sozialdienst kann sodann die Betreibung fortsetzen, indem er provisorische Rechtsöffnung (Art. 82 SchKG) verlangt. Der Vater hat dann die Möglichkeit, beim Rechtsöffnungsrichter Einwände einzubringen, wobei in diesem Verfahrensstadium keine vertiefte Überprüfung des Anspruchs stattfinden kann. Wenn die provisorische Rechtsöffnung erteilt wird, kann der Vater eine Aberkennungsklage beim für Zivilsachen zuständigen Gericht einreichen (Art. 83 Abs. 2 SchKG). Das Gericht wird nun die Forderung inhaltlich beurteilen. Dabei könnten sämtliche Einwände gegen die Vereinbarung vorgebracht werden, auch jene, die ich oben als unklar (Verfügung des Kostenentscheids) oder nicht stichhaltig (Erhöhung der Unterhaltsbeiträge) bezeichnet habe:

  • Fehlende Forderungszuständigkeit des Sozialdienstes in Bezug auf die Massnahmenkosten
  • Fehlende Verfügung über die vorgeleisteten Kosten bzw. unvollständiger Kostenentscheid der KESB
  • Fehlende Genehmigung der Vereinbarung durch die KESB
  • Irrtum über die Zahlungspflicht (Erhöhung der Unterhaltsbeiträge)
  • Irrtum über die Pflicht zum Vertragsschluss bzw. fehlende Aufklärung darüber, dass der Anspruch in einem Gerichtsverfahren beurteilt werden kann

Mit diesen Argumenten würde das gültige Zustandekommen der Vereinbarung bestritten werden, d.h. Mängel bei Vertragsabschluss (Art. 23 ff. OR) geltend gemacht werden. Ob die Klage erfolgreich sein wird, kann ich Ihnen nicht sagen. Darum empfehle ich Ihnen als Erstes folgendes Vorgehen:

Lassen Sie dem Sozialdienst und der KESB umgehend ein Schreiben zukommen, in welchem der Vater die Mängel geltend macht und die Gültigkeit des Vertrages aus den erwähnten Gründen bestreitet. Der Sozialdienst sollte sich sodann erklären und zu den bestrittenen Punkten Stellung nehmen, bestenfalls lenkt er ein. Führt das Protestschreiben nicht zum Ziel, könnte das gerichtliche Vorgehen im Rahmen des Betreibungsverfahrens eine Möglichkeit sein. Dafür sollte sich der Vater aber anwaltlich beraten und vertreten lassen.

Ich hoffe, Ihnen damit Ihre Anfrage beantwortet zu haben.

Freundliche Grüsse

Ruth Schnyder

Sehr geehrte Frau Schnyder

Vielen Herzlichen Dank für Ihre ausführliche Antwort. Nachdem ich mich nun mit den zusätzlichen Informationen auseinandergesetzt habe, halte ich für mich fest, dass die Vereinbarung ein zivilrechtlicher Vertrag ist und somit grundsätzlich gültig.

Mir stellt sich nun jedoch trotzdem die Frage, inwiefern es üblich ist, dass Massnahmekosten nachträglich zum bereits geleisteten Elternbeitrag rückerstattungspflichtig sind. Bin ich richtig in der Annahme, dass die übrigen Massnahmekosten (also ausserhalb des Elternbeitrages) nicht betrieben werden können, ausser es wird mit den Eltern eine solche Vereinbarung getroffen?

Herzlichen Dank für Ihre Antwort.

Freundlicher Gruss

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Abend

Entschuldigen Sie vielmals die späte Antwort. Ihre Anschlussfrage ging bei mir unter. Zum Glück dem System nicht, das mich heute daran erinnert hat. Sie sehen das richtig: Wenn ein Elternbeitrag berechnet ist und eine entsprechende Vereinbarung (oder Urteil) vorliegt, sich die finanziellen Verhältnisse nicht ändern, dann sehe ich keine Grundlage, weitere Massnahmenkosten von den Eltern oder einem Elternteil einzufordern – ausser das für die Elternbeitragsbemessung massgebende Recht (z.B. SKOS-RL) ändert sich in genereller Weise (dafür gibt es aktuell keine Hinweise).

Wenn aber sich die finanziellen Verhältnisse ändern, kann unter Umständen ein Jahr rückwirkend ein höherer Elternbeitrag eingefordert werden (Art. 279 ZGB). Dafür braucht es aber eine (Abänderungs-)Klage an das Gericht, welches zunächst über den Anspruch entscheidet. Werden höhere Beiträge in einem Urteil festgelegt, können diese anschliessend betrieben werden. Wenn die Eltern eine höhere Beitragspflicht freiwillig anerkennen, indem sie eine Vereinbarung unterschreiben, stellt dies ein Rechtstitel dar, gestützt darauf betrieben werden kann.

Ich hoffe, Ihnen damit Ihre ergänzende Frage beantwortet zu haben.

Ich wünsche ihnen eine schöne Festtagszeit.

Freundliche Grüsse, Ruth Schnyder