Guten Tag
Ich arbeite als Sozialarbeiterin im suchtmedizinschen Bereich. Mir wurde ein neuer Pat. in die Beratung überwiesen, der schon seit längerer Zeit bei der IV angemeldet ist und von einem Casemananger der Krankentaggeldversicherung begleitet wird. Es habe schon Gespräche mit der IV und dem Casemanager gegeben. Aufgrund des Kantonswechsels ist alles in Stocken geraten, die Zuständigkeit der SVA hat gewechselt. Der Pat. ist bei uns relativ neu in psychiatrisch - psychotherapeutischer Behandlung u.a. aufgrund seiner Suchterkrankung. Heute hatte ich einen Austausch mit dem zuständigen Behandler um die Situation auch betr. dem Casemanagement / Prozedere IV zu besprechen. Der Behandler teilte mir mit, dass der Pat. nicht möchte, dass seine Suchterkrankung gegenüber der IV und dem Casemanager publik wird.
Für mich stellt sich die Frage, ob das zulässig z.B. in einem IV - Bericht die Diagnose unter dem Tisch fallen zu lassen?
Grundsätzlich habe ich da eine andere Haltung.
Können Sie mir dazu eine Antwort geben?
Vielen Dank!
Frage beantwortet am
Kurt Pärli
Expert*in Datenschutz, Persönlichkeitsschutz und Haftung
Guten Tag
Gerne beantworte ich IHre Frage wie folgt (ich muss zuerst etwas ausholen und ein paar rechtliche Grundlagen darlegen, ganz am Schluss finden Sie auch noch eine konkrete Antwort auf Ihre Frage):
Ihr Klient ist bei der IV angemeldet. Einschlägig für die Frage der Schweigepflicht und des Datenschutzes ist vorab Art.6a IVG. Die Bestimmung lautet wie folgt:
1 In Abweichung von Artikel 28 Absatz 3 ATSG ermächtigt die versicherte Person mit der Geltendmachung des Leistungsanspruchs die in der Anmeldung erwähnten Personen und Stellen, den Organen der Invalidenversicherung alle Auskünfte zu erteilen und alle Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die für die Abklärung von Leistungs- und Regressansprüchen erforderlich sind. Diese Personen und Stellen sind zur Auskunft verpflichtet.
2 Die in der Anmeldung nicht namentlich erwähnten Arbeitgeber, Leistungserbringer nach den Artikeln 36–40 KVG, Versicherungen und Amtsstellen sind verpflichtet, den Organen der Invalidenversicherung auf Anfrage alle Auskünfte zu erteilen und alle Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die für die Abklärung von Leistungs- und Regressansprüchen erforderlich sind. Die versicherte Person ist über den Kontakt zu diesen Personen und Stellen in Kenntnis zu setzen.
Das bedeutet: Ihr Klient hat der IV bereits mit der Anmeldung eine Vollmacht über den Datenaustausch mit allen möglichen Stellen erteilt (alle die auf der Anmeldung aufgeführt sind). Es ist sicher davon auszugehen, dass der Case-Manager der Krankentaggeldversicherung aber auch Hausärtzin oder ggf. Psychiater zu den Personen zählen, die von ihrem Klienten bei der IV-Anmeldung angegeben werden mussten. Auch von den nicht in der Anmeldung angegebenen Institutionen/Personen darf die IV notwendige Auskünfte einholen und diese Stellen sind ebenfalls zur Auskunft verpflichtet.
Die Schweigepflicht wird weiter in Art. 68bis IVG thematisiert, insbesondere wird der Austausch von Informationen über die versicherte Person erleichtert. Von diesen Erleichterungen "profitieren" nach Art. 68bis Abs. 1 lit. f IVG auch "anderen öffentlichen und privaten Institutionen, die für die Eingliederung der Versicherten wichtig sind.".
Ich kenne Ihre Institution nicht (Rechtsform, in welchem Kanton usw.), allenfalls fällt diese jedoch utner die zuletzt genannte Bestimmung. Dies würde bedeuten, dass die IV von der Schweigepflicht gegenüber ihrer Institution befreit ist und ihre Institution wiederum Gegenrecht hätte. Zu beachten wäre aber hier zusätzlich die Rechtslage hinsichtlich Datenschutz/Schweigepflicht für Ihre Institution.
Zu prüfen ist weiter, unter welchen rechtlichen Rahmenbedingungen Ihr Klient in der suchtmedzinischen Institution aufgenommen wurde. Handelt es sich um einen freiwilligen Aufenthalt? Stationär? Ambulant? Auf welcher gesetzlicher bzw. vertraglicher Grundlage beruht der Aufenthalt bzw. die Beratung? Welches Recht ist hierfür anwendbar? Aus der Beantwoirtung dieser Fragen ergibt bzw. ergäbe sich die Möglichkeiten und Grenzen für Sie, ggf. auch ohne Einwilligung des Klienten mit der IV und dem Case-Manager (auch) über die Suchterkrankung zu sprechen. Auch ohne dass ich die genauen Angaben zu ihrer Institution habe, kann ich festhalten, dass eine Information durch Sie an die IV über die Suchterkrankung gegen den Willen des Patienten kaum zulässig ist.
Zentral ist die Frage, wieweit die Information über die Suchterkrankung gegenüber der IV und dem Case-Manager der Taggeldversicherung aus der Perspektive des Beratungsauftrages, den Sie im Rahmen ihrer Tätigkeit für die suchtmedizinische Institution wahrnehmen, aus fachlicher Sicht notwendig ist.Wenn Sie dieser Auffassung sind, müssen Sie in erster Linie versuchen, Ihren Klientin davon zu überzeugen. Auch ist in Erfahrung zu bringen, aus welchen Gründen ihr Klient nicht möchte, dass die Suchterkrankung gegenüber der IV transparent wird. Sie können in diesem Zusammenhang den Klienten auch darüber informieren, dass das Bundesgericht jüngst einen Kurswechsel vorgenommen hat und eine Suchterkrankung nicht mehr generell jeden Bezug von IV-Leistungen ausschliesst. Sie finden den Bundesgerichtsentscheid unter weitere Informationen am Schluss meiner Antwort.
Zusammengefasst: Wenn Sie aus fachlicher Sicht der Überzeugung sind, dass die Suchterkrankung in den Gesprächen mit Case-Management und IV thematisiert werden muss, müssen Sie dies dem Klienten gegenüber so vermitteln. Gegen den Willen des Klienten dürfen Sie die Information nicht preisgeben. Als "Überzeugungshilfe" dient ggf. der Hinweis auf die geänderte "Suchtpraxis" des Bundesgerichts.
Genügen Ihnen dies Auskünfte? Mit Dank für die Kenntnisnahme und freundlichen Grüssen - Kurt Pärli
Suchtrechtsprechung des Bundesgerichts, Analyse in einem Beitrag in der Schweiz. Ärztezeitung (open access).
Tribüne
Neue Rechtslage bei Suchterkrankungen
DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2019.18318
Veröffentlichung: 11.12.2019
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(50):1714-1716
Marco Weiss
Die Diagnose der Suchterkrankungen hat bisher grundsätzlich keinen sozialversicherungsrechtlichen Rentenanspruch begründen lassen. In seiner alten Rechtsprechung ging das Bundesgericht davon aus, dass Suchterkrankungen von der betroffenen Person «überwunden» werden können und daher in der Regel keine Sozialversicherungsleistungen geschuldet seien. Mit seiner aktuellen Rechtsprechung distanziert sich das höchste Gericht der Schweiz von dieser Sichtweise und verlangt, dass Suchterkrankungen einem strukturierten Beweisverfahren zu unterziehen seien.
Wenn eine Person unter einer Suchterkrankung (Alkohol, Medikamente etc.) leidet, konnte sie nach der bisherigen ständigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung keinen Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen geltend machen. Aufgrund einer «Überwindbarkeitsvermutung» ging das Bundesgericht über Jahrzehnte davon aus, dass der Gesundheitsschaden der betroffenen Person aufgrund einer Abhängigkeit selbst verursacht worden und diese im Rahmen ihrer Schadensminderungspflicht selbst dafür verantwortlich sei, von der Abhängigkeit loszukommen. Diese «Selbstüberwindung» erscheine möglich und zumutbar.
Aufgrund deutlicher Kritik aus der medizinischen Literatur hat das Bundesgericht diese Rechtsprechung einer Prüfung unterzogen und setzt bei Abhängigkeitserkrankungen – wie bei somatischen Schmerzstörungen und psychischen Gesundheitsleiden – neu auf ein strukturiertes Beweisverfahren.
Frühere Rechtslage
Nach bisheriger und langjähriger höchstrichterlicher Rechtsprechung führten Suchterkrankungen als solche nicht zu einer rentenbegründenden Invalidität. Sie sind sozialversicherungsrechtlich erst dann relevant geworden, wenn sie eine Krankheit oder einen Unfall bewirkt haben, in deren Folge ein körperlicher oder geistiger, die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender Gesundheitsschaden eingetreten war, oder wenn sie selber Folge eines körperlichen oder geistigen Gesundheitsschadens waren, dem Krankheitswert zugesprochen wurde. Ein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden fehlte demgegenüber, wo in der Begutachtung im Wesentlichen nur Befunde erhoben worden sind, welche in der Sucht ihre hinreichende Erklärung gefunden haben [1].
Diese genannte Rechtsprechung ging davon aus, dass die süchtige versicherte Person ihren Zustand selbst verschuldet habe. Bei pflichtgemässer Sorgfalt hätte sie die schädlichen Auswirkungen des Substanzkonsums – wenngleich möglicherweise nicht von Anfang an, so doch jedenfalls früh und klar genug – erkennen können und sie abwenden bzw. der Heilung zuführen müssen [2]. Mit anderen Worten ausgedrückt, ging man von der Fiktion einer willentlichen Vermeid- bzw. Überwindbarkeit der Sucht aus [3].
Rechtlich kam darin eine eigentliche Fiktion der willentlichen Vermeid- bzw. Überwindbarkeit der Sucht an sich, und folglich auch der Überwindbarkeit der dadurch verursachten Erwerbsunfähigkeit, zum Ausdruck [4].
Diese Rechtsprechung ist vor allem aus medizinischer Warte kritisiert worden: Ein Suchtmittelentzug sei nach medizinischem Kenntnisstand keineswegs in jedem Fall als zumutbar oder ergebnisorientiert als beste Lösung im Sinne der Schadensminderung anzusehen, und etwaige Funktionseinbussen, Therapiemöglichkeiten und -ergebnisse seien individuell in hohem Masse unterschiedlich [5]. Grundsätzlich sei auch bei Suchterkrankungen eine indikatorengestützte Abklärung im Einzelfall durchzuführen [6].
Aktuelle Rechtslage
In seiner neuen Rechtsprechung geht das Bundesgericht davon aus, dass die oben genannte «Überwindbarkeitsvermutung» bei Suchtkrankheiten nicht mehr getragen werden könne:
Die Medizin definiere das Abhängigkeitssyndrom als eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Gebrauch von psychotropen Substanzen entwickeln würden. Typischerweise bestehen ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, eine verminderte Kontrolle über ihren Konsum und ein anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch werde der Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickeln sich eine Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom [7]. Aus medizinischer Sicht handle es sich mithin klar um ein krankheitswertiges Geschehen, dessen funktionelle Auswirkungen sich mit einem hypothetischen Substanzentzug nicht ohne Weiteres zurückbilden. Im Übrigen seien auch die Zumutbarkeit und die Sinnhaftigkeit eines solchen Entzugs gerade bei langjährigen Verläufen nicht in jedem Fall zu bejahen [8]. Die Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms bedinge nach ICD-10 konkret das Bestehen von drei oder mehr der nachfolgenden Kriterien während mindestens einem Monat oder wiederholt innerhalb von zwölf Monaten (siehe Tabelle 1 [9]).
Tabelle 1: Kriterien nach ICD-10 [10].
1Starkes Verlangen (Craving) oder eine Art Zwang, die Substanz zu konsumieren.
2Verminderte Kontrolle über den Substanzgebrauch, d.h. über Beginn, Beendigungoder die Menge des Konsums, deutlich daran, dass oft mehr von der Substanz oder über einen längeren Zeitraum konsumiert wird als geplant, oder an dem anhaltenden Wunsch oder an erfolglosen Versuchen, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren.
3Ein körperliches Entzugssyndrom (siehe F1x.3 und F1x.4), wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird, mit den für die Substanz typischen Entzugssymptomen oder auch nachweisbar durch den Gebrauch derselben oder einer sehr ähnlichen Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden.
4Toleranzentwicklung gegenüber den Wirkungen der Substanz. Für eine Intoxikation oder um den gewünschten Effekt zu erreichen, müssen grössere Mengen der Substanz konsumiert werden, oder es treten bei fortgesetztem Konsum derselben Menge deutlich geringere Effekte auf.
5Einengung auf den Substanzgebrauch, deutlich an der Aufgabe oder Vernachlässigung anderer wichtiger Vergnügen oder Interessensbereiche wegen des Substanzgebrauchs; oder es wird viel Zeit darauf verwandt, die Substanz zu bekommen, zu konsumieren oder sich davon zu erholen.
6Anhaltender Substanzgebrauch trotz eindeutig schädlicher Folgen (siehe F1x.1), deutlich an dem fortgesetzten Gebrauch, obwohl der Betreffende sich über die Art und das Ausmass des Schadens bewusst ist oder bewusst sein könnte.
Im Wesentlichen deckungsgleich definiere der DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, fünfte Auflage) die «Substanzkonsumstörungen», wobei innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten wenigstens zwei der folgenden elf Diagnosekriterien vorliegen müssen (siehe Tabelle 2 [11]).
Tabelle 2: Kriterien nach DSM-5 [12].
1Konsum häufig in grösseren Mengen oder über einen längeren Zeitraum als beabsichtigt.
2Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu beenden oder zu kontrollieren.
3Hoher Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von ihren Wirkungen zu erholen.
4Intensives Verlangen oder Drang nach der Substanz (Craving).
5Wiederholter Substanzkonsum führt zu wiederholtem Versagen bei der Erfüllung von Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder im Haushalt.
6Fortgesetzter Substanzkonsum trotz andauernder oder wiederkehrender sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die durch die Wirkungen der Substanz verursacht oder verschärft werden.
7Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des Substanzkonsums aufgegeben oder eingeschränkt.
8Wiederholter Konsum in Situationen, in denen eine körperliche Gefährdung besteht.
9Fortgesetzter Konsum trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden körperlichen oder psychischen Problems, das wahrscheinlich durch die Substanz verursacht wurde oder verstärkt wird.
10Toleranzentwicklung, definiert durch eines der folgenden Kriterien: Verlangen nach ausgeprägter Dosissteigerung, um einen Intoxikationszustand oder einen erwünschten Effekt herbeizuführen; oder deutlich verminderte Wirkung bei fortgesetztem Konsum derselben Menge der Substanz.
11Bei Zurückgehen der Blut- oder Gewebekonzentration treten Entzugssymptome auf.
Aus den gesagten Ausführungen betreffend ICD-10 und DSM-5 resultiere, dass die willentliche Natur des fortgesetzten Substanzkonsums indes bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms gerade nicht in jedem Fall vorbehaltlos bejaht werden könne. Diagnosekriterium seien nämlich bei beiden insbesondere der anhaltende Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu beenden, zu verringern oder zu kontrollieren [13].
Als Konsequenz sei aus höchstrichterlicher Sicht künftig davon auszugehen, dass – fachärztlich einwandfrei diagnostizierten – Abhängigkeitssyndromen bzw. Substanzkonsumstörungen nicht zum Vornherein jede invalidenversicherungsrechtliche Relevanz abgesprochen werden könne [14]. Nachvollziehbar diagnostizierte Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen seien zukünftig grundsätzlich als invalidenversicherungsrechtlich beachtliche (psychische) Gesundheitsschäden in Betracht zu ziehen [15].
Zur Beurteilung eines sozialversicherungsrechtlichen IV-Anspruchs müsse künftig wie bei psychischen Erkrankungen und somatischen Schmerzstörungen ein strukturiertes Beweisverfahren durchgeführt werden [16]: Im Rahmen des strukturierten Beweisverfahrens könne und müsse insbesondere dem Schweregrad der Abhängigkeit im konkreten Einzelfall Rechnung getragen werden. Diesem komme nicht zuletzt deshalb Bedeutung zu, weil bei Abhängigkeitserkrankungen – wie auch bei anderen psychischen Störungen – oft eine Gemengelage aus krankheitswertiger Störung und psychosozialen sowie soziokulturellen Faktoren vorliege. Letztere seien selbstverständlich auch bei Abhängigkeitserkrankungen auszuklammern, wenn sie direkt negative funktionelle Folgen zeitigen würden [17].
Fazit
Die dargestellte Rechtsprechung verdeutlicht, dass das höchste Gericht der Schweiz vermehrt dazu übergeht, die Beurteilung von sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen bei komplexen Gesundheitsschädigungen einem strukturierten Beweisverfahren zu unterziehen: Dieses wird seit dem Jahr 2015 bei somatischen Schmerzstörungen, seit 2017 bei sämtlichen psychischen Erkrankungen und seit Juli 2019 auch bei Suchterkrankungen angewendet. Damit distanziert sich das Bundesgericht von der beschriebenen (diagnoserelevanten) Überwindbarkeitsvermutung und macht sozialversicherungsrechtliche Ansprüche von mehreren Faktoren, insbesondere der Einschränkung des funktionellen Schweregrades (Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde, Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder – resistenz) und der Konsistenz des Gesundheitsschadens, abhängig.
Diese neue Rechtsprechung für Suchterkrankungen ist zu begrüssen, weil sie – wie bereits oben beschrieben – auf medizinischen Erkenntnissen (ICD-10 und DSM-5) beruht und nicht allein auf einer rechtlich fixierten diagnoserelevanten Überwindbarkeitsfiktion. Im Zuge der neuen Rechtslage bei Suchterkrankungen hat das Bundesgericht diese in seiner Folgerechtsprechung auch konzise angewandt:
– im Falle eines Arztes, der aufgrund einer Alkoholkrankheit nicht mehr als Neurochirurg arbeiten konnte [18];
– bei der Beurteilung eines Abhängigkeitssyndroms (Alkohol) und weiterer psychischer Beschwerden (rezidivierende Depression und Persönlichkeitsstörung) eines Informatik-Beraters [19].
Das Wichtigste in Kürze
• Suchterkrankungen führten bisher nicht zu einer rentenbegründenden Invalidität, da die Rechtsprechung von einer willentlichen Vermeid- bzw. Überwindbarkeit der Sucht ausging.
• Suchterkrankungen sind sozialversicherungsrechtlich erst dann relevant geworden, wenn sie eine Krankheit oder einen Unfall bewirkt haben, in deren Folge ein körperlicher oder geistiger, die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender Gesundheitsschaden eingetreten war, oder wenn sie selber Folge eines körperlichen oder geistigen Gesundheitsschadens waren, dem Krankheitswert zugesprochen wurde.
• Aufgrund deutlicher Kritik aus der medizinischen Literatur hat das Bundesgericht diese Rechtsprechung einer Prüfung unterzogen und setzt bei Abhängigkeitserkrankungen – wie bei somatischen Schmerzstörungen und psychischen Gesundheitsleiden – neu auf ein strukturiertes Beweisverfahren.
L’essentiel en bref
• Jusqu’à maintenant, les troubles addictifs n’impliquaient pas une invalidité justifiant le versement d’une rente, car la jurisprudence partait du principe que la dépendance pouvait être évitée ou surmontée par la volonté.
• Les troubles addictifs peuvent désormais être couverts par les assurances sociales à condition d’avoir provoqué une maladie ou un accident qui entraîne une atteinte à la santé physique ou mentale, nuisant à la capacité de gain, ou de résulter eux-mêmes d’une atteinte à la santé physique ou mentale qui a valeur de maladie.
• A la lumière de la critique de la littérature médicale, le Tribunal fédéral a examiné cette jurisprudence et, pour les troubles addictifs (comme pour les douleurs somatoformes et les souffrances psychiques) il s’appuie désormais sur une procédure structurée d’administration des preuves.
Korrespondenzadresse
Dr. iur. Marco Weiss
marco.weiss[at]reetz-sohm.ch
Literatur
1 BGE 124 V 265 E. 1c; 99 V 28 E. 2; Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 4.1.
2 EVGE 1962 101 E. 3; Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 4.2.
3 Vgl. BGE 139 V 547 E. 5.1; Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 4.2.
4 Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 4.2.
5 Liebrenz M, et al. Das Suchtleiden bzw. die Abhängigkeitserkrankungen – Möglichkeiten der Begutachtung nach BGE 141 V 281 [=9C_492/2014]. SZS 2016. S. 12 ff., S. 22 und S. 30 ff.
6 Liebrenz M, et al. Das Suchtleiden bzw. die Abhängigkeitserkrankungen – Möglichkeiten der Begutachtung nach BGE 141 V 281 [=9C_492/2014]. SZS 2016. S. 28 f. und S. 32; Liebrenz M, Uttinger U, Ebner G. Sind Abhängigkeitserkrankungen aus höchstrichterlicher Sicht [weiterhin] nicht mit anderen psychischen Störungen [z.B. somatoformen Störungen] vergleichbar? Eine Urteilsbesprechung von BGE 8C_582/2015 im Lichte der theoretischen Anwendbarkeit des ergebnisoffenen, strukturierten Beweisverfahrens. SZS 2016. S. 96 ff. und S. 99 f.
7 Dilling H, Freyberger HJ. Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. 8. A. Bern: Hogrefe; 2016. S. 76 ff.; Daeppen JB. Die therapeutische Begleitung von Suchtpatienten. Schweiz Med Forum. 2016;16(18–19):423–6. S. 424; Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 5.2.1.
8 Liebrenz M, et al. Das Suchtleiden bzw. die Abhängigkeitserkrankungen – Möglichkeiten der Begutachtung nach BGE 141 V 281 [=9C_492/2014]. SZS 2016. S. 30 ff.; Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 5.2.1.
9 Dilling H, Freyberger HJ. Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. 8. A. Bern: Hogrefe; 2016. S. 77 f.; Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 5.2.1.
10 Dilling H, Freyberger HJ. Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. 8. A. Bern: Hogrefe; 2016. S. 77 f.; Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 5.2.1.
11 Falkai P, et al. [Ed.]. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. Deutsche Ausgabe. Bern: Hogrefe; 2015. S. 661 ff. und S. 663 f.; Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 5.2.2.
12 Falkai P, et al. [Ed.]. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. Deutsche Ausgabe. Bern: Hogrefe; 2015. S. 661 ff. und S. 663 f.; Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 5.2.2.
13 Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 5.3.2.
14 Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 5.3.3.
15 Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 6.
16 Zum Ganzen BGE 143 V 418; 143 V 409 und 141 V 281; Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 6.
17 Urteil des Bundesgerichts 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 E. 6.3.
18 Urteil des Bundesgerichts 8C_245/2019 vom 16. September 2019.
19 Urteil des Bundesgerichts 9C_334/2019 vom 6. September 2019.